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An Can Grande Scaliger

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Textdaten
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Autor: Dante Alighieri
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Titel: An Can Grande Scaliger
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aus: Die unbekannten Meister – Dantes Werke, S. 234–248
Herausgeber: Albert Ritter
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1922
Verlag: Gustav Grosser
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Albert Ritter (Karl Ludwig Kannegießer)
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: siehe auch

Vorbericht: Brief an Can Grande Scaliger

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[234]

An Can Grande Scaliger.


Dem herrlichen und siegreichen Herrn Herrn, dem großen Can della Scala, dem allgemeinen Stellvertreter der geheiligten und milden Kaisermacht in der Stadt Verona und in dem Staate Vicenza, wünscht sein treuergebenster Dante Alighieri – ein Florentiner von Geburt, nicht von Sitten – ein glückliches Leben durch lange Zeiten und immerwährendes Wachstum seines glorreichen Namens.


Eurer Herrlichkeit ruhmvolles Lob, welches der wachsame Ruf im Fluge aussäet, verteilt sich auf andere anders, so daß es die einen in Hoffnung seiner Seligkeit emporträgt, die andern in den Schrecken der Vernichtung hinabstürzt. Diesen Heroldsruf, die Taten jetzt lebender Menschen überragend, gleichsam über das Wesen der Wahrheit hinausgehend, hielt ich für übertrieben. Aber um nicht länger in Ungewißheit zu schweben, kam ich, wie die Königin von Morgenland nach Jerusalem, wie Pallas zum Helikon kam, nach Verona, um mit treuen Augen zu forschen. Eure überall vernommenen Großtaten sah ich nun, sah zugleich die Wohltaten und berührte sie mit Händen; und gleichwie ich früher die Reden für das Maß überschreitend hielt, so sah ich späterhin die Taten selbst das Maß überschreiten. So geschah es, daß das bloße Hören mit einer gewissen innern Unterwürfigkeit zuerst meine Neigung gewann, der Anblick aber sofort mich zum ergebensten Freunde machte.

Auch glaube ich nicht, wenn ich mich Euern Freund nenne, wie einige vielleicht es mir zum Vorwurf machen könnten, mir die Anklage der Vermessenheit zuzuziehen, da nicht minder Ungleiche als Gleiche durch das heilige Band der Freundschaft verknüpft werden und auch dergleichen Freundschaft Freude und Nutzen bereiten können. Nicht selten wird man finden, daß hochstehende Personen sich mit untergeordneten verbinden. Und wenn der Blick sich auf wahre Freundschaft, auf Freundschaft an sich, hinwendet, zeigt es sich nicht da, daß meistenteils äußerlich unbekannte, aber durch sittliche Eigenschaften ausgezeichnete Menschen von erlauchten [235] Personen und hohen Fürsten zu Freunden gewählt wurden? Und warum nicht? da auch die Freundschaft zwischen Gott und dem Menschen durch Überragen keineswegs gehindert wird. Und wenn jemand an dieser Behauptung Anstoß nehmen sollte, so vernehme er die Stimme des Heiligen Geistes, der einige Menschen seiner Freundschaft teilhaftig erklärt. Denn in dem Buch der Weisheit[1] heißt es von der Weisheit: „Sie ist den Menschen ein unendlicher Schatz, und die dessen gebrauchen, sind der Freundschaft Gottes teilhaftig geworden.“ Aber der unerfahrene Haufe urteilt ohne Besonnenheit, und wie er die Sonne für einen Fuß lang hält, so täuscht er sich in sittlicher Hinsicht und über dieses und jenes in eitler Leichtgläubigkeit. Uns, die wir unser Inneres für unsern besten Teil halten, ist Einsicht verliehen, und ziemt es nicht, den Spuren der Herden zu folgen; vielmehr sind wir gehalten, ihren Irrtümern entgegenzutreten. Denn mit Verstand und Vernunft lebend, und mit einer gewissen göttlichen Freiheit ausgestattet, werden sie durch keine Gewohnheiten gefesselt. Kein Wunder drum, wenn nicht sie durch die Gesetze, sondern die Gesetze durch sie geleitet werden. Es leuchtet also ein, was ich oben gesagt habe, daß meine Behauptung, Euch ganz ergeben und doch Euer Freund zu sein, keine Vermessenheit erhalte.

Indem ich nun Eurer Freundschaft, wie dem teuersten Schatze, den Vorzug gebe, verlangt es mich, ihn mit fleißigster Vorsicht und genauer Sorgfalt zu bewahren. Da nun in der Sittenlehre gezeigt wird, daß man die Freundschaft, nach welcher ich strebe, durch Ausgleichung sich sichere, so war es mein Wunsch, zur Vergeltung der erwiesenen Wohltaten einen Ausgleich zu finden; ich überblickte deswegen meine kleine Gaben oft und lange, sonderte und erwog das Gesonderte, nach etwas, das Euer würdig wäre, unter allem forschend. Da fand ich denn nichts paßlicher, Eurer Herrlichkeit anzubieten, als denjenigen erhabenen Gesang der Komödie, der mit dem Titel des Paradieses geschmückt ist, und mit dem gegenwärtigen Briefe, gleichwie mit einer besonderen Widmungsschrift, [236] überschreibe ich ihn an Euch, biete ihn Euch an, empfehle ihn Euch. Auch dies erlaubt mir mein glühender Eifer nicht mit Stillschweigen zu übergehen, daß ich mit diesem Geschenke mehr schenke, als einem Gebieter an Ehre und Ruhm dargebracht zu werden scheinen kann; vielmehr glaubte ich mit dessen Titel schon eine Prophezeiung von der Ruhmerweiterung des Namens für Aufmerksame hinlänglich ausgedrückt zu haben, hinsichtlich meiner Absicht.

Aber in Besorgnis über Eure Gunst, nach welcher ich dürste, mein Leben gering achtend, will ich von Anbeginn das mir vorgestreckte Ziel weitläufiger darstellen. Daher will ich, indem ich die Briefform beschließe, zur Einführung in das dargebotene Werk, zugunsten des Lesers, mich kurz fassen.

Es sagt nun der Philosoph im zweiten Buche der Metaphysik: „Wie ein Ding sich zum Sein verhält, so verhält es sich zur Wahrheit“; wovon der Grund ist, daß die Wahrheit des Dinges, welche in der Wahrheit besteht, gleichsam wie in einer Unterlage, eine vollkommene Ähnlichkeit des Dinges mit dem ist, was es ist. Von denjenigen Dingen aber, welche sind, sind einige so, daß sie ihr volles Sein in sich haben; andere sind so, daß sie ein Sein haben, das von einem andern Sein durch ein gewisses Verhältnis abhängig ist, zum Beispiel zu einer Zeit sein und sich nach etwas anderem richten, als da sind: Vater und Sohn, Herr und Diener, das Doppelte und die Hälfte, das Ganze und der Teil usw., insofern sie dergleichen sind. Weil nun ein jedes Sein von dergleichen Dingen von einem andern Sein abhängt, so folgt, daß ihre Wahrheit von einem andern Dinge abhängt. Wenn man die Hälfte nicht kennt, so läßt sich immer das Doppelte kennen usw.

Will man also eine Einleitung in einen Teil eines Werkes geben, so muß man eine Kenntnis von dem ganzen geben, dessen Teil es ist. Daher habe auch ich, indem ich über den obbenannten Teil der ganzen Komödie etwas geben will, [237] in Form einer Einleitung etwas über das ganze Werk vorauszuschicken erachtet, damit der Eintritt in den Teil leichter und geebneter sei. Sechs Punkte sind nun zu Anfang einer jeden Unterweisung zu betrachten: der Gegenstand, die wirkende Ursache, die Form, der Zweck, der Titel des Buches und die Art der Philosophie. Unter diesen sind drei, in welchen der Teil, den ich Euch zu widmen beschlossen habe, von Ganzen abweicht, nämlich Gegenstand, Form und Titel; in den andern aber weicht er nicht ab, wie es deutlich ist, wenn man hineinsieht: daher sind jene drei Punkte vor der Betrachtung des Ganzen abgesondert zu untersuchen, und das wird dann zur Einführung in den Teil genügen. Dann werden wir die andern drei Punkte untersuchen, nicht bloß hinsichtlich des Ganzen, sondern auch hinsichtlich des in Rede stehenden Teils.

Zum Erweis nun des zu Sagenden muß man wissen, daß der Sinn des Werkes nicht ein einfacher ist, vielmehr ein vielsinniger. Denn der erste Sinn ist der wörtliche, der zweite ist der mit den Worten bezeichnete. Der erste heißt der Wortsinn, der zweite aber der allegorische oder moralische.[2] Zum bessern Verständnis betrachte man die Verse: „Als Israel zog aus Ägyptenland,[3] das Haus Jakobs aus dem fremden Volk, da ward Judäa sein Heiligtum, Israel seine Herrschaft.“[4] Dem bloßen Wortsinne nach wird hier der Ausgang der Kinder Israels aus Ägypten zur Zeit des Moses bezeichnet, dem allegorischen Sinne nach unsere Erlösung durch Christus, dem moralischen Sinne nach die Umkehr der Seele von der Klage und dem Elend der Sünde zu dem Stande der Gnade, dem anagogischen Sinne nach der Ausgang der heiligen Seele aus der Knechtschaft dieses Verderbnisses zu der Freiheit der ewigen Glorie. Und obwohl diese mystischen Sinne verschieden bekannt werden, so kann man sie doch allesamt allegorisch nennen, insofern sie von dem Wortsinne oder historischen Sinne verschieden sind. Denn Allegorie kommt her von dem griechischen άλλοΐος, was auf lateinisch abweichend oder verschieden heißt.

[238] Hieraus ist offenbar, daß der Gegenstand ein doppelter sein muß, je nach dem einen oder andern Sinne. Und daher muß man den Gegenstand dieses Werkes teils seinem Wortsinn, teils aber auch seiner allegorischen Bedeutung nach betrachten. So ist denn der Gegenstand des ganzen Werkes, bloß wörtlich genommen, der Zustand der Seelen nach dem Tode ohne weiteres. Denn dieser stellt sich in dem ganzen Werke dar. Im allegorischen Sinne ist aber der Gegenstand der Mensch, je nachdem er vermöge seines freien Willens durch Verdienst oder Unverdienst der belohnenden oder strafenden Gerechtigkeit unterworfen ist.

Die Form ist aber eine doppelte: die Form der Abhandlung und die Form des Abhandelns. Die erstere ist dreifach nach dreifacher Einteilung. Durch die erste Einteilung zerfällt das ganze Werke in drei große Gesänge, durch die zweite jeder große Gesang in kleine Gesänge, durch die dritte jeder kleine Gesang in Verse. Die Form oder die Art des Abhandelns ist poetisch, erfindend, beschreibend, ausbiegend, übergehend und zugleich bestimmend, zerteilend, billigend, mißbilligend und beispielgebend.

Der Titel des Buches ist: „Es beginnt die Komödie des Dante Alighieri, des Florentiners von Geburt, nicht von Sitten.“ Hierbei muß man wissen, daß das Wort Komödie besteht aus χώμη, Dorf, und ώδή, Gesang, daher Komödie so viel ist wie Dorfgesang. Die Komödie aber ist eine Art poetischer Erzählung, die sich von allen andern unterscheidet. Von der Tragödie unterscheidet sie sich im Stoffe dadurch, daß die Tragödie anfangs bewundernswürdig und ruhig, am Ende oder zum Schlusse stinkend und erschrecklich ist, und sie hat ihren Namen von τράμος, Bock, und ώδή, also Bocksgesang, das heißt stinkend wie ein Bock, wie aus den Tragödien des Seneca zu ersehen ist. Die Komödie aber fängt mit etwas Rauhem an; doch der Stoff endigt glücklich, wie aus den Komödien des Terenz zu ersehen ist. Und daher pflegten einige Sprecher in ihren Grüßen statt des Grußes „einen tragischen [239] Anfang und einen komischen Schluß“ zu nehmen. Auf ähnliche Weise unterscheiden sich beide in der Art des Ausdruckes: bei der Tragödie ist er hoch und erhaben, bei der Komödie nachlässig und niedrig; sowie Horaz in seiner Dichtkunst,[5] wo er den Komikern erlaubt, bisweilen wie Tragöden zu sprechen, und umgekehrt:

„Oft auch hebet indes die Komödie höher die Stimme;
Und es vertobt ein Chremes mit vollerem Munde den Eifer.
Auch der Tragiker klagt manchmal in der Rede des Umgangs.“

Hieraus ist klar, daß das gegenwärtige Werk Komödie heißt. Denn wenn wir auf den Stoff sehen, ist er anfangs schrecklich und stinkend, nämlich die Hölle, am Ende glücklich, wünschenswert und hold, nämlich das Paradies. Wenn wir auf die Art des Ausdruckes sehen, so ist diese nachlässig und niedrig, nämlich allgemeine Sprache, in der sich auch die Weiber einander mitteilen. Hieraus ist klar, warum das Werk Komödie heißt. Es gibt auch andere Arten von poetischer Erzählung, nämlich das Hirtenlied, die Elegie, die Satire und das Weihgedicht, wie auch Horaz in seiner Poetik lehrt; aber hierüber ist nicht nötig zu sprechen.

Nun wird sich auch ergeben, wie der Gegenstand des gewidmeten Teiles zu bestimmen sei. Ist nämlich der Gegenstand des ganzen Werkes dem Wortsinne nach der Zustand der Seelen nach dem Tode, nicht beschränkt, sondern geradezu genommen, so ist offenbar in diesem Teile der Gegenstand dieser Zustand, aber beschränkt genommen, nämlich der seligen Seelen nach dem Tode. Und ist der Gegenstand des ganzen Werkes allegorisch genommen ein Mensch, je nachdem er vermöge seines freien Willens durch Verdienst oder Unverdienst der belohnenden oder strafenden Gerechtigkeit unterworfen ist, so beschränkt sich in diesem Teile offenbar der Gegenstand und ist der Mensch, wie er der belohnenden Gerechtigkeit unterworfen ist.

Und ebenso erklärt sich die Form des Teils aus der dem Ganzen zugeschriebenen Form. Denn wenn die Form der Abhandlung in dem ganzen Werk dreifach ist, so ist sie in [240] diesem Teile nur zwiefach, nämlich in kleine Gesänge und Verse. Die erste Einteilung findet nicht statt, weil diese die Teile betrifft.

Plan der Erdkugel nach Paul Pochhammer – Seite 240

Desgleichen erklärt sich der Titel des Buchs. Denn da der Titel des ganzen Buches ist: Es fängt die Komödie an usw., siehe oben; so ist der Titel dieses Teiles: Es fängt an der dritte große Gesang der Komödie des Dante, welcher Paradies heißt.

Nachdem die drei Punkte untersucht sind, in welchen der Teil vom Ganzen abweicht, haben wir die drei andern zu betrachten, in welchen dies nicht der Fall ist. Die bewegende Ursache nun des Ganzen und des Teils ist die angegebene und scheint sie in der Tat zu sein.

Der Zweck des Ganzen und des Teils könnte vielfach sein, nämlich ein naher und entfernter. Aber ohne in das Genaue einzugehen, läßt sich kurz sagen, der Zweck des Ganzen und des Teiles sei, die Lebendigen in diesem Leben aus dem Zustande des Elendes herauszuführen und zu dem des Glückes zu geleiten.

Die Art der Philosophie aber, welche hier im Ganzen und im Teile angewandt wird, ist die moralische oder ethische, weil das Ganze erfunden ist nicht zur Forschung, sondern zur Ausübung. Denn wenn auch hie und da auf forschende Weise zu Werke gegangen wird, so geschieht das nicht der Forschung, sondern der Ausübung wegen; weil, wie der Philosoph im zweiten Buch der Metaphysik sagt, auch die Praktiker bisweilen jetzt die Forschung anwenden.

Nachdem dies vorausgeschickt ist, darf man eine Probe von der wörtlichen Erklärung geben und aussprechen, daß die Worterklärung nichts anderes ist als die Darlegung der Form des Werks. Es teilt sich demnach dieser Teil oder dritte Hauptgesang, welcher Paradies heißt, vornehmlich in zwei Teile, nämlich in den Prolog und die Ausführung. Der zweite Teil fängt etwa in der Mitte des ersten Gesanges an mit den Worten:

Des Himmels Leuchte geht den Erdgefilden …

[241] Über den ersten Teil ist zu bemerken, daß, obwohl er im allgemeinen Exordium genannt werden könnte, er eigentlich gesprochen doch nur Prolog genannt werden kann, was der Philosoph im dritten Buch der Rhetorik anzudeuten scheint, wo er sagt, Proömium (Einleitung) sagt man von der Rede, Prolog vom Gedichte und Präludium (Vorspiel) von dem Tonstücke. Desgleichen ist vorläufig zu bemerken, daß jenes Vorwort, das im allgemeinen Exordium genannt werden kann, bei den Dichtern anders ist als bei den Rednern. Denn die Redner pflegen einen Vorgeschmack zu geben, um den Zuhörer anzuziehen. Aber die Dichter tun nicht nur dies, sondern lassen noch einen Anruf folgen. Und dies paßt für sie, da sie des Anrufes recht sehr bedürfen, insofern sie gegen die gewohnte menschliche Weise von den höheren Wesenheiten etwas, wie eine göttliche Gabe, zu entnehmen haben. Nun teilt sich der gegenwärtige Prolog in zwei Teile: in dem ersten wird vorausgeschickt, wovon geredet werden soll; in dem zweiten wird Apollo angerufen, und dieser zweite Teil beginnt mit den Worten:

O laß, Apoll! mein letztes Werk gedeihn!

Hinsichtlich des ersten Teils ist zu bemerken, daß zu einer guten Einleitung drei Stücke erfordert werden, wie Tullius in der neuen Rhetorik sagt, nämlich, daß man den Zuhörer geneigt, aufmerksam und lernbegierig mache, und dies besonders bei Gegenständen der Bewunderung, wie Tullius selbst sagt. Da nun der Stoff des gegenwärtigen Werkes bewundernswürdig ist, so werden diese drei Stücke auf das Bewundernswürdige bezogen in dem Anfang der Einleitung oder des Prologs. Denn der Dichter sagt, er werde Dinge sagen, die er im ersten Himmel sah, soviel er davon behalten konnte. Hierin liegen alle drei Stücke, nämlich in der Nützlichkeit der Dinge der Geneigtheit, in der Bewundernswürdigkeit die Aufmerksamkeit, in der Möglichkeit die Lernbegierde. Die Nützlichkeit wird angedeutet, wenn er sagt, daß er Dinge vortragen werde, welche das menschliche Verlangen vorzugsweise [242] reizen, nämlich die Freuden des Paradieses; die Bewunderungswürdigkeit, wenn er verspricht, so Hehres, so Erhabenes zu sagen, nämlich die Beschaffenheit des himmlischen Reiches; die Möglichkeit, wenn er sagt, daß er sagen werde, was er behalten konnte; denn wenn er selbst als Mensch es kann, so werden es auch andere können. Dies alles liegt in den Worten, daß er im ersten Himmel gewesen sei und daß er von dem himmlischen Reiche sagen wolle alles, was er in seinem Geiste wie in einer Schatzkammer aufbewahren konnte. Nachdem wir so den Wert und die Vollkommenheit des ersten Teils des Prologs betrachtet haben, wenden wir uns an die einzelnen Worte.

Da heißt es denn: „Die Hoheit dessen, welcher für und für (welcher Gott ist), rückstrahlt das All der Dinge“, aber „stärker dort und schwächer hier“. Daß sie aber allenthalben zurückstrahlt, das zeigt Vernunft und Offenbarung. Die Vernunft folgendermaßen: Alles, was ist, hat das Sein entweder von sich oder von einem andern. Aber das Sein von sich kommt bekanntlich nur einem zu, nämlich dem Ersten oder dem Urwesen, welches Gott ist. Da aus dem Besitz des Seins die Notwendigkeit an sich nicht hervorgeht und die Notwendigkeit an sich nur einem zukommt, nämlich dem Ersten oder dem Urwesen, welches die Ursache von allen Dingen ist, so haben alle Dinge, welche sind, außer ihm allein, ihr Sein von anderen. Wenn also das Äußerste im Weltall, oder was es auch sei, betrachtet wird, so ist deutlich, daß es das Sein von irgend etwas habe, und daß dasjenige, wovon es das Sein hat, das Sein von sich oder von irgend etwas hat. Wenn von sich, so ist es das Erste; wenn von irgend etwas, so hat auch dieses wieder das Sein von sich oder von irgend etwas. Wenn man nun so ins Unendliche fortschreitet in den bewirkenden Ursachen, wie in dem dritten Buche der Metaphysik dargetan wird, so wird man auf das Erste kommen, welches Gott ist. Und so hat, mittelbar oder unmittelbar, alles, was ist, das Sein von Ihm; weil von dem, was die zweite Ursache von der [243] ersten empfangen hat, der Einfluß auf das Verursachte dem empfangenden und zurückwerfenden Strahle zu vergleichen ist, weshalb die erste Ursache in höherem Sinne Ursache ist. Man sehe das Buch von den Ursachen, wo es heißt: „Jede erste allgemeine Ursache wirkt stärker auf das Verursachte als die zweite.“ Soviel vom Sein.

In betreff der Wesenheit aber schließe ich so: Jede Wesenheit, ausgenommen die erste, ist verursacht; sonst gäbe es mehrere, die an sich notwendig wären, was unmöglich ist. Verursacht wird etwas von Natur oder vom Verstande, auch das von der Natur Verursachte wird folglich vom Verstande verursacht, da die Natur ein Werk des Verstandes ist. Alles Verursachte ist also von irgendeinem Verstande mittelbar oder unmittelbar verursacht. Da nun die Tugend sich nach der Wesenheit richtet, deren Tugend sie ist, so wird sie, wenn die Wesenheit eine Wesenheit des Verstandes ist, ganz und allein von dieser verursacht. Wie wir also zur ersten Ursache des Seins gelangten, so ist es jetzt derselbe Fall mit der Wesenheit und Tugend. Hieraus ist deutlich, daß jede Wesenheit und Tugend aus der ersten hervorgeht, und die untern Wesenheiten gleichsam ausgestrahlte sind und die Strahlen der oberen wie Spiegel[6] weiter nach unten verbreiten. Dies scheint Dionysius offenbar zu bezeichnen, wenn er von der himmlischen Hierarchie spricht. Und deswegen heißt es in dem Buch von den Ursachen: „Jeder Verstand ist reich an Formen.“ So zeigt also die Vernunft deutlich, daß das göttliche Licht, das heißt die göttliche Liebe, Weisheit und Tugend allenthalben zurückstrahlt.

Auf ähnliche Weise belehrt uns die Offenbarung. Denn der Heilige Geist spricht durch Jeremias:[7] „Erfülle ich nicht Erde und Himmel?“ und im Psalm[8]: „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, so bist du da; stiege ich zur Hölle herab, so bist du auch da. Nähme ich Flügel usw.“ Und die Weisheit spricht:[9] „Der Geist des Herrn hat den Weltkreis [244] erfüllt.“ Und der Prediger im 42. Kapitel: „Das Werk des Herrn ist voll seines Ruhmes.“ Dies bezeugen auch die Schriften der Heiden, wie Lukan im neunten Buch:[10]

Jupiter ist, was immer du siehst, wohin du dich wendest.

Deshalb ist es wohl gesagt, daß der göttliche Strahl oder die göttliche Herrlichkeit das Weltall durchdringt und zurückstrahlt. Durchdringen geht auf die Wesenheit, zurückstrahlen auf das Sein. Der Beisatz „stärker“ und „schwächer“ hat aber offenbar Wahrheit, sintemal wir sehen, daß das eine in höherem, das andere in niederem Grade das Sein hat, was sich an dem Himmel und an den Grundstoffen zeigt; denn jener ist unzerstörbar, diese sind zerstörbar.

Nach Vorausschickung dieser Wahrheit folgt eine Umschreibung des Paradieses in den Worten: „Im Himmel, den (die Herrlichkeit Gottes oder) sein vollstes Licht belebet“. Hierbei ist zu bemerken, daß der oberste Himmel gemeint ist, der alles enthält und von nichts eingeschlossen wird, innerhalb dessen sich alle Körper bewegen, der in ewiger Ruhe verharrend erste, der von keiner körperlichen Wesenheit abhängt. Er heißt das Empyreum, das bedeutet der feurige oder glutlodernde Himmel, nicht wegen stofflichen Feuers, stofflicher Glut, sondern wegen geistigen Feuers, welches die heilige oder göttliche Liebe ist.

Daß er aber von dem göttlichen Lichte in höherem Grade erleuchtet wird, läßt sich doppelt beweisen: erstlich, weil er alles einschließt und von nichts eingeschlossen wird; zweitens wegen seiner ewigen Ruhe oder Friedens. Der erste Beweis ist folgender: Das Einschließende verhält sich zu dem Eingeschlossenen wie die Bildungskraft zu dem Bildungsfähigen, laut vierten Buches der Physik. Aber in der natürlichen Lage des ganzen Weltalls ist der erste Himmel der alles einschließende; er verhält sich also zu allem wie die Bildungskraft zu dem Bildungsfähigen, ich meine ein ursachliches Verhältnis. Und da jede ursachliche Kraft ein aus [245] der ersten Ursache ausgehender Strahl, das heißt aus Gott ist, so empfängt jener Himmel, insofern er eine Ursache in höherer Bedeutung ist, offenbar mehr vom göttlichen Lichte.

Der zweite Beweis ist folgender: Alles, was sich bewegt, bewegt sich vermöge etwas, das es nicht hat, und dies ist die Grenze seiner Bewegung, sowie der Himmel des Mondes sich bewegt vermöge eines seiner Teile, der nicht jene Stelle hat, wonach er sich bewegt, und weil jeder seiner Teile, nicht jeder Stelle teilhaft (was unmöglich ist), sich vermöge eines andern bewegt, so folgt, daß er sich stets bewegt und nie in Ruhe kommt, und dies ist der Trieb.[11] Und was ich vom Himmel des Mondes sage, gilt von allen Himmeln mit Ausnahme des ersten. Alles also, was bewegt wird, hat einen gewissen Mangel und hat nicht sein ganzes Sein zugleich. Jener Himmel nun, der von nichts bewegt wird, hat in sich und in jedem seiner Teile alle seine Kraft auf vollkommene Weise, weil er der Bewegung zu seiner Vollkommenheit nicht bedarf. Und weil alle Vollkommenheit ein Strahl des Ersten ist, das den höchsten Grad der Vollkommenheit besitzt, so ist deutlich, daß der erste Himmel mehr von dem ersten Lichte empfängt, welches Gott ist. Dieser Schluß scheint jedoch den vorigen aufzuheben, wenn wir bloß auf die Form des Schlusses sehen. Anders ist es, wenn wir auf den Stoff sehen, als einen ewigen, in welchem auch der Mangel ewig sein kann. Wenn nämlich Gott sich keine Bewegung gab, so gab er sich offenbar nicht eine Natur, der es an etwas mangelt. Hieraus sieht man, daß sich der Schluß auf den Stoff bezieht, wie wenn man sagte: Ein Mensch, sofern er Mensch ist, ist sichtbar; denn alles Veränderliche verhält sich auf ähnliche Weise hinsichtlich des Stoffes. Offenbar also sollen die Worte: „Im Himmel, den sein vollstes Licht belebet“, eine Umschreibung des Paradieses oder des empyreischen Himmels sein.

Hiermit übereinstimmend oder demgemäß sagt der Philosoph im ersten Buche von dem Himmel: „daß der Himmel einen um so edleren Stoff hat als diese niedern [246] Dinge, je weiter er von diesen, den irdischen entfernt ist“. Auch ließe sich hierauf noch beziehen, was der Apostel an die Epheser[12] von Christus schreibt: „der da aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllete“. Dies ist der Himmel der Wonnen des Herrn, von welchen Ezechiel gegen Luzifer spricht[13]: „Du Abdruck des Ebenbildes, voller Weisheit und vollkommen schön, warst in den Wonnen des Paradieses Gottes.“

Nachdem der Dichter gesagt hat, daß er im Paradiese gewesen sei, fährt er in seiner Umschreibung fort, „wo er Dinge sah, was, wer von jener Höh’ herniedersteigt, umsonst zu nennen strebet“, und zwar mit Angabe des Grundes, „weil unser Geist so tief hinein sich wagt“ in sein Verlangen selbst, d.h. in Gott, „sich so versenkt, daß sein Gedächtnis allen Dienst versagt“. Zum Verständnis dieser Worte ist zu bemerken, daß der menschliche Verstand in diesem Leben, wegen gleicher Natur und Verwandtschaft mit der für sich bestehenden Verstandeswesenheit, wenn er sich erhebt, sich so erhebt, daß er wegen Überschreitung des menschlichen Maßes das Gedächtnis nach der Rückkehr mangelt. Dies deutet auch der Apostel an, wenn er zu den Korinthern spricht[14]: „Ich kenne denselbigen Menschen (ob er in dem Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht, Gott weiß es), er ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche keine Mensch sagen kann.“ Siehe, weil der Aufschwung das menschliche Maß des Verstandes überschritten hatte, erinnerte er sich nicht an das, was außer ihm vorging. Dies bezeichnet uns auch Matthäus,[15] als die drei Jünger auf ihr Angesicht fielen und nachher nichts davon erzählten, als ob sie es vergessen hätten. Und Ezechiel[16] schreibt: „Ich sah und fiel auf mein Angesicht.“ Und wenn dies den Bedenklichen noch nicht genügt, so mögen sie den Ricardus de sancto Victore in dem Buche von der Beschaulichkeit lesen, lesen den Bernhard in dem Buche von der Betrachtung, lesen den Augustinus in dem Buche von der Vielheit der Seele, und sie werden nicht [247] länger bedenklich sein. Wenn sie aber glauben sollten, daß bei einer so gewaltigen Geisteserhebung die Sündhaftigkeit des Sprechers an seinem Verstummen schuld sei, so mögen sie den Daniel[17] lesen, und sie werden finden, daß selbst Nebukadnezar göttliche Gesichte hatte, die gegen die Sünder gerichtet waren, und sich nicht daran erinnern konnte. Denn „Er, der die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte“,[18] der offenbart bisweilen, um sie aus Barmherzigkeit zu bessern, bisweilen um sie strenge zu bestrafen, mehr oder weniger, nach seinem Gefallen, seine Herrlichkeit auch denen, die sich noch so gröblich versündigten.

Der Dichter sah also, wie er sagt, Dinge, „welche wieder zu erzählen nicht weiß, noch kann, wer zurückkehrt“. Man beachte die Ausdrücke „nicht weiß“ und „nicht kann“. Nicht weiß, weil er sie vergaß, nicht kann, weil, wenn er sich auch an den Inhalt erinnerte und ihn festhielte,[19] dennoch das Wort mangelt. Denn vieles sehen wird mit dem Verstande, wofür es der Stimme an Zeichen fehlt, was Plato hinlänglich andeutet in seinen Büchern über die Benutzung der Metaphern; denn vieles sah er mit dem Lichte des Verstandes, was er mit der Rede nicht eigentlich ausdrücken konnte.

Dann heißt es weiter: „Er werde das sagen, was er von dem heil’gen Reiche der Seele aufbewahrt“, und dies sei der „Inhalt seines Liedes“; was und welcherlei Art dies sei, wird sich in dem ausführenden Teile zeigen.

Wenn es dann heißt: „O laß, Apoll“ usw., so ist dies der Anruf. Und dieser Teil hat zwei Teile, in dem ersten bittet er ihn anrufend, in dem zweiten legt er dem Apollo die getane Bitte ans Herz, mit dem Versprechen einer Art von Belohnung, und dieser zweite Teil beginnt: „O Gott, erfülle“. Der erste Teil zerfällt in zwei Teile; in dem ersten bittet er um die göttliche Hilfe, in dem zweiten berührt er die Notwendigkeit seiner Bitte oder rechtfertigt sie und fängt an: „Bis hierher war zu siegendem Gelingen“ usw.

[248] Dies ist der Sinn des zweiten Teils des Prologs im allgemeinen; im besondern werde ich ihn aber jetzt nicht erklären. Denn es bedrängt mich die Not meines Hauswesens, so daß ich dies und anderes dem Gemeinwesen Nützliches unterlassen muß. Aber ich hoffe von Eurer Herrlichkeit anderweitig Gelegenheit, zu der nützlichen Erklärung schreiten zu können.

Über den ausführenden Teil, welcher der Einteilung nach auf den Prolog folgt, soll jetzt auch weder hinsichtlich der Einteilung noch des Inhalts etwas gesagt werden, außer, daß darin von Himmel zu Himmel aufgestiegen und von den in jedem Kreise befindlichen seligen Seelen gesprochen wird, und daß jene wahre Seligkeit in dem Gefühle des Urquells der Wahrheit besteht, wie aus Johannes erhellt, wenn er sagt:[20] „Das ist die wahre Seligkeit, daß sie dich als wahren Gott erkennen“ usw., und aus dem Boëthius im dritten Buch von dem Troste: „Dich erkennen ist Zweck.“ Um nun die Glorie der Seligkeit an jenen Seelen zu zeigen, werden diejenigen, welche die ganze Wahrheit gleichsam mit Augen sehen wollen, viele Untersuchungen wünschen, die ebenso nützlich als erfreulich sein werden. Und weil es nichts mehr zu untersuchen gibt, wenn man den Urquell oder das Erste, nämlich Gott, gefunden hat, da er das Alpha und das Omega, das heißt, der Anfang und das Ende ist, wie die Offenbarung Johannis[21] sagt, so schließt das Werk in Gott selbst, der gelobet sei von Ewigkeit zu Ewigkeit.


  1. 7, 14.
  2. Dante’s Gastmahl 2, 1.
  3. Fegefeuer 2, 46.
  4. Psalm 113, 1.
  5. B. 93 etc.
  6. Fegef. 4, 62.       Parad. 9, 61. u. 21, 18.
  7. 23, 24.
  8. 139, 7–9
  9. 1, 7.
  10. Pharsal. 9, 580
  11. Dante’s Gastmahl 2, 4.
  12. 4, 10.
  13. 28, 12.
  14. 2. Kor. 12, 3 u 4.
  15. 17, 6 u 7.
  16. 2, 1.
  17. 2, 3.
  18. Matth. 5, 45.
  19. Dante’s Gastmahl 3, 4.       Hölle 28, 4.
  20. Evang. Joh. 17,3.
  21. 1, 8; 21, 6; 22, 13.

Anmerkungen (Wikisource)

Die Anmerkung entstammen aus:

K. L. Kannegießer (Hrsg/Übers.)
Dante Alighieri’s prosaische Schriften mit Ausnahme der Vita Nova. Zweiter Theil, Seite 209 bis 226. Google (I. und II. Theil)
Leipzig; Brockhaus Verlag, 1845