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Albany, im Staate New-York

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XXXVII. Cintra, bei Lissabon, in Portugal Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band (1833) von Joseph Meyer
XXXVIII. Albany, im Staate New-York
XXXIX. Das Edinburger Schloss
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ALBANY IN NEW-YORK
Vereinigte Staaten.

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XXXVIII. Albany, im Staate New-York.




Und doch wird es besser mit den Menschen! Wohl möcht’ ich es manchmal, übermannt von der Unzufriedenheit mit der Gegenwart, vom Anblick der Masse des Elends und Jammers, die mich umgibt, betäubt und befangen, vom Grimm über die Siege des Bösen und das Triumpfgeschrei seiner Anhänger und Jünger aufgereizt, verläugnen; aber das Zeugniß der Thatsachen und der Vernunft, und die Stimmen der Gräber und der Monumente straft mich Lügen.

Allerdings gibt es Länder, die nicht mehr sind, was sie in gewissen Epochen waren; Aegypten, Persien, Klein-Asien, Griechenland, Rom, – ihre Ruinen rufen über die Gegenwart Wehe! wenn aber der Geist untersuchte, worin selbst damals die Weisheit und Glückseligkeit ihrer Einwohner bestand, so würde er finden, daß ihr Glanz [89] mehr Schimmer als Wirklichkeit, war. Er würde sehen, daß in den alten Staaten, selbst in jenen gepriesensten, ungeheure Laster, abscheuliche Mißbräuche hausten; daß das Volk mehr in einer herrschenden Kaste, als in einer wahren Gesammtheit bestand; daß die Regierungsgrundsätze barbarisch waren, daß die Völker mit gehässiger Eifersucht, ohne Achtung für Recht und Gerechtigkeit, einander gegenüber standen, wie Räuber und Mörder, ohne Sicherheitsgefühl und in unversöhnlichem Haß. Natur- und Menschenrechte waren unbekannte Begriffe. Fanatismus und grasser Aberglaube verderbten die rechtlose Politik vollends; ein Traum, eine Erscheinung, ein Orakel, eine Lüge eines elenden Betrügers im Priestergewande reichte hin, jeden Augenblick Kriege zu veranlassen, die die Menschheit erschütterten, Reiche und Völker verschlangen und das Glück vieler Millionen von Grund aus verderbten.

Noch sind zwar, leider! der Nationen viele von so großen Uebeln nicht befreit; selbst in unserem Welttheil gibt es noch Völker, an deren geistigen Regeneration der Denker verzweifelt: aber im Ganzen hat jener Uebel Wirkung sich doch sehr gemindert und die Erfahrung des Vergangenen ist nicht gänzlich verloren gewesen. Ein Chaos der Unwissenheit und Anarchie, Rückgang der Kenntnisse, Verlust der Erfahrung von Generation zu Generation, wie es im Mittelalter so viele Jahrhunderte bestanden, besteht nirgends mehr und ist, was erfreulicher ist, nicht mehr möglich. Seitdem die geheiligte Kunst, das Erlösungsgeschenk des allgütigen Weltgeistes, die Buchdruckerei, das Mittel darbietet, in einem Augenblick dieselbe Idee in allen Zungen Millionen Menschen mitzutheilen und sie so dauerhaft zu fixiren, daß die gesammte Macht aller Tyrannen und Lichtfeinde auf der Erde sie nicht vernichten kann; seitdem die Sprachen zweier großen, in der neuern Culturgeschichte der Menschheit oben an stehenden, politisch-freien Völker ein Gemeingut und Ideenaustauschmittel für fast alle Gebildete der Erde geworden sind, seitdem nähern sich von Tag zu Tag mehr und mehr die Geister, wird Uebereinstimmung im Denken und Handeln täglich entschiedener das Losungswort der Werkleute am herrlichen Bildungs-Bau der Menschheit und hat sich eine stets zunehmende Masse des Unterrichts, eine sich immer mehr ausdehnende Lichtatmosphäre von Kenntnissen gebildet, welche dem Geschlechte eine in alle Ewigkeit fortschreitende Veredlung verheißt.

Aber bedürfte es noch mehr, um alle Zweifel von dem gesicherten Fortschreiten der Menschheit auf der Bahn der Veredlung aus der Brust des Denkers zu verbannen, so genügt ein Blick auf die andere Hälfte der Erdkugel, auf Amerika.

„Dort stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern,
Und vergeblicher Streit,“

sagt Göthe[WS 1] so schön! Dort, wo, als Produkt der wahren Civilisation, die ewigen Gesetze der Natur die breiten, unverwüstlichen Grundlagen für den Weg bilden, auf dem die Menschheit dem Ziele der ewigen Vervollkommnung zustrebt, [90] wird fortschreitende Verbesserung nothwendige Wirkung jener Gesetze, denn eben so unaufhaltsam strebt der freie Mensch sich glücklich zu machen, als das Feuer empor zu steigen als der Stein zu sinken, als das Wasser sich zu ebnen sucht. Dort hat, seit länger als einem halben Jahrhundert, die Idee der Möglichkeit des allgemeinen Besserwerdens ein ganzes großes Volk durchdrungen, die rechten Mittel dazu hat es erforscht, geprüft, angewendet und bewährt gefunden. Durch die Auswanderung, die ihm die Blüthe der europäischen Menschheit zuführt, knüpft es die Zurückbleibenden jährlich mit tausend und aber tausend neuen Fäden an sich, und an diesen Fäden schlingen sich die transatlantischen Ideen herüber, und durchdringen unbemerkt der Massen Mark und Gebein. So beginnt und hat begonnen ein wechselseitiger Unterricht der Völker dieß- und jenseits des Ozeans, den keine Gewalt auf Erden mehr aufheben kann. Wenn nun als Folge dieses Unterrichts die Massen der Völker diesseits eingesehen haben, welches die Grundursachen des Glückes der Einzelnen und der öffentlichen Glückseligkeit sind; wenn sie ihre natürlichen Rechte, ihre natürlichen Pflichten in der Gesellschaft erkannt haben, werden sie sich dann nicht vor den Täuschungen der Habsucht, der Mutter der Ungerechtigkeit, vor Revolutionen und Anarchie verwahren lernen? werden sie dann nicht fühlen, daß sie mäßig und gerecht seyn müssen, weil der Vortheil und die Sicherheit eines Jeden darin besteht? werden sie dann nicht einsehen, daß es ein Rechnungsfehler der Rohheit und der Unwissenheit ist, auf Kosten Anderer gewaltthätig genießen zu wollen, weil Wiedervergeltung, Haß und Rache daraus entspringt und die Anarchie, nach ihr aber noch härterer Despotismus, die unzertrennlichen Begleiterinnen von Revolutionen sind, welche mit dem Zerbrechen der Wage der Gerechtigkeit beginnen? Und die Könige und Fürsten, werden diese, fühlend, daß sie so aufgeklärten Völkern gegenüber, ihre Macht ohne Gerechtigkeit und Wohlthätigkeit nicht erhalten können, dann ihre Regierungsgrundsätze nicht modifiziren, sie nicht den Wünschen des Volks und den wahren Zwecken des Staats ausschließlich anpassen? werden sie dann nicht an der Spitze der neuen Ideen ihren würdigsten Platz einnehmen? Wird aber dann nicht die wahre Aufklärung mit Riesenschritten über den Welttheil schreiten, und muß dann nicht von Volk zu Volk ein Gleichgewicht der gegenseitigen Kräfte entstehen, wodurch, eben so wie durch die öffentliche Moral, Alle in der Achtung gegenseitiger Rechte erhalten werden? Ist aber dann Krieg noch möglich? und ist dann das goldne Zeitalter, in dem das gesittete Menschengeschlecht eine Familie ausmacht, die, durch einerlei Geist nach einerlei Grundsätzen regiert, alle Glückseligkeit genießen wird, deren die menschliche Natur fähig ist, noch eine Chimäre? Soll’s aber in Ewigkeit Traum bleiben, so bleibt’s zunächst Traum für den europäischen Theil der Menschheit. Mindestens soll man es Dem nicht verdenken, der die verhaßten Wirkungen der äußersten Ungleichheit der Reichthümer und Stände berechnet, und an die Erschütterung[WS 2] und Explosionen denkt, welchen der Welttheil, in dieser Periode der Parteiungen, ausgesetzt ist, oder der erwägt, wie langsam jener vorerwähnte Bildungsprozeß der Massen nothwendig von statten geht, [91] sich und seine Hoffnungen hinüber rettet in das transatlantische Jenseits, wo Das, was diesseits im glücklichsten Fall seinen Kindern und Enkeln werden kann, er selbst jetzt schon zu finden gewiß ist. –

Albany, nach New-York die größte und schönste Stadt im gleichnamigen Staate der Nordamerikanischen Union, liegt, sich malerisch an einen Hügel hinauf rankend, bei’m großen Canale, jenem Wunderwerke der neuen Welt, der in einer Strecke von 500 englischen Meilen New-York mit dem Eriesee und dem Ohio und dadurch mit 10,000 Meilen schiffbaren Wasserstraßen, die bis in den äußersten Westen des Reichs sich verzweigen, in Verbindung setzt. Seine Entfernung von New-York beträgt 150 englische Meilen, welche man auf den täglich mit mehr als 1500 Reisenden hin- und hergehenden, mit Musikchören besetzten 12 Dampfbooten, trotz 12maligen Anhaltens an den zwischenliegenden Städten, in etwa 8 Stunden und für 2½–3 Dollars zurücklegt! Noch vor 35 Jahren war diese prachtvolle Stadt ein Blockhausdörfchen; 1815 zählte sie 8000, jetzt bereits 30,000 Einwohner. Sie ist der Mittelpunkt des Handels zwischen den Seestädten und den nördlichen Unionstheilen und der Sammelplatz der in diesen Ansiedelung suchenden Auswanderer. Ihr Verkehr beschäftigt an 1000 Fahrzeuge und der Umsatz wird auf mehr als 60 Millionen Dollars jährlich geschätzt. – Sie hat ein Theater, öffentliche Bibliothek, hohe Schule und 28 Kirchen und Bethäuser für fast eben soviel verschiedene Glaubensbekenntnisse; denn in diesem Reiche der Freiheit und des Ueberflusses herrscht auch die größte Mannichfaltigkeit im Gebiete der Religion. Einförmigkeit ist der Wahlspruch des Despotismus, einförmig ist der Winter, der arme Norden und das Grab: aber in mannichfaltigen Gestalten erscheint der schöne Frühling, der reiche Sommer, der fruchtbare Süden, das fröhliche Leben. Darum ehren wir freudig den freien Glauben der freien Menschen da drüben, der auf hundert Wegen sich einem Ziele nähert! Warum wolltest du auch den Bruder verdammen, der mit gefalteten Händen zu dem Gotte der ewigen Barmherzigkeit fleht, weil die deinigen sich über der Brust voll Andacht kreuzen? Der Indianer, der sich gegen Osten wendet, um in der aufgehenden Sonne die wohlthätige Wirksamkeit des ewigen Weltgeistes anzubeten, der Jude, der sich gegen Abend neigt, um den Vater der Schöpfung für das Geschenk des durchlebten Tages zu danken; der Christ, der in sternheller Nacht gerührt niedersinkt und zum funkelnden Firmament sein „Vater!“ stammelt: was suchen alle diese anders als das Auge des Ewigen in den Sternen, das Auge der Liebe, Güte und Barmherzigkeit gegen alle seine Geschöpfe? Und doch verfolgen sich im Meinen, Glauben und Hoffen oft so feindselig die Menschen. Wahrlich! ist das kein Wahnsinn, so gibt es überhaupt keinen auf der Erde. – –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Den Vereinigten Staaten. In: Goethes Werke (WA), Band 5,1. Weimar 1893, S. 137 Internet Archive
  2. Vorlage: Erschütterrung