Zum Inhalt springen

ADB:Ziemssen, Ludwig

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Ziemssen, Ludwig“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 45 (1900), S. 198–201, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ziemssen,_Ludwig&oldid=- (Version vom 20. Dezember 2024, 17:27 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Ziemssen, Theodor
Band 45 (1900), S. 198–201 (Quelle).
Ludwig Ziemssen bei Wikisource
Ludwig Ziemssen in der Wikipedia
Ludwig Ziemssen in Wikidata
GND-Nummer 116988991
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|45|198|201|Ziemssen, Ludwig|Ludwig Julius Fränkel|ADB:Ziemssen, Ludwig}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116988991}}    

Ziemssen: Ludwig Z., Erzähler und Publicist, wurde am 29. September 1823 als zweiter Sohn des Hofgerichts- und Geh. Justizraths Wilh. Karl Ludw. Z. (1786–1842) zu Greifswald geboren. „Die empfängliche Seele des heranwachsenden Knaben – bemerkt Hans Ziegler – fand reiche Nahrung des Gemüthes und die vielseitigste Anregung in dem innigen Familienleben des Elternhauses, durch das Vorbild eines bei treuester Berufserfüllung in der Pflege der Musik und Dichtkunst aufgehenden Vaters, einer feingebildeten genialen Mutter. Die Naturumgebung Greifswalds, die schönen großen Wälder, wie die Nähe der See befruchteten in nachhaltigster Weise die jugendliche Phantasie, nicht minder die zahlreichen baulichen Ueberreste einer größeren Vergangenheit der alten Hansestadt“. Auf dem dortigen Gymnasium vorgebildet, bezog er 1843 auch die Universität daselbst behufs philologisch-historischer Studien, „suchte und fand bei einem munteren Studentenleben einen anregenden Verkehr in den ersten Gesellschaftskreisen seiner Vaterstadt und versuchte sich gleichzeitig in dichterischen Schöpfungen“. Im Herbst 1846 ging er nach Berlin, um die Studien zu beendigen. Da der Vater 1842 ohne nennenswerthe Hinterlassenschaft gestorben war und Z. fünf Geschwister – ein jüngerer Bruder sowie nachheriger Schwager ist der berühmte Münchener Kliniker Geheimrath Professor Hugo v. Ziemssen – besaß, mußte er schon als Student an Erwerb denken: an einer höheren Mädchenschule Berlins bekam er für zwei Unterrichtsstunden 71/2 Silbergroschen! Ueber die Verdienstlosigkeit bis zur Anstellung, theils auch um die von Haus aus unfeste Gesundheit in Landluft zu kräftigen, half er sich etliche Jahre als Hauslehrer hinweg, bei einer Familie Gerlich, in Neu-Placht bei Prenzlau, dann auf Rittergut Bankau unweit Danzigs. 1848 machte er die stürmische Periode in Berlin mit, wobei er viele bedeutende Männer des Tages näher kennen lernte. Der Roman „Wahrheitszeugen“, für ein gut Stück seines [199] Entwicklungsganges der Spiegel, verwerthet diese Erinnerungen. Zu Ziemssen’s genialen Genossen jener Zeit gehören der jüngere Friedrich Spielhagen, der damals vom Jus zur philosophischen Facultät übertrat und, zwar nicht, wie man liest, als Schüler, ihm auch in Greifswald nahestand: Z. behandelte nach vielen Jahren an des Freundes Memoiren „Finder und Erfinder“ (1890) anknüpfend, „Fr. Spielhagen“ (1883) und danach „Spielhagen’s Selbstbiographie“; ferner Adolf Stahr, mit dem und dessen späterer Gattin Fanny Lewald er einen langjährigen regen Briefwechsel geführt hat, wie mit Emil Palleske, dem bekannten Dramaturgen und Recitator. Seine intime Bekanntschaft mit Emanuel Geibel und Julius (Levy-)Rodenberg, dem er ebenfalls nachher eine vertiefte Abhandlung angedeihen ließ, muß aus späterer Zeit herrühren, da sich beide damals nicht in der preußischen Residenz aufhielten. Seine reiche Belesenheit, die noch nach vielen Jahren die Redactionsgeschichte der Zeitung „Hesperus“, „Eros und Anteros“, in den vielen Citaten aus allen möglichen Litteraturen bekundet, dürfte sich damals vervollständigt haben.

Dieser Verkehr mag nicht nur sein Interesse für Archäologie und Kunst gefördert, sondern auch den officiellen Abschluß der Studien veranlaßt haben. 1850 legte er in Berlin die Staatsprüfung, wol auch die Doctorprüfung, ab und begann seine Lehrthätigkeit an derselben heimathlichen Anstalt, der er die humanistische Bildung verdankte, als Probecandidat. Im Frühlinge 1853 wurde er als ordentlicher Lehrer ans Gymnasium in Stargard versetzt: neunzehn Jahre blieb er dort und amtirte dann 1872–82 als Oberlehrer am Gymnasium in Neustettin. So hat er den größten Theil seines Lebens, damit auch seine besten und kräftigsten Jahre auf pommerscher Erde zugebracht, die ihm, seinem Denken und Dichten vertraut war, mannichfaltige Anregung bot, aber schließlich nicht genug Reiz und Halt. Die Amtsstellung erlegte ihm den Unterricht der Mittel- und Oberclassen in den alten Sprachen, Geschichte und Geographie auf. Voll befriedigte ihn das freilich keineswegs, noch weniger füllte es das Streben dieses thätigen Geistes aus. Er trieb ausgedehnte culturhistorische Studien, besonders bezüglich Pommerns, und begann, daran angelehnt, belletristisch zu schaffen: „Muß ma Kussalin“ (aus der Vergangenheit Coeslins), „Das Spiel zu Bahn“, „Väterliche Justiz“ u. A., mit dem Gesammttitel „Kulturhistorische Novellen“, stammen aus der Zeit des Stargarder Aufenthalts, wo er 1855 auch eine glückliche, mit zwei Kindern gesegnete Ehe schloß: die praktische Hausfrau, Rittergutsbesitzerstochter, ergänzte seinen öfters gefährlichen Idealismus aufs trefflichste. Daselbst hielt er außerdem öffentliche Vorträge über Kunstgeschichte und war eifriges Mitglied bei Bildungs- und Gesangsverein, überall hochangesehen, nur unter Collegen hie und da deswegen angefeindet. Dies spürte er weit stärker in den engen kleinbürgerlichen Verhältnissen und Anschauungen zu Neustettin, wo freierer Aufschwung und Hervortreten in die Oeffentlichkeit auf Krittelei und Verdammniß stieß. Er ließ dadurch weder seine Ideen noch seine Feder stören, zumal die kleine Summe des Gehalts, 340 Thaler bei der Heirath, selbst in jener anspruchslosen Zeit Sorgen von dem, anregenden Umgangs bedürftigen Manne nicht hätte fernhalten können.

Schon von Neustettin aus lieferte Z. Feuilletons für die große Berliner Mode- und Familienzeitschrift „Der Bazar“, und als er, durch den Tod des Schwiegervaters 1880 finanziell unabhängiger gestellt, 1882 in Pension trat und nach Berlin übersiedelte, wurde er erst Mitredacteur, darauf, nachdem er die Leitung der „Freien Stunden“, Feuilletonbeilage des liberalen Tageblatts „Die Tribüne“, bald aufgegeben hatte, Redacteur des genannten Journals. Diesem gehörte er bis wenige Jahre vor dem Tode (am 3. Januar 1895 in Friedenau b. Berlin, wo die „Villa Ziemssen“ ihm Ruhe zu unablässigem Schaffen [200] gewährte) an, und bis 1894 sind viele seiner Arbeiten zuerst darin gedruckt worden. Der stille, rastlose, immer freundliche und entgegenkommende Litterat erfreute sich in der Schriftstellerwelt großer Beliebtheit, im „Verein Berliner Presse“ und insbesondere im Vorstande (als Schatzmeister) der deutschen Schillerstiftung hat sich Z. bis zuletzt in collegialem und humanitärem Sinne für den Stand, dem er sich offen und begeistert zurechnete, energisch eingesetzt.

So kann ihm denn ein Bruder in Apoll und genauer Freund, Julius Lohmeyer, „bis zum letzten Athemzuge als einem der wenigen absolut Edlen im Schriftsteller- und Journalistenstande ein verehrendes Gedenken weihen“; denn er „hatte den edlen, vornehm denkenden Mann mit dem reinen selbstlosen Charakter, diese ächte feinfühlende Dichternatur stets sehr hochgehalten. Er war für den rauhen Kampf, den ihm das Leben oft zumuthete, zu fein organisirt und hat darum wohl oft und viel unter den Unbilden und Rücksichtslosigkeiten zu leiden gehabt. Mit einem Fleiße, der alle Jüngeren beschämte, mit einer Rastlosigkeit und einer inneren Wärme und Treue stand er allen seinen Arbeiten und Pflichten vor. Für jede ächte und für die unbedeutende liebevolle Arbeit hatte er eine freundliche Würdigung“. Ziemssen’s menschlicher und litterarischer Charakter decken sich und, wie seine dichterischen Schöpfungen in ganz bestimmten Studien, gutentheils mit einem localen Hintergrunde nach Autopsie, wurzeln, so darf Hans Ziegler eine liebevolle Analyse auslaufen lassen: „die Frage, wie konnte dieser, Schillerschen Idealmus und Schumannsche Romantik athmende Geist sich in unserer Zeit entwickeln, beantwortet sein Lebensgang“. Darum legen wir auf letzteren in dieser Biographie den Hauptaccent und meinen, jeder für und durch Ziemssen’s feine, vornehme Art – Ziegler gebraucht diese selben Ausdrücke wie Lohmeyer oben – gewonnene Leser kann seine eigenen Consequenzen ziehen. Es fällt nach allem nicht auf, daß er die neue Richtung, die die Wahrheit dem Ansichschönen vorzieht, nicht verstand und über die „Meister“werke des modernen Realismus in Malerei, Musik und Dichtung oft in Zorn gerieth: „Das ist auch einer von den Neusten, Er wird sich Schreckliches erdreusten“ citirte er mit Goethe. Der (mit sprechendem Porträt) versehene Nachruf der „Illustr. Zeitung“ Nr. 2690 (v. 19. Jan. 1895) äußert über ihn das historisch-kritisch richtige Votum: er gehörte zu jenen Idealisten und Romantikern in der Litteratur, deren sich stets gleichbleibendes harmonisches Naturell, deren feine vornehme Schreibweise [wiederum wie oben!], deren an den classischen Vorbildern gewonnene Formvollendung wir wohl bewundern, die wir aber in unserer realistischen Zeit, die starke Wirkungen und scharfe Gegensätze verlangt, naturgemäß immer seltener finden werden.

Auf erzählendem Gebiete schrieb Z. folgende Novellenbücher: „Vergangene Tage“ (1862/63, vgl. Blätt. f. lit. Unterh. 1863, S. 259; 1864, S. 735, ), „Fürst und Waidmann“ (1869), „Heimat und Fremde“ (1870), „Novellen“ (1872), „Novellenbuch für das deutsche Haus“ (4 Bde., 1875; Inhalt: Die Schülerin des Euklid, Die Emigranten, Der Weiberfeind, Wanderglück, Ein anonymer Brief), E. Geibel und P. Heyse den „Meistern deutscher Kunst“ gewidmet und Blätt. f. lit. Unterh. 1877 S. 461 anonym prägnant analysirt sowie im ganzen mit hohem Lobe censirt, „Leidvoll und freudvoll“ (1879; Eros und Anteros, Ein Kuß in effigie; 2. Aufl. 1886, von A. Friedmann Blätt. f. lit. Unterh. 1886 S. 699 f. ziemlich günstig besprochen), „Zum Tagesschluß. Neues Novellenbuch“ (3 Bde., 1884). „Im Sonnenschein“ (1886). Romane betiteln sich: „Umwege zum Glück“, 1870 in der „Deutschen Romanzeitung“ I. erschienen, als Buch o. J. (1883) als Nr. 38 der „Collection Spemann“ (mit verständnißvoller Einleitung von Hans Ziegler), und der genannte „Wahrheitszeugen“ [201] (1892); historische Erzählungen: „Hans Sachs“ (1889), „Johann Sebastian Bach“ (1889), „Schön Elslin“ (1890), „Franz von Sickingen“ (1890). Ziemssen’s Geschichtswerke und Biographien bringen uns nicht nur, wie seine culturhistorischen Novellen, die Vergangenheit mit ihren völlig abweichenden Verhältnissen in farbiger, lebendiger Darstellung nahe, sondern sie wissen auch, was seinen, häufig in Stimmungen, Gefühlsausbrüchen u. ä. sich erschöpfenden, recht handlungsarmen Erzählungen mangelt, „scharfumrissene, kernige Charaktergestalten und leidenschaftliche Seelenstürme“ (so der Anonymus der „Illust. Ztg.“, s. o.) greifbar vorzurücken. Dahin rechnen die warmherzige Biographie „Friedrich Deutscher Kaiser und König von Preußen“ (1888), die sauber gezeichneten Bilder aus der neueren Geschichte: „Vor 100 Jahren. Scenen aus der französischen Revolution“ (1891), „Die Zeit Napoleons“ (3 Bde., 1891–92), „Deutschland nach den Befreiungskriegen“ (3 Bde., 1893/94). Dazu kommen die kunstgeschichtlichen Monographien „Ernst Rietschel. Deutsches Künstlerleben“ (1892) und „H. Georg Wenzeslaus Knobelsdorff, der Baumeister Friedrichs des Großen“ (1893), die hier und da eignes Forschen und genug schöne Gesichtspunkte, hauptsächlich aber ehrliche Begeisterung verrathen und eigentlich als Jugendschriften gelten sollen. Die bereits angeführten Aufsätze über die Genossen Spielhagen und Rodenberg erschienen in der Monatsschrift „Nord und Süd“. Aus poetisch-litterarischem Gebiete ferner der Operntext „Die Teufelsgeige“ (1892) und „Das Leben Jesu in Liedern“ (1892). Ziemssen’s Prosa gebührt, namentlich im Essay, das Prädicat eines glänzenden Stils; dabei beherrschte er den launigen Plauderton, und ein Muster dafür gibt ein seiner Zeit (seit 1881) in viele Tausender deutscher Häuser, Familien und Buchläden geflogener kurzer Artikel ab, nämlich die in Nr. 19 der Wochenschrift „Die Gegenwart“ v. 1881 veröffentlichte Empfehlung der bekannten Unterhaltungsbibliothek „Collection Spemann“, die letzterer Verlag danach Jahre lang seinen Verzeichnissen vordrucken ließ. Das Gemüth spielt bei Z. immer die führende Rolle, und man bedauert oft, daß darob die geschickt erlesenen Keime positiver Handlung – die Fertigkeit ganz unabhängigen Fabulirens ist nicht seine Stärke – nicht recht gedeihen können.

Das Aeußere der Biographie gibt der kurze Nekrolog 4. Beilage z. Allg. Ztg. 1895, S. 6; vgl. von Berliner Zeitungen die unmittelbare Notiz „Berlin. Tagebl.“ Nr. 5 v. 4. Jan. 1895, 1. Beibl. Die wichtigsten Lebensumstände nebst einer (unvollständigen) Bibliographie bei Ad. Hinrichsen, Das litterar. Deutschland2 (1891), S. 1426, und Fr. Brümmer, Lex. d. dtsch. Dichter des 19. Jhs.4 IV, 414 f. Den oben ausgezogenen Nekrolog der „Illustr. Ztg.“ machten mir der Bruder Geheimrath v. Z. und der Neffe Dr. Hans Z. mit eingehenden biographischen Daten und einem, in unserer Charakteristik mit Erlaubniß benutzten Trostbriefe J. Lohmeyer’s an die Wittwe zugänglich. Die von Z. nicht anerkannten „Modernen“ in der Litteratur urtheilten über ihn parteiisch, sogar spöttisch, sahen aber richtig in ihm einen Typus der vorigen schöngeistigen Generation: deutliches Beispiel ist der Anonymus Magazin f. Litteratur 64. Jhrg., 1895, Nr. 2, Sp. 57. – Zur Familiengeschichte vgl. den Artikel über Ziemssen’s Vater im „Neuen Nekrolog der Deutschen“ XX, 701–706.