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ADB:Wolf, Johann Wilhelm

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Artikel „Wolf, Johann Wilhelm“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 765–777, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wolf,_Johann_Wilhelm&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:24 Uhr UTC)
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Band 43 (1898), S. 765–777 (Quelle).
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Wolf: Johann(es) Wilhelm W., Germanist, daneben katholisch-christlicher Schriftsteller und zwar dies anonym oder unter dem Pseudonym Johannes Laicus, wurde am 23. April 1817 zu Köln als Sohn eines einfachen, aber ziemlich wohlhabenden und angesehenen Gewerbsmanns Christian W. geboren, der zwar aus dem Jülichschen eingewandert, aber in der alten Reichs- und Bischofsstadt ganz eingelebt war. Deren mittelalterlich-volksthümliche und -kirchliche Nachklänge, dazu phantasievolle Anlagen mit einem Zuge zur Romantik [766] saßen tief im Gemüthe des Knaben, bei dem drum so gar nichts vom heiteren Temperamente des Rheinländers erwuchs. Höchstens der unwiderstehliche Hang, allenthalben Volkspoesien, ererbten Glauben und Brauch und dergl. aufzuwittern und zu fixiren, mag mit daraus entkeimt sein; doch wog hierbei die Sucht, nach religiöser Saat und Bedeutung darin zu stöbern, den Segen kirchlicher Einflüsse und letztere zu fördern, stets vor, und wie ein altes Lied des Gottesdienstes ihm ein willkommenerer Fund galt, als eins aus profanem Wanderermunde, so hat er unter den volksthümlich-verfasserlosen Litteraturgattungen die, ihm von Kindesbeinen vertraute Legende zu Ehren zu bringen, mit rastloser Liebe angesetzt. Ein gewisser mystischer Hauch überkam ihn später zeitweise sogar, und confessionelle Einseitigkeit, vermischt mit idealistischer Uebertreibung des Alleinseligmachungsdogmas, verleugnet seine Schriftstellerei in keinem Augenblicke, der nur die geringste Handhabe dazu darbot. Eine frühere Zeit hätte ihm den Ruhm eines vielseitigen Gelehrten römisch-katholischen Bodens geschenkt, und auch noch die Gegenwart würde ihn im geistlichen Berufe zu höherer Stufe erhoben haben; freilich war er formell kein Schildknappe der ecclesia militans und desgleichen als Forscher ein Mann des Friedens. Lebens- und Denkart seiner Eltern, der Verkehr ihres Hauses waren streng religiös gewesen, katholische Kirchlichkeit in der scharfen Ausprägung der drittletzten rheinländischen Generation hatte alle Verhältnisse seines ersten anderthalb Jahrzehnts durchdrungen, und verklärt, ein erzählfreudiger gebrechlicher alter Kaufherr – nicht Tagelöhner – Stamm, der einst bessere Tage und bewegtere Zeitumstände gesehen, als Mentor Wolf’s empfängliche Einbildung in zartem Alter beinahe stündlich mit religiösen Geschichtchen und Ceremonien genährt. Endlich hat W. vier Jahre, bis in die Gymnasialzeit hinein, bei einem jungen Kaplan zugebracht, dessen Familie der seinigen befreundet war. Auch etliche andere Begebenheiten, so der frühe Tod fast aller Geschwisterchen, dann die Umgebung mancherlei curioser Charaktere wirkten auf Wolf’s Wesen so oder so ein. Besonders aber regte sich in dem kaum flüggen Buben der Drang, Monumente kirchlicher Kleinkunst, nicht weniger solche volksmäßiger Epik und Lyrik zu besitzen, und er begründete nicht nur für erstere ein knabenhaftes Museum und eine Bibliothek, für die beide er Schulkameraden zu entflammen wußte, sondern legte auch schriftliche Sammlungen von Legenden, kurzen lehrreichen und launigen Localerzählungen, Volksliedern an, ohne als leicht begeisterungsfähiger Junge die Möglichkeit eines berufsartigen Betriebs dieses Geschäfts, wie es später seine Existenz ausfüllte, nur zu ahnen. Ein reizendes Büchlein, bisher biographisch nicht verwendet, ja nicht einmal als eigenes Erzeugniß Wolf’s aufgezählt, berichtet „Aus der Kindheit. Erinnerungen von Johannes Laicus“, die Bedingungen seiner Entwicklung und die Grundstimmungen seiner Seele, gleichsam eine socialpsychologische Idylle entwerfend. Es erschien 1852 (3. A. 1864) als „erstes Bändchen“ der von W. gegründeten „Katholischen Trösteinsamkeit“, bringt alle Daten für die Jugend außer manchem Volksschwank und heiligen Geschichtchen Räthsel und Sprüchwörter, welche W. aus dem Munde von Handwerksleuten, Freunden des Elternhauses, aufgezeichnet, und malt farbig das alte Köln kleinbürgerlicher Sphäre.

Die späteren Knaben- und die Jünglingsjahre Wolf’s deckt heute ein Schleier. Selbst greifbare Daten zu nennen, verschmäht seine Kindheit-Autobiographie – nur die zweite der von ihm besuchten drei Volksschulen, diejenige der Pfarre Mariä zum Capitol, gibt er näher an, über das Gymnasium (S. 162) nichts. So ist über Art und Ort seiner niedern und höheren wissenschaftlichen Erziehung nichts Bestimmtes zu ermitteln. Als er 1851 in der Vorrede seiner „Beiträge zur deutschen Mythologie“ das Programm seiner Bildungsansichten aufstellte, entrüstet er sich (S. XXV) wider die Vorherrschaft der classischen [767] Studien und deren Stützung seitens der Regierungen auf Gymnasium und Universität. Ob W. letztere überhaupt regelrecht besucht hat, und seit wann er den Doctortitel besaß (dieser steht zwar auf der 1848 erschienenen Broschüre über „Rodenstein und Schnellerts“, fehlt aber noch im Mitgliederverzeichnisse des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande in dessen Jahrbüchern Bd. XII. vom selben Jahre, S. 204), oder woher ihm der Widerwillen gegen „das heidnische Rom“ als heutigen Culturträgers und die damit verknüpfte „glaubens- und vaterlandslose Bureaukratie“ eingeimpft worden ist, die „ungestört allem Vaterländischen und damit natürlich auch allem Christlichen den Weg sauer machen“ dürfe, steht dahin, ebenso ob sich der junge Mensch in Bonn Studien halber die einigen Semester aufgehalten hat. Wir ahnen, daß der Widerstreit zwischen den aus den Jugendeindrücken resultirenden Gedanken und der aufgezwungenen Schablonenthätigkeit am kaufmännischen Pult in dem lebhaften Jünglinge eine Explosion hervorrief: gewaltsam streifte er die Fesseln ab, indem er floh, da er sich über die nahe belgische Grenze am leichtesten in Sicherheit bringen konnte, nach Brüssel. Es steckt hinter dem plötzlichen Wechsel etwas Geheimnißvolles: „jene unselige Verirrung“, deutet die Wittwe an. Die, von den Angehörigen nicht bekämpfte Absicht des Knaben, den Klerikerstand zu wählen, ist für immer verstummt, überhaupt war der durchgängige Zusammenhang all seiner Denk- und Lebensbeziehungen mit der Kirche gelockert und fand vorläufig in seinen Forschungen keinen Raum. Es kam jetzt eben derjenige Abschnitt, „wo ich des frommen Geistes, der uns einst umwehte und erfüllte, ganz vergessen hatte und in den irren Wüsten der Welt dem lieben Gott fern, umherfuhr“ (Aus der Kindheit, S. 21), und der nachher den Recensenten der „Maiglocken“ Wolf’s im „Katholik“ (1851. II, 90) berechtigte, den Verfasser, „wenn auch nicht unter die Convertiten, doch unter die Zahl der Wiedergefundenen, welche in einem neuen Lebensprincip einer neuen Kraft sich bewußt werden“, zu rechnen. Die Vorrede zu seiner ersten selbständigen schriftstellerischen Leistung, den „Niederländischen Sagen“, verhüllt ausdrücklich den Anlaß zu diesem Unternehmen, indem sie aus dem Lesen der Grimm’schen Sagen- und der Märchensammlung und der „Mythologie“ J. Grimm’s den Wunsch erstehen läßt, „einmal selbst zu den einst so sangreichen und jetzt so schweigsamen Niederlanden zu pilgern, um uns zu überzeugen, ob denn mit dem Sange und der Sage jedes Urwaldandenken so ganz dort untergegangen sei“: zu diesem Zwecke anfangs im Volke erfolglos umhergewandert, habe er sich dann in Brüssel festgesetzt, „um dort einstweilen die reiche Hulthemiana zu durchsuchen“. Daß W. die beiden erstgenannten köstlichen Bücher der Brüder Grimm, die ersten ihrer Art, bereits ordentlich kannte, ist anzunehmen; ihre Weise und Methode in sich ganz aufgesogen und gar erst dem grundlegenden Handbuche der „Deutschen Mythologie“ seine allermeiste Theilnahme geschenkt, so zwar, daß diese drei künftig in sachlicher Hinsicht seine Leitsterne wurden, hat er nicht, bevor die nationale Bewegung, in deren Mittelpunkte er mit einem Male drin stand, ihm eine Neugier wie die selbst beschriebene Ursache der niederländischen Sagensammlung nahelegte. So ist es also von vornherein ein Irrthum, wenn —d’s unmittelbar nach Wolf’s Tode veröffentlichter Nekrolog (s. u.) ihm als litterarisches Debut, sogar noch vor jener dunkeln Flucht, ein Buch mit Untersuchungen über Wuotan zuschreibt, das schon für J. Grimm’s „Deutsche Mythologie“ (1838) zum zugegebenen Quellenwerke geworden sei; gemeint ist die S. 769 u. citirte Arbeit.

Vielmehr sollte halb zufällig nunmehr sein Streben eine ganz bestimmte Richtung einschlagen, der er fürder bis in den Tod treu geblieben ist, ja das ganze Fühlen und Schaffen gewidmet hat. Es war um den Uebergang der Dreißiger zu den Vierzigern unseres Jahrhunderts. Die seit der 1830er Revolution, d. h. seit [768] dem Abfall vom Oranierregiment, des stammesbrüderlichen Rückhalts der Holländer beraubten Vläminge Belgiens fingen an, sich gegen die Bevormundung in Sprache, Sitte und Leben, wie sie ihre wallonischen Landsleute trotz ihrer Minderheit ausübten, entschieden zu wehren. Der innerpolitische Gegensatz bis aufs Messer, der heute seit Decennien das unglückliche Land in der Fehde des Klerikalismus mit seinen Widersachern zerreißt, bestand noch nicht; sondern nachdem das angebliche Joch des Nordens abgeschüttelt und die katholische Lehre die ausschließliche geworden war, entzweite die Bürger des jungen Staates der Aufruhr der Germanen gegen den Druck der romanischen höher gebildeten „Fransquillons“ des Ostens und Südens, wie sie gegenwärtig, aller traurigen Parteizerklüftung und ökonomischen Verworrenheit ungeachtet, von neuem heftig losgebrochen und, anders als damals, von Altdeutschland aus eifrig unterstützt ist. Mitten in diese Strömung hinein setzte W. seinen Fuß und griff thatkräftig in das Erwachen germanischen Bewußtseins und besonders des „Gefühls einer innigen Verbindung mit den östlichen Stammverwandten“ ein. Er hielt sich aber, wol in richtiger Erkenntniß, persönlich unbetheiligt zu sein, der unmittelbaren Agitation fern, durch die er, zumal kein Held des Streitworts, auch kaum Gutes hätte stiften können. Die germanischen Wurzeln des vlämisch-niederländischen Volksgeistes in dessen überlieferten Zeugnissen im Dichten und Glauben wollte er klarlegen, und zog zu diesem Behufe nicht bloß das ganze holländische Sprachgebiet, sondern sogar germanische Absprengsel, oder, wie er sagte, Reste, auf wallonischem Boden heran. Ihm hieß das alles deutsch; denn bei diesem Sammeln beseelte ihn ein ähnliches Feuer, wie es heutzutage die Apostel des „Alldeutschen Verbandes“ durchzuckt, wenn sie die Vlämen für uns reclamiren. Trotzdem scheint er bei den Behörden, die damals noch völlig im französischen Banne lagen, nicht angestoßen zu haben; er klagt zwar wiederholt nicht nur über den Mangel litterarischer Hülfsmittel, sondern anfangs auch über die Hindernisse, die königliche Bibliothek zu Brüssel zu benützen, aber seine 1843 hervortretende publicistische Centrale „Wodana“ genoß von Anfang an die Unterstützung des belgischen Ministeriums des Innern.

Ungeschult, und da er noch nicht genug neue Materialien erworben hatte, machte sich W. nicht sogleich an selbständige Studien, sondern bemühte sich vorerst eben Stoff zusammenzutragen, um die genannten Grimm’schen Musterarbeiten zu ergänzen und fortzuführen. Daneben jedoch lief ein ernstes Eindringen in Jakob Grimm’s Unterbau des deutsch-mythologischen Wissens her, einmal durch ständige Rücksichtnahme darauf beim Einsammeln des neu aufgespeicherten Materials, dann aber auch, indem er systematisch des Meisters Compendium durcharbeitete: seit 1841 zog er es sorgfältig aus, ordnete diese Listen nach Rubriken und Gegenständen und vervollständigte sie durch beliebige Zusätze aus anderweitiger Lectüre. Ferner studirte er jetzt für dieses Ziel eigens die ältere Sprache und Litteratur, schaute aber hauptsächlich in dem reichen niederländischen Schriftthum, namentlich dessen Chronikenfülle, sowie in Straße, Trift und Gemeinde nach fortlebenden Zeugnissen alter Volksart, die Wort oder Schrift festgehalten, rastlos um. In letzterer Richtung schürfte er ohne Unterlaß in der umfänglichen Urkundenmasse des Brüsseler Archivs nach sagenhaften Ueberlieferungen und mythisch klingenden Orts- und Personennamen. Im September 1841 lernte ihn hier Leopold Ranke, schon seit etlichen Jahren berühmter Inhaber eines geschichtlichen Lehrstuhls der Berliner Universität, kennen und schätzen, doch ohne daß es ihm gelang, W. durch glänzende Zukunftszusage in das historische Fach engeren Schlags hinüberzuziehen. Doch eignete ihm W. mit Worten warmer Verehrung seinen specialistischen Erstling zu, den 1843 bei Brockhaus in Leipzig erscheinenden starken Band „Niederländische Sagen. Gesammelt [769] und mit Anmerkungen begleitet herausgegeben“. Er war das Ergebniß dreijährigen Suchens und Notirens, verfolgte, von der Mitte der 585 Nummern an immer mehr aus mündlicher Quelle schöpfend und in „Anmerkungen“ über Ursprung, Verwandtschaft, unterliegenden Anschauungen verschiedenes Neue gewährend, nicht sclavisch die Bahn der Grimm’schen „Deutschen Sagen“. Und 1845 schlossen sich dementsprechend „Deutsche Märchen und Sagen. Gesammelt und mit Anmerkungen herausgegeben“ an, J. F. Willems, dem mannhaftesten Vorkämpfer mit der Feder im Vlamenthum, geweiht: „ich beschränkte mich nicht auf Deutschland, sondern nahm auch die Niederlande hinzu, und da lieferte vor allem Belgien, welches ich fortwährend bewohnte, wieder reiche Ausbeute“ (S. VII), jedoch auch der Norden, wie denn S. IX–XI eine Lanze für die, bei den Grimms etwas vernachlässigten Friesen bricht. Das aus „Cöln, am Ostermontage 1845“ datirte Vorwort entschuldigt die Lückenhaftigkeit der Glossen mit der Abwesenheit von seinen Hülfsmitteln, seltsame Entschuldigung im Vergleiche mit der obigen, die gerade aufs umgekehrte hinauslief. Dagegen steht unter der Vorrede des 1843er Bandes, „Gent am 15. October 1842“, nach welcher Hochburg der aufflackernden vlamländischen Nationalität er übergesiedelt war. An der dasigen Universität hat er dann vlämische Vorlesungen gehalten, wie auch in Brüssel und Löwen. So kam er denn mehr und mehr in das Getriebe der nationalen Bewegung hinein. Doorenbusch und Dyckstra übersetzten Wolf’s „Niederländische Sagen“ ins Holländische, allerlei einschlägige wissenschaftliche Gesellschaften ernannten ihn zum Mitgliede: die Koninglyke Maetschappy van Letteren en Schoone Kunsten zu Gent, die Vlaemsche Letterkundige Maatschappy ebenda, zu Antwerpen, Brügge, Brüssel, Löwen, die Société d’émulation pour l’histoire et les antiquités de la Flandre occidentale in Brügge u. a. Rasch ward Wolf’s litterarische Thätigkeit zum Centrum des geistigen Emporringens des unverzagten Volksstammes, und so scharten sich alle dessen geistige und federführende Spitzen um die periodischen Unternehmungen, die der junge Enthusiast kühn ins Leben rief: das belletristische Journal „Groot moederke“, im Publicum freudig begrüßt und schnell eingeführt, und besonders „Wodana. Museum voor nederduitsche oudheidskunde“, seit 1843 in Gent unter regster Theilnahme der Helfer an der Sammlung der Sagen und vieler anderer, theilweise erst aufgerüttelter Verkünder germanischen Empfindens in Flandern redigirt. Sagen und Märchen, wie früher, wurden hier hervorgezogen, dazu jegliche Volksüberlieferungen, darunter außer allerlei Gebräuchen eine lange Reihe Kinderlieder, die in Ed. de Coussemaker’s „Chants populaires des Flamands de France“, Gent 1855 und J. van Vloten’s „Nederlandsche Baker- en Kinderrijmen“, 3. Aufl. 1873, unberücksichtigt geblieben zu sein scheinen, wie überhaupt Wolf’s unermüdliche Arbeit im Interesse der vlämischen Sprach- und Volkskunde später fast in Vergessenheit gerathen ist. Dagegen spendete er selbst, der fleißigste und zielbewußteste Mitarbeiter, eine Anzahl mythologischer Früchte von Werth, neben manchen unreifen, gleich der voreiligen Abhandlung über den Wodancult in den Niederlanden (i. d. Bulletins de l’académie royale der Bruxelles VIII nr. 11), z. B. wie im Debütwerke wieder einen neuen Beleg des Thorcults; auch steuerte J. Grimm einen kleinen Aufsatz über „friesische Cosmogonie“ bei. Die „Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande“ brachten 1845 im VII. Hefte, S. 86–90 einen Artikel Wolf’s „Ueber die Dea Sandraudiga“, 1848 im XII. Hefte, S. 21–41 einen Aufsatz „Die Dea Nehalennia“, ebd. S. 189–191 eine Erörterung der rheinischen Holdabrunnensage, von Brüssel aus, wohin W. inzwischen zurückgezogen war. Während die emsigen Brüder H., A. und J. van de Velde von Heft 2 der Wodana an in die Redaction [770] eingetreten waren, stand ihm bei dem neuen Organe „De Broederhand, tijdschrift voor hoogduitsche, nederduitsche en noordsche letterkunde“ (1845 zu Gent begründet und bis 1847 unter seiner Leitung) L. Vleeschower zur Seite, und so liefen die Fäden des energischen Getriebes gutentheils in seinen Fingern zusammen. Die von Stricker herausgegebene „Germania, Archiv zur Kenntniß des deutschen Elements in allen Ländern der Erde“ (A. D. B. XXXVI, 587) III, 1–27 enthielt von W. eine Uebersicht der vlämischen sprachlich-litterarischen Bestrebungen und Aussichten, um das vielfach irrige Urtheil in Deutschland zu klären. Er hatte es in dem Idiome, dessen Recht er in diesen Jahren so nachdrücklich verfocht, zu schöner Fertigkeit gebracht, so daß ein genauer Kenner Wolf’s später zur Zeitschrift „Broederhand“ bemerkte: „Die darin aus Wolf’s Feder niedergelegten Artikel zeugen von einer rühmenswerthen Eleganz und Zierlichkeit der Sprachbehandlung und Darstellung“ (Hist.-polit. Bl. 43, 182).

In Gent war übrigens auch W. von Ludwig Uhland mit Frau und Schwägerin im August 1844 aufgesucht worden, der eine mehrwöchige Rundreise durch Belgien machte. Der Brief des Dichters an W. vom 2. September aus Tübingen nach der Heimkehr (L. Uhland’s Leben von seiner Wittwe, S. 321 bis 323) bedankt dessen Empfehlungen an Geleitsmänner und Volksliederaufzeichner, bittet ihn, etwaige Einsendungen dieser zu übermitteln und spricht W. „innige Theilnahme“ aus, da er wisse, in welcher „Unruhe und Kümmerniß“ sich dieser zur Zeit seines deshalb unterlassenen Abschiedsbesuchs befunden, sowie „den theilnehmenden Wunsch, daß die Gefahr, welche über Ihrem Familienkreise schwebte, glücklich vorübergegangen sein möchte und uns hierüber günstige Kunde zukommen möge“. Worauf spielt dies an? Hängt Wolf’s vorübergehender Aufenthalt in der kölnischen Heimath, von wo er ein halbes Jahr darauf die „Deutschen Sagen“ ausschickt, damit zusammen? Damals wol hat der den Kölner Blutsverwandten lange Entfremdete sich mit ihnen ausgesöhnt, und er ist, nachdem er zu Beginn der zweiten Hälfte des fünften Decenniums heirathete, daraufhin Ende 1847 mit seiner jungen liebenswürdigen Gattin Marie, einer Tochter der Dichterin Luise v. Ploennies (A. D. B. XXVI, 309) und eines großh. hess. Medicinalraths dieses Namens, nach ihrem Geburtsorte Darmstadt, wo ihre nächsten Angehörigen wohnten, verzogen. In Belgien scheint er mannichfach verstimmt und durch den Gang der Begebenheiten unbefriedigt gewesen zu sein. Auch bereitete sich in seiner geistigen und damit in seiner wissenschaftlichen Entwicklung ein einschneidender Umschwung vor: die Rückkehr zur positiven Kirchlichkeit oder vielmehr das Umschwenken zu einem phantastisch-katholischen Leitmotiv, dem er fürder seine Weltanschauung und die Idee seiner geliebten mythologischen Wissenschaft unterwarf. In Belgien war es mit der Pflege der letzteren nun zu Ende: die zwei deutschen Gelehrten daselbst, deren Pfade sich einigermaßen mit denen Wolf’s berührten, gingen ihre eigne Straße, August Scheler, König Leopold’s Privatbibliothekar – ihm dankt W. „Beiträge“ I, S. XXVI – eine streng philologische, Felix Liebrecht, der Lütticher Professor, diejenige der jungen von ihm mitbegründeten Disciplin des „Folklore“, wozu wenige so reichliche, so brauchbare Fundamentsteine aufgehäuft hatten wie gerade W. Auch die vlämisch-nationale Strömung versandete allgemach und kam dann erst wieder mit allerhand socialen Zwischenfluthen verquickt an die Oberfläche. Freilich war W. kein Politiker der Praxis, aber er hat gleichwol den in unseren Tagen auf die Spitze gediehenen Entscheidungskampf der beiden extremen Factionen des alten Maas-Schelde-Landes vorgeahnt. Im J. 1851 schrieb er bei einem Rückblick auf Belgiens auffällige Ruhe damals „als 1848 alles zu wanken begann“ (Katholik N. F. III, 544): „schroffer als anderswo stehen sich dort die Parteien gegenüber [771] und der Rothen gibts im Ueberfluß. Aber die Rothen wußten, daß sie gegen die Katholiken nichts vermochten und darum blieben sie ruhig“.

An dem neuen Sitze nahm W. die alte Liebhaberei wieder auf, lehnte sich aber künftig wesentlich an diese seine hessische Umgegend an. Schon im Frühlinge 1848 bewillkommnete er J. Grimm in der Frankfurter Nationalversammlung mit der, nur wenige Seiten langen Monographie „Rodenstein und Schnellerts, ihre Sagen und deren Bedeutung für die deutsche Alterthumskunde“. Danach stecken in diesen beiden Burggeistern des Odenwaldes Wuotan und Donar, und die zwei Oertlichkeiten entsprechen heiligen Stätten dieser altgermanischen Götter; der Schlußpassus lautet: „Möge die Sagenforschung sich endlich mit mehr Ernst dem herrlichen Odenwalde zuwenden; mehr als ein Altar liegt noch unter Schutt und Trümmern, und mehr als ein Gott harrt da seines Erlösers“. Und unweit auf solch romantischem, an Erinnerungen der Vorzeit reichem Felde fand W. auch für die letzte Periode seines kurzgespannten inhaltsvollen Daseins sein Heim. Zwei Meilen südlich von Darmstadt an der Bergstraße, nahe einem der reizendsten Punkte des Odenwaldes, rings schöne Bergkuppen, herrlicher Waldstand und gedankenvolle Burgruinen, liegt das freundliche Dorf Jugenheim, in dessen Mitte rebenumrankt ein niedriges Häuschen der Ploennies mit Garten, das seit 1848 sechs Jahre lang Wolf’s stilles Glück in unablässigem Schaffen sah, ohne Zufriedenheit in den äußeren Verhältnissen.

Zunächst förderte W. eifrig die Freilegung der Burgtrümmer des benachbarten Tannenbergs und in dem Prachtwerk „Die Burg Tannenberg und ihre Ausgrabungen, bearbeitet im Auftrage S. K. H. des Großherzogs von Hessen und bei Rhein durch J. v. Hefner(-Alteneck; der den kunsthistorischen Theil besorgte) und J. W. Wolf“ (1850) behandelte er Geschichte und Sagen peinlich, letztere mit mythologischen Einschlägen. Der Aufsatz „Kirche und Kloster auf dem heiligen Berge bei Jugenheim“ im „Hessischen Archiv f. Geschichte u. s. w.“ VI, Heft 1, S. 136–144, sammelt alle Kunde über den Convent auf dem mons St. Felicitatis und will letzteren als alte Wuotanstätte erweisen. Aus Streifereien im Odenwald und bei systematischem Abfragen erfahrener gedächtnißstarker Leute aus dem Volke daselbst, ferner vieler Soldaten aus der Compagnie seines in Darmstadt als Lieutenant stationirten Schwagers Wilhelm v. Ploennies (A. D. B. XXVI, 310), des „Gudrun“-Uebersetzers, ergaben sich außer einer Fülle von Liedern, Aberglauben, Beschwörungen u. s. w. schier erdrückende Unterlagen zu dem Bande „Deutscher Hausmärchen“, die 1851 (Titel-Aufl. 1858) mit amüsantem Vorberichte ihrer Entstehungsgeschichte herauskamen. Der zwei Jahre jüngere dünne Band „Hessische Sagen“ (1853), von Phil. Dieffenbach in Friedberg, dem er gewidmet, und F. L. C. Weigand gut unterstützt, bringt meist solche, die im Mythischen fußen oder wenigstens so angelehnt werden, mit Nachweisen volksthümlicher Unterlagen, zeigt aber in der kurzen Vorrede den Herausgeber schon ganz und gar im Banne seiner „katholischen“ Reaction, die er mit der neu zu pflanzenden Hingabe an das altgermanische Heidenthum in engsten Einklang zu setzen sich abmühte. Er verliert sich da leicht in mystische Phantasmen und verknüpft weit Auseinanderliegendes grundlos und vergebens. Daß uns „frommen kann nur das aus den Wurzeln unseres Seins organisch Hervorgewachsene, das wird Gottlob mehr und mehr klar, darum sehen wir wachsendes Wegwerfen des flitternden Modernen, Rückkehr zum Studium des solideren Alten, neue Freude an dessen edler Kraft und tiefem innerm Gehalt. Die begabtesten Köpfe, die feurigsten Herzen der Nation treten, ferne der kalten Vernünftelei, wieder fest zu dem warmen Glauben, in welchem sie für sich wie für das Volk das einzige, wahrhafte Heil erblicken; die heilige Kunst feiert neue Triumphe und von dem ewigen Dome Cölns aus fliegen fruchtbare Samenkörner in alles deutsche Land; die Poesie erinnerte sich, [772] daß sie eine Tochter des Glaubens ist und unsern Geibel, Redwitz, Droste, Alb. Knapp und Sturm steht keiner voran; in allen Zweigen der Wissenschaft offenbart sich ein neuer und gewaltiger Umschwung, sie betrat selbst bis dahin nie betretenes Gebiet, sie trieb einen neuen Zweig, den wir bereits als einen kräftigen Ast sehen: sie drang in die Tiefen unseres Alterthums, trug Licht in die dunkeln Tage der heidnischen deutschen Vorzeit u. s. w.“. Der Geist, der hieraus spricht (vgl. Aus der Kindheit, S. 166 f.), ist derselbe, der den nimmer feiernden Schriftsteller den Interessen seiner Confession ganz verfügbar gemacht hatte. 1851 waren „Maiglocken zur Feier des Marienmonats“ von ihm erschienen, Preis- und Danklieder, aber auch Streitgedichte, alle der Muttergottes dargebracht, die ja schon in Wolf’s Kindheit, seinen „Erinnerungen“ zufolge, eine Hauptrolle in Gemüths- und Alltagsleben gespielt hatte und in seinem „Andachtsbuch für alle Verehrer Mariä, insbesondere für die Marianischen Sodalitäten und Congregationen“ (4. Aufl. 1867; verzeichnet bei Mario Sign. Travagnutti, Kathol.-theolog. Bücherkunde III. 1891, S. 46) feste praktisch-dogmatische Form annahm. Dieselbe Zeitschrift „Der Katholik“, die (N. F. IV, 89–91) diese „Maiglocken“ sofort lobend begrüßte, brachte zweifellos von W., bis heute unbeachtet, in demselben Jahre einen Aufsatz „Der Marienmonat in Belgien“ (N. F. III, 543–551), einen Artikel „Lateinische Lieder über die Freuden der allerseligsten Jungfrau“ (N. F. IV, 262–270), die beide ein W am Kopfe haben, ebenso wie „Ein Wort für unser deutsches Kirchenlied“ (N. F. III, 193 bis 199), das dem katholischen deutschen Kirchenliede – dafür betrieb er Jahre lang außerordentlich reges Sammeln – gegenüber dem der Reformation zum Rechte verhelfen wollte und darum vielleicht mit der Polemik wider „Einige Kirchenlieder Luthers“ (ebd. IV, 492–505) ebenso in Verbindung steht wie mit den obgenannten auf die heilige Jungfrau bezüglichen wol der über „Mittelalterliche bildliche Ausdrücke von der seligsten Jungfrau Maria“ (ebd. III, 34–41 ; vgl. dazu A. Salzer’s Kompendium [1886–]1894) und der über „Die Verehrung der heiligen Mutter Gottes in ihrem Zusammenhang mit dem Glauben und Leben der Kirche“ (ebd. III, 145 bis 165), falls nicht überhaupt diese anonymen Artikel, auf die er zum Theil (a. a. O. IV, 262 f.) sich beruft, mittelbar von ihm stammen. Und wie W. daselbst in den Reihen der gelehrten und litterarischen Kämpen zu Gunsten des Katholicismus erscheint, wie er damals, „in den letzten Jahren seines Lebens, einen Theil seiner kritischen Thätigkeit in den ‚Histor.-polit. Blättern‘; [s. ds. 43, 181] veröffentlichte“, worauf wir uns hier nicht einlassen können, so begründete er 1852 die „Katholische Trösteinsamkeit“, eröffnete diese Volksbibliothek mit jenem prächtigen Memoirenausschnitte „Aus der Kindheit“, setzte sie mit einem wohlgelungenen „Schatzkästlein für Arme im Geist“ (2. Aufl. 1864) fort, einem kleinen Speicher „voll Reliquien“ seiner Notizmappe, religiösen in der Regel ausgesprochen katholischen Volksmärchen, -legenden, Marienliedern und dergl., zumeist alten Ursprungs, und den „Bildern aus dem Bauernleben“ (1854). Der Herausgeber und seine Freunde, darin gipfeln die beiden originellen Geleitworte, „wünschen durch die Sammlung mit beizutragen zur Verdrängung jener After- und Giftlitteratur, die in den letzten Jahren leider nur zu viel Leser fand, der so mancher Einzelne und so manche Familie zeitliches und ewiges Unglück und Verderben verdankt“. Damit deckt sich Wolf’s Lob der „Traditionen“ im Vorworte der „Hessischen Sagen“ gegenüber den „raffinirten Romanen der neufranzösischen Schule und ihrer deutschen Nachbeter“, sowie ebenda das der Sammlungen im Grimm’schen Stile im Vergleiche „mit jenen modischen verschrobenen Fabrikaten eines ganzen Heeres sogenannter ‚Jugendschriftsteller‘“: die Wiedererweckung echt katholischen Glaubens und die Belebung des Sinns für die Früchte der germanischen Volkskunde sproßten ihm aus demselben [773] Korn. Und als derselbe Johannes Laicus, der in der, von F. J. Holzwarth 1857–72 auf 22 Bände fortgesetzten „Katholischen Trösteinsamkeit“ gesunde Unterhaltung ermöglichen wollte, trat er mit Gleichgesinnten, insbesondere einigen sachkundigen Geistlichen, zur Erneuerung der „Legende der Heiligen“ zusammen. Dieser beispiellos wohlfeilen Heftchen – ein solches von meist über 100 Seiten kostete 4, für Subscribenten 2 Kreuzer! – lieferte er selbst noch zwei (1854; Fortsetzung in 2 weiteren Bänden 1855 durch die bekannte Gräfin Ida Hahn-Hahn), das Leben des Taglöhners Heinrich von Botzen und das der in Flandern höchst volksthümlichen Godoleva, einer Partnerin der Genoveva, freundlich ausgestattet mit Vignetten in Holzschnitt, „wahre Muster deutscher und volksthümlicher Legendenschreibung. Man sieht aus dem Bisherigen, daß hier nicht eine Heiligenlegende nach Ordnung des Kalenders beabsichtigt ist, sondern ein heiliges Lesebuch fürs Volk. In ähnlicher Weise denkt Laicus daran, auch die schönsten alten deutschen Volkslieder nach und nach erscheinen zu lassen“. Eben derselbe Kritiker im „Katholik“ (N. F. IX, 189 f.) spricht vorher in Bezug auf dies überraschend eindrucksvolle Unternehmen vom Verfasser als dem „uns bereits durch seine Trösteinsamkeit so lieb gewordenen“, „dem Gott in hohem Grade den Beruf gegeben hat zur Wiederbelebung der alten deutschen Volkslitteratur, nicht in steifer Nachahmung der Form, sondern in lebendiger Reproduction des Geistes“.

Hand in Hand mit dem Ausbau dieser neuen Gedankenwelt ging eben bei W. die mythologische Arbeit. Das Princip, das ihm seit etwa 1850 bei dieser vorschwebte, drückt eine Stelle in der wichtigen Vorrede der „Hessischen Sagen“ prägnant aus: „Diese ihre (der Volksüberlieferungen) Macht aber wächst noch an Bedeutung, wenn wir sie des Gewandes entkleiden, welches die Jahrhunderte schützend um sie gewoben haben, und sie in ihrem alten Kern schauen … Da lernen wir uns stolz als das Volk wieder fühlen, dem auch in den Finsternissen des Heidenthums Gott der Herr vor allem nahe war, das er zum mächtigsten und glorreichsten Träger der erlösenden Lehre erkor, das vor allen anderen edel und rein und groß dastand“. Daß dies in den Werken, die schließlich seine Forschungsergebnisse darstellten, nicht so stark zum Ausdruck gelangt, hat seinen Grund in der Vollendung vor der scharfen Wendung zum geistig-romantischen Ultramontanismus, sodann in seiner eingeräumten Abhängigkeit von seinem Vorbilde Jakob Grimm, dessen bezüglicher Herold er gleichsam war, „der gläubigste Anhänger Grimm’scher Methode, der ihre Resultate zum äußersten ausbeutete und unter die große Menge brachte“ (Mogk). Diese sind auch nirgends so geschickt popularisirt, wie in Wolf’s „Die deutsche Götterlehre. Ein Hand- und Lesebuch für Schule und Haus. Nach Jacob Grimm u. a.“ (1852). Darin „hatte er der Nation eine volksthümlich gehaltene Schrift geboten, welche für weitere Kreise berechnet war und hauptsächlich dazu dienen sollte, den Sinn für das Interesse der deutschen Mythologie auch bei der Jugend zu beleben und zu stärken“, sagt sein Genosse N. Hocker, und aus diesem zweckdienlichen Hülfsmittel sind auch wegen ihrer glücklichen Fassung, ebenso wie aus Wolf’s Sagen- und Märchensammlungen Nummern in viele deutsche Schullesebücher, z. B. wol in sämmtliche in Baierns höheren Lehranstalten gebrauchte, übergegangen. Endlich im Herbste 1851 fing er an, die „Vorräthe“ schier zehnjährigen Herumspürens, Sammelns und Combinirens vom Acker seiner mythologischen Studien einigermaßen gruppirt vorzulegen. Der I. Theil seiner „Beiträge zur deutschen Mythologie“ (1852), mit dem Untertitel „Götter und Göttinnen“, war natürlich „Jacob Grimm geweiht“, dessen Werk Wolf’s Fundverarbeitungen zu vervollständigen suchten. Sorgsam hat W. aus seinen Collectaneen, die auf diplomatischen Werken, Statistiken, landes- und volkskundlichen Schriften beruhen, diejenigen [774] Stücke ausgewählt, die sich möglichst ungesucht mit den zahllosen von ihm aufgespeicherten Bagatellen der „Tradition“, unter welchem Collectiv er die Stoffe des heutigen Folklore begriff, verschlingen lassen. Durch J. Grimm’s Werk veranlaßt, daran unmittelbar angelehnt und in seinen Wegen wandelnd, vertreten diese Untersuchungen deutlich die positiv vorrückende Art des Meisters, verlieren sich fast nirgends in Speculation, wie ja (S. XXV) die „Mythendeutungen“ im wesentlichen ausgeschlossen werden. Mit schöner Wärme, dabei überaus bescheiden, nur wo er auf seine Marotte des religiösen Gehalts und Zusammenhangs kommt einseitig, legt er seine „Beiträge“ vor, ausdrücklich mit dem Tone auf diesem Titel, nicht in ein System gefaßt, und höchstens räumt er der schriftlich fixirten Sage, wie er sie an versteckten Stellen andersartiger Bücher aufgräbt, dem Märchen und den lebenden Gebräuchen eine zu vorragende Rücksicht ein. Immerhin steht von den drei Eigenschaften, die der genannte Hocker den „Beiträgen“ nachrühmt – „ein ungewöhnlich großer Sammlerfleiß, eine seltene Belesenheit und bedeutende Combinationsgabe“ – die dritte weit zurück.

Durch die vorgenannten Publicationen war W. gewissermaßen der Mittelpunkt eines Kreises von Sammlern und Forschern geworden, die mit ihm theils directen Verkehr suchten, theils vielfachen Briefwechsel begannen. Und Wolf’s Besonderheit vor den Grimms, W. Müller (Göttingen), Müllenhoff, Simrock, A. Kuhn, W. Schwarz u. s. w. war der innige Contact seiner Wissenschaftspflege mit dem Volke und den in diesem fortgepflanzten Materien. Als ihm nun infolge seiner grundsätzlichen Darlegungen, namentlich in der Vorrede der „Beiträge“, wo zum eifrigen Sammeln aufgerufen war, vielerseits Parallelen und sonstige Funde zugingen, als sein liebenswürdiges anspruchsloses Wesen viele für seine Gedanken nicht minder als wie für seine Persönlichkeit einnahm, da wagte er sich an das schwierige Unternehmen, den selbstthätigen und den genießenden Interessenten ein Stelldichein, eine Ablagestelle zu bieten, indem er 1853 die „Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde“ begründete. Er hat sich damit ein außerordentliches Verdienst erworben, wie selbst die Gegner seiner Arbeitsweise und Methode anerkennen. Auf S. III des ersten Heftes enthüllte er den Plan: „Die Möglichkeit eines Wiederaufbaus der ’deutschen Mythologie‘, so wie ihre hohe Bedeutung sind, seit Jacob Grimm ihr zuerst eine festere Grundlage gab, ins allgemeinere Bewußtsein übergegangen, die der ’deutschen Sittenkunde‘, welcher eine solche Grundlage bis jetzt abgeht, wird es, sobald ihr die verdiente höhere Aufmerksamkeit und Theilnahme geschenkt wird. Daß dies ferner und in größerm Maß als bisher der Fall werde, dazu mitzuwirken ist der Zweck dieser Zeitschrift“. In seinen „Beiträgen“ hatte W. es als erster sich angelegen sein lassen, J. Grimm’s Arbeit insofern weiterzuspinnen, als er in allgemein verständlicher Weise in unzähligen Sagen und Legenden, besonders aber in noch erhaltenen oder leise fortschlummernden Bräuchen Ueberreste uralten Götterglaubens nachwies. Viele dadurch angeregte Fachleute und Laien unterstützten ihn, und so stapelte sich rasch übergenug Material für ein periodisches Organ bei ihm auf: die Brüder Grimm, Weigand, J. V. Zingerle, Simrock, W. Crecelius, F. Woeste, E. Rochholz, Rud. Hildebrand, Konr. Maurer, Aug. Stöber, K. J. Schröer, alte und junge Vorkämpfer der „Volkskunde“, auch deren beide spätere kundigste Repräsentanten Reinh. Köhler und Felix Liebrecht, dann Wilh. Mannhardt, Wolf’s specieller Jünger, Nachfolger und litterarischer Testamentsvollstrecker, stellten sich als Mitarbeiter ein, während er selbst zum ersten Bande außer höchst gründlich glossirten Novitätenreferaten einen Aufsatz über „irische Heiligenlegenden“ und einen Nachtrag zum Artikel von „Wuotan (und Donar)“ beisteuerte. Der erstere entsprach dem unablässigen Nachdruck, den er bisher schon auf die volksmäßige Legende gelegt hatte, und in Harmonie damit war (S. IV) allen [775] „selbständig deutschen Monographien die Zeitschrift geöffnet, d. h. insofern kein antichristlicher Geist derartige Mittheilungen erfüllt, denn sinn- und zuchtlose Phantasien nach Art derer Daumer’s, Ghillany’s, Nork’s u. a. abzudrucken, kann uns nicht einfallen“; ganz ähnlich hatte W. in „Beiträge“ S. XIII für die katholische Heiligenverehrung vom Standpunkte der altgermanischen Theologie eine Lanze gebrochen. Kein Wunder, daß die Görres’schen „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“ 1850 nicht nur einen ausführlichen hochrühmenden Doppelartikel (Band XXXIII, S. 89–108 und S. 189–204) brachten, sondern darin auch (S. 106 f.) eben „die neuesten Forschungen J. W. Wolf’s auf dem Gebiete der deutschen Mythologie, in denen wir gerade die ächt christliche Auffassung aufs deutlichste hervortreten sehen“ unter dem Gesichtswinkel ihrer Tendenz priesen und als Aufsehen erheischende That proclamirten und daß die „Katholische Litteraturzeitung“ ihres Mitarbeiters (vgl. dazu „Der Katholik“, N. F. IX, 561 Anm.) Gründung Bd. II (1855) S. 1 f. anonym sehr günstig besprach. Mag W. in mancher Hinsicht die Bezeichnung „ein idealer Schwärmer“, die ihm Mogk von der Warte jetziger germanistisch-antiquarischer Errungenschaften nachschickt, nicht abweisen dürfen, derselbe Kritiker gesteht ihm zu, einen „Mittelpunkt wie für die gesammte Volksüberlieferung, so auch für die gesammte volksthümliche Sitte geschaffen“ zu haben, daneben auch den unmittelbaren Aufschwung des Sammeleifers, der 1860 A. Wuttke’s tüchtiges Buch „Der deutsche Volksaberglaube“ ermöglichte. Des Knaben Liebhabereien trugen nun Frucht (vgl. z. B. Ztsch. d. Vers. f. Vlkskd. V, 113).

Aber nur zwei Jahre sollte es W. vergönnt sein, an der Spitze dieses Organs seine volle rege Kraft einzusetzen. Ueberanstrengung und Seelenkämpfe hatten die nicht überstarke Gesundheit des Mannes erschüttert, Anfang 1854 packte ihn eine Nervenkrankheit. Im Mai legten sich „Wolken und Schatten“ über sein Gemüth, wie sie schon früher gedroht hatten. Im Juni, an dessen 24. er „Tirols Volksdichtungen und Volksgebräuche. Gesammelt und herausgegeben durch die Brüder Zingerle“ als II. Band der „Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland“ mit einer bewillkommnenden Einleitung (S. XVII bis XXIV) in Jugenheim versah, besuchte ihn noch Mannhardt und übernahm eine Unmasse von Anregungen, ohne die Katastrophe so nahe zu wähnen, verabredete, einen „Verein für Hebung und Ausbeute der germanischen Volksüberlieferung“ zu stiften, begleitete ihn, als der entscheidende Anfall des Leidens geschah, in die Wasserheilanstalt zu Weinheim, im Herbste nach deren erfolglosem Besuche auf einer Reise in die Alpen und nach Meran bis Ulm. Nur bis in die Nähe der Meersburg am Bodensee, des ihm geistesverwandten Frhrn. v. Laßberg (A. D. B. XVII, 780) Sitz, gelangte W., kehrte, von der Krankheit neu ergriffen, um und machte nun noch ein böses Dreivierteljahr durch. In frischer Luft des Waldes und der Berge erquickte er sich vorübergehend, aber Anfangs November klagte er resignirt, das Hirn leide, während der Körper gesund sei, und „Gehirnerweichung“ meldete 28. Dec. Weigand J. Grimm. Der Frühling ließ sich scheinbar besser an, und am 21. April schrieb er sogar wieder muthig über Hoffnungen und Enttäuschungen an einen treuen Freund mit der Parole: „ein doppeltes Band schließt uns aneinander, das der Kirche, für die wir kämpfen, und das der Wissenschaft, der wir dienen. Das ist ein Band, das Dauer hat, darum festen Handschlag und treues Zusammenstehen ‚wie gute Waffenbrüder und edel Landsknecht‘ für Kirche und katholische Wissenschaft!“ Im Mai saß er wieder über dem Band II der „Beiträge“, von dem 19 Bogen gedruckt waren und er viel erwartete, besonders von J. Grimm’s Instanz, der schon 1844 einen der sinnigsten und erfolgreichsten Erfasser seiner Combinationen und nun deren zielbewußtesten Verbreiter in ihm sah. Auch an Simrock, mit dem er die Herausgabe einer umfänglichen Bibliothek [776] der Traditionen der deutschen und stammverwandten Völker – das gutgestützte Unternehmen scheiterte wol an der Unauffindbarkeit eines Verlegers – vereinbart hatte, schrieb er sehr zukunftsfreudig über seine allernächsten Arbeitspläne. Der erst kürzlich noch ungeängstigte Arzt drängte wieder nach Tirol. Allein Mitte Mai erlahmte ein Fuß, dann die Rechte, die Zunge erstarrte, der edle Geist umnachtete sich, er verbrachte die Zeit in dumpfem Träumen, und nachdem er in einem der wenigen hellen Augenblicke andächtigst die Tröstungen seines Glaubens empfangen, verschied er vom 28. auf den 29. Juni 1855 in der Heilanstalt zu Hofheim i. Hessen. Der kaum 38jährige, für den auf seinem heißgeliebten deutschen Boden kein Wirkungskreis an öffentlicher Stelle sich aufgethan, R. v. Raumer’s „Geschichte der germanischen Philologie“ kein Wörtchen erübrigte – in Paul’s „Grundriß der germanischen Philologie“ behandelt ihn E. Mogk I, 989 (wörtlich =2III, 239+246,2) und II, 2, 268 (vgl. oben) –, schläft, seinem Willen gemäß, auf dem Gottesacker von Gernsheim am Rhein abwärts von Worms. Ein Herz wie Gold, in den Stürmen nationaler, confessioneller, innerpolitischer Contraste ein ideales Denken wahrend, ohne Falsch und Fehle, in Allem ein Kind seines Volkes, glühender Deutscher und der treueste opferwilligste Sohn der Kirche, wahrhaft eine pia anima. Das ist der Spiegel dieses Frühverblichenen, in dem wir einen unermüdlichen Sammler deutscher Sagen, Märchen, anderweitiger Volksüberlieferungen, tüchtigen Erforscher der nationalen Mythen und fleißigen katholischen Popularlitteraten verehren. Die Redaction der „Zeitschrift“ übernahm sein Schüler Wilh. Mannhardt, der freilich an Wolf’s Arbeiten, mit Recht übrigens, in vielen „Stücken die nöthige Kritik und philologische Sachkenntniß vermissen“ wollte, mit selbständigem Takte, wie er ja während seines Tübinger Aufenthaltes mannichfach über Wolf’s Niveau hinausgewachsen war, desgleichen die fertige Herausgabe des zweiten Bandes der „Beiträge“, der 1857 erschien, von ihm mit einer knappen Lebens- und Charakterschilderung Wolf’s eingeführt, und, trotz einiger fragmentarischer Abschnitte, die Wolf’sche Mythologie in abschließender Gestalt enthielt. Erscheint auch gar viel Hypothese oder vorschnelle These darin, z. B. bei der steten Verknüpfung christlicher Heiligen mit alten Göttern, Grimm’s Facten sind erheblich erweitert, vielfach bestätigt und gestützt, und die Disciplin muß seitdem auf die Dauer mit dem rechnen, was W. ans Licht gebracht. Diese letzten und reifsten Darlegungen Wolf’s beweisen auch, daß es keineswegs richtig ist, ihm ein für alle Mal im Gegensatze zu J. Grimm die Grundanschauung unterzulegen, daß „unsere Volksmärchen altgermanische Mythen enthalten“, wie W. Scherer’s Vorrede zu Mannhardt’s „Mythologischen Forschungen“ annahm (s. auch Scherer in seinem Artikel Mannhardt i. d. A. D. B. XX, 203, sowie Kleine Schr. I, 148, 152, 166); 4 Jahre vor Benfey’s „Pantschatantra“ gestorben, lehrte W. doch für die volksthümlichen Wanderstoffe der Weltlitteratur die Herkunft „aus der alten Wiege der Menschheit“, wie „unsere und andere Sprachen im Schoß von Asien wurzeln, so muß dies auch die Mythologie dieser Völker“ (Ztschr. f. dtsch. Myth. I, S. IV f.). Trotz des Fehlens seltsamer, die Welt schärfer berührender Ereignisse rechtfertigt Wolf’s entschiedene Theilnahme an dem Erwachen und der Pflege der vlämischen, der germanistisch-volkskundlichen und der neu-ultramontanen Bewegung ein näheres Eingehen auf sein Leben und Streben. Poetisches Schaffen, ihm angeboren (Aus der Kindheit S. 165), belegt neben den Memoiren nur die Skizze „Aus der Spinnstube“, „Bilder aus dem Bauernleben“ S. 39–66, die auch ein Weihnachtspiel enthält.

Außer Mannhardt’s angeführter biographischer Skizze und den erwähnten Angaben andrer sind zu vergleichen: (Hyacinth Hollan)d’s Nekrolog Beilage 163 der „Neuen Münchener Zeitung“ vom 10. Juli 1855, [777] S. 1723 f. (woselbst dieser auch 1853, Beil. 200 Wolf’s „Hessische Sagen“, 1853, Beilage 250, 1854 Blg. 94 u. 95, 1855 Blg. 7 u. 96 die „Ztschr. f. dtsch. Myth.“ besprach), der in Beilage zu Nr. 194 der „Allgem. Ztg.“ 1855, S. 3097 f. abgedruckt und in dem anonymen Aufsatze „Germanistische Studien. Erinnerungen an J. W. Wolf“, Histor.-pol. Blätt. 43, 181 ff., dessen directe Autorschaft Holland ablehnt, neben Mannhardt vielfach wörtlich benutzt ist: an beiden Stellen schöne Briefe des letzten Jahres, 14 Briefe von, 7 an Grimms bei E. Stengel, Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen II, 307–323 (vgl. 306, 325, 345). Ferner Kehrein, Biogr.-litt. Lex. d. kath. dtsch. Dichter II, 263; Brümmer, Lex. d. dtsch. Dichter u. Pros. d. 19. Jhrhs. 4IV, 371; Manz’ Conversationslexikon (die andern übergehen ihn) 4XIII, 112a (nur hier der, von der Wittwe bestätigte Bonner Jugendaufenthalt erwähnt); N. Hocker, Carl Simrock, S. 92, 110–112; R. Köhler, Aufsätze über Märchen u. Vlksldr., S. 14 (im 1865 gedruckten Aufsatze „Ueber die europäischen Volksmärchen“; erzählt wie oben den Ursprung der „dtsch. Hsmrch.“ des „leider zu früh verstorbenen J. W. Wolf“); K. J. Schröer, D. dtsch. Dchtg. des 19. Jhrhs., S. 338 (danach „kein Zufall“, daß die „Ztschr. f. d. M.“ im Decennium des Aufkommens der Dorfgeschichte und der Dialektpoesie entstand). Die beiden ersten Bändchen der „Kath. Trösteinsamkeit“ mit Abdruck des größten Theils der charakteristischen Vorreden angezeigt „Katholik“ N. F. IX, 90–94, Wolf’s „Maiglocken“ ebd. N. F. IV, 89–91; vgl. Wiener allg. Litteraturztg. 1855: 8, 59, 332. F. M. Böhme, Neuausgabe von L. Erk’s „Dtsch. Liederhort“ I, S. 115, spricht von einer Liedvariante „in J. W. Wolf’s handschriftl. Nachlaß, aufgezeichnet in den Rheinlanden vor 1850“, über dessen Verbleib er, schreibt er mir, nichts weiß. K. Goedeke’s Brief an Uhland (s. dessen „Leben“ v. s. Witwe, S. 419) vom 16. Decbr. 1851, meint mit dem Hinweis auf F. [!] W. Wolf’s Notiz zu Uhland’s Führerschaft bei einem oberrheinischen Sagenbuch die Angabe Wolf’s „Beiträge“ I, S. XII. Grimm u. Wolf: W. Scherer, J. Grimm2 S. 278. – Das Pseudonym Johannes Laicus (natürlich nicht, wie öfters zu lesen, Laikus oder gar Leicus) ist nicht zu verwechseln mit dem fingirten Namen Philipp Laicus, den der katholische Tendenzromancier und ultramontane hessische Politiker Philipp Wasserburg (1827–97)[1] öfters angewendet hat.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 777. Z. 20 v. u.: Wasserburg (Philipp) starb erst Anfang Aprils 1897. [Bd. 44, S. 576]