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ADB:Temme, Jodocus Deodatus Hubertus

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Artikel „Temme, Jodocus Deodatus Hubertus“ von Franz Brümmer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 558–560, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Temme,_Jodocus_Deodatus_Hubertus&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:24 Uhr UTC)
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Temme: Jodocus Deodatus Hubertus T., Politiker, juristischer und schönwissenschaftlicher Schriftsteller, wurde (nach seiner eigenen Angabe) am 22. October 1798 zu Lette in der westfälischen Grafschaft Rheda geboren; sein Vater war Amtmann des Klosters Klarholz. Vorgebildet durch seinen Oheim, einen gelehrten, vorurtheilsfreien, dem Geiste humanistischer Aufklärung ergebenen Geistlichen, konnte T. schon 1813 die Prima des Gymnasiums zu Paderborn und im folgenden Jahre die Universität beziehen. Nur kurze Zeit weilte er in Münster, dann ging er nach Göttingen, vollendete hier das Rechtsstudium und trat 1817 als Auscultator bei dem Oberlandesgerichte in Paderborn in den Staatsdienst. Im J. 1819 wurde er Referendar daselbst und 1821 Assessor bei dem fürstlich Bentheimschen Land- und Stadtgericht in Hohenlimburg, begleitete dann aber als Erzieher einen Prinzen von Bentheim-Tecklenburg bis zum Jahre 1824 auf die Universitäten Heidelberg, Bonn und Marburg. In die juristische Praxis zurückgekehrt, wurde er nach Erledigung der dritten Prüfung an das Gericht zu Arnsberg versetzt, ging später als Kreisjustizrath nach Ragnit in Litthauen, 1836 als Inquisitionsdirector nach Stendal, 1838 als Hofgerichtsrath nach Greifswald und wurde 1839 als zweiter Director an das Criminalgericht zu Berlin versetzt. So hatte ihn eine Art Wanderleben in die verschiedensten Landestheile des Staates geführt. Als Untersuchungs- und Criminalrichter sammelte er in diesen Jahren den reichen, fast unerschöpflichen Schatz von Erfahrungen, den er später in seinen Romanen und Criminalgeschichten verwerthete, während ihn das Studium von Land und Leuten auf die Sammlung von Sagen und Märchen der verschiedenen Provinzen führte. Von diesen Sammlungen seien erwähnt: „Westfälische Sagen und Geschichten“ (II, 1831); „Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens“ (mit W. J. A. v. Tettau, 1837); „Die Volkssagen der Altmark“ (1839); „Die Volkssagen von Pommern und Rügen“ (1840). Auch als Novellist hatte sich T. bereits in Arnsberg versucht, und es stammen aus dieser Zeit mehrere Romane und Novellen, die er unter dem Namen H. Stahl veröffentlichte. – In Berlin sollte T. sehr bald in politische Kämpfe verwickelt [559] werden und damit auch den ersten Verfolgungen anheimfallen. Die reactionäre Regierung des neuen Königs Friedrich Wilhelm IV. plante ein neues Ehegesetz, dessen Zweck die Erschwerung der Ehescheidungen war. Der Katholik T., auf dem Boden des Allgemeinen Landrechts stehend, bekämpfte die kryptokatholischen Tendenzen jenes Gesetzentwurfs mit solcher Schärfe, daß die Regierung es für gerathen hielt, den unliebsamen Opponenten aus der Reichshauptstadt zu entfernen (1844) und ihn unter Beförderung zum Director des Stadt- und Landgerichts in Tilsit zu ernennen. Nach der Märzrevolution des Jahres 1848 kehrte T. als Staatsanwalt nach Berlin zurück, blieb aber nur wenige Monate in dieser Stellung; denn da T. gleichzeitig ein Mandat für die preußische Nationalversammlung erhalten hatte, das Ministerium aber den freisinnigen Mann gern beseitigen wollte, so wurde er zum Vicepräsidenten des Oberlandesgerichts in Münster ernannt. Schon nach vier Wochen wiedergewählt, war er mit Jacoby, Waldeck, Ziegler u. a. seitdem ein scharfer Gegner der Regierung und nahm wesentlichen Antheil an der Steuerverweigerung und dem Protest gegen die Auflösung der Nationalversammlung (November 1848). Daß selbst der herrliche preußische Richterstand in jenen Tagen von einer bureaukratischen Liebedienerei nicht ganz frei war, zeigte sich auch in Temme’s Leben; denn der Criminalsenat des Oberlandesgerichts zu Münster petitionirte nicht nur um Entfernung seines Vicepräsidenten, sondern erhob auch gegen denselben als Steuerverweigerer die Anklage auf Hochverrath, infolge dessen T. vom Amte suspendirt und am 22. December 1848 verhaftet wurde. Aber schon am 8. Januar 1849 wurde er vom Kreise Neuß in die deutsche Nationalversammlung nach Frankfurt a. M. gewählt. In derselben harrte er auch trotz der preußischen Abberufungsordre aus, bis Gewalt den letzten Rest des Parlaments in Stuttgart auseinander sprengte. Deshalb nach seiner Rückkehr nach Münster von neuem des Hochverraths angeklagt und abermals verhaftet, mußte er neun Monate lang in Untersuchungshaft zubringen, bis am 6. April 1850 seine völlige Freisprechung durch die Geschworenen erfolgte. Aber die Verfolgung hörte damit nicht auf. Jetzt wurde ein Disciplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, und auf Grund einer Verordnung vom 10. Juli 1849, der man erst rückwirkende Kraft geben mußte, um sie gegen T. in Anwendung bringen zu können, verurtheilte ihn das Obertribunal als Disciplinarhof im Februar 1851 zur Amtsentsetzung und zum Verlust des Anrechts auf Pension. T. stand nun vor der Aufgabe, sich eine neue Existenz zu gründen, die für ihn als Mißliebigen nicht leicht war. Er übernahm zunächst die Redaction der „Oderzeitung“ in Breslau, des Sammelpunktes der Opposition; aber die polizeilichen Belästigungen, deren sowohl der Redacteur als der Verleger ausgesetzt waren, ließen ihn bald dieses Verhältniß lösen. Ein Versuch, sich und seine zahlreiche Familie als Rechtsconsulent ehrlich durch die Welt zu bringen, erwies sich gleichfalls wenig erfolgreich, er ging deshalb 1852 freiwillig ins Exil nach Zürich, wo er bald eine Professur an der Universität erhielt, die ihm aber erst nach sieben Jahren ein sehr bescheidenes Einkommen brachte. So griff er denn zur Feder, um als Schriftsteller sein Brot zu verdienen. Seine reichen Erfahrungen als Richter verwerthend, „behandelte er die Criminalistik in der Form der Novelle und des Romans und er wurde so der Hauptvertreter eines besonderen Genres, in dessen Behandlung er bis jetzt trotz der großen Zahl der Nachfolger unerreicht dasteht. Er erzählt zumeist, was er selbst erlebt; viele seiner Novellen sind mehr Wahrheit als Dichtung, und der erfahrene Criminalist brauchte den Dichter nicht oft zu bemühen. Seine Erzählungen, deren Verbreitung sich in den Jahren 1859–66 namentlich die ‚Gartenlaube‘ sehr angelegen sein ließ, sind scharf concipirt; mit den Figuren agirt er, wie ein Inquirent. An diesen erinnert auch der seltsame Stil; kurze, abgerissene Sätze, wie [560] Fragen und Antworten eines Verhörs, wie die eiligen Darlegungen eines Referats. Er strebt hastig dem Ende zu und der Leser, den mehr das Stoffliche als das Psychologische des Falles reizt, mit ihm. Für Temme’s Genre ist der schnelle Sprung von Satz zu Satz nicht unangenehm, wenngleich er darin des Guten manchmal zu viel gethan hat“. T. schrieb mit beispielloser Leichtigkeit und rastlosem Eifer: er schrieb eben „aus Noth, ums tägliche Brot“, und es that ihm bitter weh, wenn mancher deutsche Recensent aus Unkenntniß dieser Verhältnisse rasch und herzlos den Stab über seine Arbeiten brach. Es mag uns erspart bleiben, die Titel seiner sämmtlichen schönwissenschaftlichen Schriften aufzuführen: sie umfassen mehr als 150 Bände; als die hervorragendsten seien erwähnt: „Neue deutsche Zeitbilder“ (drei Romane: Anna Hammer, III, 1850; Josephe Münsterberg, III, 1850; Elisabeth Neumann, III, 1852); „Die schwarze Mare“ (III, 1854); „Die Verbrecher“ (V, 1855); „Die Gesellschafterin“ (1858); „Schwarzort“ (III, 1863); „Die Frau des Rebellen“ (II, 1871); „In der Ballus (1874); „Im Amthause zu Sinningen“ (II, 1876); „Die Generalin“ (IV, 1877) u. a. Auch als juristischer Schriftsteller war T. hervorragend thätig und sein „Lehrbuch des preußischen Civilrechts“ (1846) galt lange als vortreffliches Compendium; ihm folgten später noch „Lehrbuch des preußischen Strafrechts“ (1853); „Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts“ (1855) und „Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts“ (1876), in welchem er seine so vielfach von den geltenden Gesetzen abweichenden Anschauungen klar entwickelte und gegen die herrschende Strömung entschieden vertheidigte. Noch einmal trat T. in die politische Oeffentlichkeit, als ihm die Berliner Wähler 1863 ein Mandat zum preußischen Abgeordnetenhause übertrugen; aber der alte Demokrat, der in der Schweiz keine Erschütterung in seinen Anschauungen erfahren, konnte sich in den neuen Parlamentarismus nicht hineinfinden, und so kehrte er schon nach Jahresfrist in die Schweiz zurück. Bis zum Jahre 1878 behielt er seine Professur bei, dann siedelte er nach Tilsit über, um im Kreise seiner Kinder und Kindeskinder den Lebensabend zu beschließen. Als ihm hier aber bald seine treue Lebensgefährtin durch den Tod entrissen ward, fühlte er sich einsam und vereinsamt, und es zog ihn wieder nach dem geliebten Zürich zurück. Hier starb er am 14. November 1881.

Handschriftliche Mittheilungen. – Berliner Tageblatt vom 20. Novbr. 1881. – Erinnerungen von J. D. H. Temme, (zuerst in der Frankfurter Zeitung, dann) herausg. von Stephan Born (Temme’s Schwiegersohne) Leipz. 1883.