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ADB:Tauler, Johann

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Artikel „Tauler, Johann“ von Wilhelm Preger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 453–465, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tauler,_Johann&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 03:03 Uhr UTC)
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Tauler: Johann T., Dominicaner, † 1361, einer der hervorragendsten Vertreter der deutschen Mystik im Mittelalter und einer der bedeutendsten Prediger seiner Zeit. Nachdem in der mittelalterlichen Kirche über dem Kampfe mit dem Heidenthum und weiterhin über dem Ringen um die weltliche Herrschaft die innerliche und wesentliche Seite der Kirche mehr und mehr zurückgetreten war, erwachte vornehmlich seit dem 12. Jahrhundert in den Gemüthern das Verlangen nach einer tieferen Befriedigung des religiösen Lebens, als sie die von den Kanzeln empfohlene und in weiten Kreisen gepflegte kirchliche Frömmigkeit oder die herrschende Schultheologie, welche in künstlichen Nachweisen für die Vernunftmäßigkeit der überlieferten kirchlichen Lehren sich erschöpfte, zu gewähren vermochten. Die Mystik, welche die Ruhe der Seele in einer unmittelbaren Lebensgemeinschaft mit Gott sucht und somit ganz dem inneren Heiligthum der Kirche angehört, gewann in jener Zeit zuerst in Frankreich vornehmlich durch Bernhard von Clairvaux sowie durch Hugo und Richard von St. Victor neues Leben; im 13. Jahrhundert fand sie dann auch in Deutschland zahlreiche Anhänger und in David von Augsburg und Albertus Magnus beredte Verkünder ihrer Grundsätze. Um die Wende des Jahrhunderts erreicht sie in Dietrich von Freiburg und vor allem in Meister Eckhart (s. A. D. B. V, 618) eine in den folgenden Jahrhunderten nicht wieder erreichte Höhe auch in der Speculation, deren Früchte wir dann im 14. Jahrhundert von den Schülern [454] Eckhart’s, den oberrheinischen Predigern Johann von Sterngassen, Heinrich Suso, Johann T. in Lehre und Predigt und weiterhin in den Niederlanden von Johann Ruysbroeck und Gerhard Groote, von ersterem in speculativem Geiste, von letzterem in ausschließend praktischer Richtung verwerthet sehen.

T. ist um das Jahr 1300 als der Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Bürgers zu Straßburg geboren. Hier trat er um das Jahr 1315 in den Dominicanerorden, der in Straßburg neben etlichen Frauenklöstem ein Männerkloster mit einer bedeutenden Schule besaß, an welcher eben damals Meister Eckhart lehrte. Der Orden stand um diese Zeit noch in hohem Ansehen. Er zählte viele Männer- und Frauenklöster, namentlich auch in Deutschland. Sein Schulwesen war auf das trefflichste geordnet. Auf der hohen Schule zu Paris gehörten die Magister der Dominicaner zu den bedeutendsten Vertretern der herrschenden Schultheologie, die in dem Dominicaner Thomas Aquin ihren Höhepunkt erreicht hatte. Glieder des Ordens besaßen an der Curie wie an den Fürstenhöfen bedeutenden Einfluß. Die Inquisition lag vorherrschend in den Händen des Ordens. Seinem Namen als Predigerorden machte er durch eine Reihe der tüchtigsten Prediger Ehre, unter denen gerade in den Zeiten des jungen T. Nikolaus von Straßburg, Eckhart und Sterngassen sich auszeichneten. Dazu waren viele seiner Klöster in Deutschland, namentlich seine Frauenklöster, Stätten eines mit Eifer gepflegten mystischen Lebens. Die ganze spätere Zeit Tauler’s beweist, daß es die letztgenannten Seiten in dem Leben des Ordens waren, welche dem Convente zu Straßburg den jungen T. zuführten. Wie Suso, so versuchte auch er nach seiner Aufnahme durch eine die Natur zerrüttende Askese seinen Eigenwillen zu tödten. Er ließ davon, als er ihre schädlichen Folgen wahrnahm. Auch andern räth er später, hierin Maaß zu halten, da eine allzu geschwächte Natur dem Aufschwung des Gemüthes hinderlich sei. Nach einem zweijährigen Noviziat hatte T. nach der Vorschrift des Ordens ein achtjähriges Studium durchzumachen, das nach einander Logik, Physik, die Bibel und die Dogmatik umfaßte. Da er für befähigt erachtet wurde, dereinst Lector zu werden, wurde er in seinem 25. Jahre auf die Hochschule des Ordens nach Köln zu einem dreijährigen Studium gesendet, an das sich dann ein einjähriger Cursus mit praktischen Uebungen anschloß. Die Studienzeit Tauler’s in Köln darf mit ziemlicher Sicherheit in die Jahre 1325–29 gesetzt werden. Er genoß hier mit Suso noch den Unterricht Eckhart’s, der inzwischen an die Kölner Hochschule versetzt worden war und eine Schaar talentvoller Schüler um sich sammelte. Er erlebte hier ferner den Proceß, den der Erzbischof Heinrich von Virneburg wegen häretischer Lehre gegen den Meister führen ließ, und Eckhart’s Tod im J. 1327. Erst zwei Jahre später erfolgte dann die päpstliche Entscheidung, welche 17 Lehrsätze Eckhart’s als häretisch, 11 als der Häresie verdächtig verurtheilte. T. ebensowenig als Suso und andere Schüler Eckhart’s haben diese Entscheidung, welche den Meister der pantheistischen Lehre der Brüder des freien Geistes beschuldigte, anerkannt. Er spricht später in einer zu Köln gehaltenen Predigt zu seinen Conventbrüdern von dem „lieblichen Meister“, der zu ihnen von dem Sein des Menschen in Gott gesprochen habe, den sie aber nicht verstanden hätten, indem sie das, was er von dem ewigen Sein in Gott gemeint habe, auf die zeitliche Existenzweise bezogen hätten. Irrthümlich ist eine frühere Nachricht, nach welcher T. nach Vollendung des Kölner Studiums noch auf die angesehene Hochschule des Ordens zu Paris gesendet und dort Magister der Theologie geworden sein soll. Sein Name findet sich in den Verzeichnissen der Pariser Doctoren nicht.

Ueber Tauler’s Thätigkeit in den nächsten Jahren nach seiner Rückkehr von der Hochschule sind wir ohne Nachricht. Erst im Anfang des Jahres 1339 [455] treffen wir ihn wieder und zwar zu Basel, wo er bereits längere Zeit als Prediger und wahrscheinlich auch als Lector wirkt. Er bildet hier mit dem Weltpriester Heinrich von Nördlingen den Mittelpunct für die zahlreichen „Gottesfreunde“, welche in den stürmischen Zeiten des Interdicts in dieser Stadt, welche zu Kaiser Ludwig hielt, aber auch den friedlichen Gegnern des Kaisers den Aufenthalt gestattete, von nah und ferne sich zusammengefunden hatten. Von hier aus unterhielt er Verbindungen mit dem Italiener Venturini, dessen feurige Beredsamkeit in Italien das Volk in Scharen zur Buße gerufen hatte und den dann der Argwohn der Curie eine Zeit lang in Südfrankreich zur Unthätigkeit zwang, ferner mit den ekstatischen Frauen Margarethe Ebner in Kloster Medingen bei Donauwörth und mit Christine Ebner in Kloster Engelthal bei Nürnberg, mit der Familie Merswin in Straßburg und andern Freunden des mystischen Lebens, die sich mit Vorliebe nach Joh. 15, 15 „Gottes Freunde“ nannten.

Von dem Streite Ludwig’s des Baiern mit den Päpsten ist auch der deutsche Clerus und sind die Gottesfreunde aufs stärkste berührt. Nicht wenige stehen auf Ludwig’s Seite, ein Theil aus Furcht vor den Bürgerschaften der freien Städte, die meist zu Ludwig hielten, ein Theil aus der Ueberzeugung, daß der Papst seine Gewalt mißbraucht habe und daß deshalb Bann und Interdict, welche über Ludwig und seine Anhänger verhängt worden waren, ungültig seien. Die Dominicaner in Straßburg hatten lange Zeit öffentlich celebrirt, obwol die Stadt wegen Ludwig’s im Banne lag. Als sie vom Papst und den Ordensobern gedrängt, im J. 1339 die Messe einstellten, mußten sie auf Befehl des Raths die Stadt verlassen. T. wurde hiervon nicht betroffen, da er schon vor dieser Zeit in das Kloster zu Basel versetzt worden war. Er stand, wie viele seiner Ordensbrüder, auf Ludwig’s Seite. Bestärkt mochte ihn in seiner Ueberzeugung seine Freundin Margarethe Ebner haben, von der er glaubte, daß sie göttlicher Offenbarungen gewürdigt sei. Schon in der Fastenzeit des Jahres 1339 läßt sie T. durch Heinrich von Nördlingen um schriftliche Mittheilungen ihrer Offenbarungen, sonderlich über die Zustände der Kirche und der darunter leidenden Gottesfreunde bitten. Margarethe ist eine begeisterte Anhängerin Ludwig’s; sie glaubt dessen göttlich gewiß zu sein, daß er Gott liebe und Gott ihn, daß des Papstes Urtheil über ihn ein falsches sei. Nicht lange nach des Kaisers plötzlichem Tode (11. Oct. 1347) ist T. in Medingen zu Besuch. Nur auf ihn kann es passen, wenn Margarethe in dem Buche ihrer Offenbarungen und Gesichte in dieser Zeit von einem Freunde Gottes spricht, der auch der ihre sei, und welcher mit Ernst von ihr begehrt habe, daß sie Gott für den Kaiser bitte und von Gott erfrage, was er mit ihm gewirkt habe in der kurzen Frist bei seinem Tode. Die Antwort lautete übereinstimmend mit ähnlichen früheren Antworten, Gott habe ihm Sicherheit des ewigen Lebens gegeben, denn er habe Christum lieb gehabt; menschlich Urtheil (hier des Papstes) werde oft betrogen.

T. gehörte in der Zeit dieses Besuches in Medingen nicht mehr dem Convente zu Basel an, sondern war um 1347 nach Straßburg zurückberufen worden. Dort hatten nämlich seine Ordensbrüder im J. 1343 wieder einziehen dürfen, wie man annehmen muß gegen das Versprechen, die Messe wieder celebriren zu wollen, da deren Einstellung die Ursache ihrer Verbannung gewesen war. Wir finden hier T. um 1348 als Beichtvater des reichen Patriciers Rulman Merswin (s. A. D. B. XXI, 459), der vor kurzem seine Kaufmannschaft und das Leben nach der Welt Weise aufgegeben hatte, um unter den härtesten Selbstpeinigungen gänzlich dem Umgang mit Gott zu leben. Mit der Einsicht, welche er aus der eigenen Erfahrung gewonnen hatte, suchte T. sofort bei seinem Beichtsohne dem Uebermaaß einer Askese Schranken zu setzen, welche schwerlich zu [456] einer gesunden Gestaltung des religiösen Lebens führen konnte. Nun erzählt Merswin in seinem Bericht über die vier Jahre seines „anfangenden Lebens“, daß er oft das hl. Abendmahl empfangen habe. Da er dieses von seinem Beichtvater empfangen haben wird und Straßburg bis gegen 1353 unter dem Banne lag und auch Merswin, wie seine Schrift von den 9 Felsen beweist, der Ueberzeugung war, daß die Päpste seiner Zeit mehr sich selber als die Ehre Gottes und der Christenheit meineten, so läßt sich auch aus diesen Umständen ein ziemlich sicherer Schluß auf die Stellung ziehen, welche T. in der Frage, ob das päpstliche Interdict zu beachten sei oder nicht, eingenommen hat. Da dürfte dann auch die Angabe des späteren Chronisten Speckle von Straßburg nicht abzuweisen sein, wenn er berichtet, daß T. in der Zeit der großen Pest in den Jahren 1349 und 1350 trotz des Bannes denen, die es begehrten, das Sacrament gereicht habe, wenn auch, was jener Compilator sonst über Tauler’s litterarische Betheiligung an dem kirchlich-politischen Streite und seine Begegnung mit Karl IV. zu erzählen weiß, um der Widersprüche mit feststehenden Thatsachen willen keinen Glauben verdient.

Die Hoffnung, welche Venturini im J. 1339 ausgesprochen hatte, daß durch T. der Name Christi in Deutschland werde ausgebreitet werden, ging in den vierziger Jahren mehr und mehr in Erfüllung, wie dies auch aus der Aeußerung der Christine Ebner zu entnehmen ist, welche um 1350 von ihm schreibt, er habe „mit seiner feurigen Zunge das Erdreich angezündet“. Die wenigen Predigten, welche uns aus dieser Periode noch übrig sind, zeigen, mit welcher Kraft er sich der überhand nehmenden Zuchtlosigkeit, insbesondere auch in seinem Orden entgegensetzte; denn infolge der Zerrüttungen, welche die Zeiten des Interdictes mit sich brachten, war auch die Zucht in den Klöstern vielfach geschwunden. So konnte es nicht fehlen, daß T. durch den strafenden Ernst seiner Predigt sich auch viele Feinde erweckte, und es wird damit zusammenhängen, wenn Heinrich v. Nördlingen im Anfang des Jahres 1348 Margarethe Ebner um Fürbitte für T. bittet, der auch „gewöhnlich in großen Leiden sei, denn er lehre die Wahrheit und lebe ihr so gänzlich, als er einen lehren wisse“.

Von dem Rufe Tauler’s angezogen und ohne Zweifel über ihn durch Freunde unterrichtet, kam im J. 1350 ein Gottesfreund aus dem Oberlande – wie ich mit Jundt vermuthe, aus Chur – nach Straßburg, um zu versuchen, ob er auf diesen bedeutenden Prediger, dessen Wissen er hochschätzte, dessen Leben ihm aber noch der wahren Demuth zu ermangeln schien, Einfluß gewinnen könne. Dieser Mann ist durch die Brüder des Johanniterhauses zum grünen Wörth bei Straßburg (einer späteren Stiftung Merswin’s), für die er einen Theil seiner Schriften verfaßt hat, unter dem Namen des „Gottesfreundes vom Oberlande“ bekannt geworden. Sein eigentlicher Name und der Ort, von wo aus er lange Jahre einen geheimnißvollen Einfluß auf einen weiten Kreis von Gottesfreunden übte, ist nie bekannt geworden. Eine der Schriften dieses Mannes erzählt nun die Bekehrung eines Meisters der heiligen Schrift durch ihn, und aus der Tradition des grünen Wörths stammt die Annahme, daß dieser Meister T. gewesen sei. Diese Annahme wurde im 15. Jahrhundert allgemein und verschiedenen handschriftlichen Sammlungen und den ältesten Drucken der Taulerpredigten ist denn auch das Buch des Gottesfreundes von dem Meister beigegeben. Erst in neuerer Zeit hat P. Denifle den Erweis zu führen versucht, daß das Meisterbuch eine Dichtung, der Gottesfreund vom Oberland eine Fiction Merswin’s und alle Schriften desselben von Merswin verfaßt und betrügerischer Weise dem fingirten Gottesfreunde untergeschoben seien. Es ist hier nicht der Ort, auf eine Widerlegung dieser Ansicht einzugehen; ich muß hiefür auf den 3. Band meiner Geschichte der deutschen Mystik verweisen. Ich halte die ältere [457] Ansicht für völlig begründet. Sie allein bietet uns auch den Schlüssel zum Verständniß der letzten und wichtigsten Periode von Tauler’s Leben.

Der Gottesfreund kam zu T. in der zuerst verschwiegenen Absicht „etwas Rath“ bei ihm zu schaffen. Fünf Mal hört er ihn predigen, beichtet und communicirt bei ihm und bittet ihn um eine öffentliche Predigt, in welcher der Weg zum höchsten Ziele dargelegt wäre. T., verwundert über die Bitte eines, wie ihm scheint, ungebildeten Laien, gibt endlich der beharrlichen Bitte nach. Er zeigt in der verlangten Predigt, daß man, um zur Gemeinschaft mit Gott im höchsten Sinne zu gelangen, alle sinnlichen und begrifflichen Vorstellungen von Gott durchbrechen und auch das Wohlgefallen des Geistes daran überwinden müsse, und nennt 24 Stücke, durch deren Uebung man hiezu gelange. Nach kurzer Zeit bringt der Laie diese Predigt, die er aus dem Gedächtniß nahezu wörtlich nachgeschrieben, damit T. prüfe, ob er sie richtig aufgefaßt habe. Dieser, erstaunt über die getreue Wiedergabe, erbietet sich dem Manne, der sich stellt, als wolle er heimreisen, zu einer zweiten Predigt über das gleiche Thema, vernimmt nun aber von ihm, daß er eigentlich nicht gekommen sei von ihm zu lernen, sondern ihm Rath zu ertheilen. Nicht die Lehre Tauler’s bestreitet der Gottesfreund in dessen Predigten, sondern was seine Worte ihm „unschmackhaft“ mache, das sei die sittliche Verfassung seiner Seele. Seine Predigt habe ihm den Eindruck gemacht, als sei es ihm noch mehr um die eigene als um Gottes Ehre zu thun, als sei er noch eitel auf seine Meisterschaft, als habe er die Last, die er den Seelen auflege, selbst noch nicht angerührt. In der weiteren Unterredung wird T. von der Wahrheit der Worte des Gottesfreundes überführt und entschließt sich, sich rückhaltlos der Führung desselben zu überlassen. Als eine kindliche Lection, als ein ABC, die Anfangsworte nach dem Alphabet geordnet, legt ihm nun der Gottesfreund 23 Sätze vor, die ihn seine Gedanken von der Welt ab und auf Gott richten, den eigenen Willen überwinden und sich in der Liebe und allen christlichen Tugenden üben heißen. Nach sechs Wochen, in welchen T. unter vielen Büßungen seinen Sinn den vorgeschriebenen Sätzen gleichförmig zu gestalten bemüht ist, fordert der Gottesfreund, daß T. seine bisherige Thätigkeit im Kloster: Beichthören, Predigen und Studium für längere Zeit völlig einstelle, um lediglich Christi Leben und Liebe und seinen eigenen Mangel an Liebe zum Vorwurf seiner Betrachtungen zu nehmen. Unwille, Verachtung, Spott der Klosterbrüder und aller, mit denen er sonst verkehrte, waren die Folge seiner gegen ein Jahr lang dauernden Zurückgezogenheit. Er wurde zuletzt wie ein Irrsinniger angesehen. Er gab sich darein als in eine Uebung der äußersten Gelassenheit nach dem Rathe des Freundes, der ihm diese Schule der Demuth und Selbstverleugnung auferlegt und ihre Folgen vorausgesagt hatte[WS 1]. Aber Tauler’s Kräfte verzehrten sich unter diesen Demüthigungen in einer Weise, daß er nach dem Gottesfreunde, der seit einem Jahre hinweggezogen war, Botschaft senden mußte. Dieser kam und hieß ihn nun seine Natur mit guter Speise wieder stärken; doch solle er noch ein Jahr lang auf dem angegebenen Wege beharren. Als er dann nach so langer Frist einmal im Gebete Gott um Erbarmung und Friede anrief, überkam ihn plötzlich eine solche Fülle göttlichen Trostes, daß sein Geist verzückt wurde. Wieder zu sich gekommen fühlte er jetzt seine Natur von einer „neuen, großen und fröhlichen Kraft durchdrungen und seinen Geist voll großer, lichtreicher Unterschiede, die ihm vormals unbekannt waren“. Da sandte er abermals nach dem Freunde, der ihn nun, „nachdem er durch Gottes Gnade das Licht des Geistes empfangen habe, das Predigen und all seine frühere Thätigkeit wieder aufnehmen hieß. Aber beim ersten Versuche überkam ihn über dem stillen Anfangsgebete auf der Kanzel ein Weinen, daß er nicht zu stillen vermochte, so daß er die Leute [458] wieder entlassen mußte. Er wurde von neuem zum Gespötte und nur mit Mühe erlangte er in den folgenden Tagen, daß man ihn noch einmal probeweise in der Schule reden ließ. Hierauf durfte er wieder öffentlich auftreten. Er predigte über Matth. 25, 6: „Siehe, der Bräutigam kommt, gehet aus ihm entgegen.“ Die Predigt hatte eine außerordentliche Wirkung, unter andern auch die, daß eine Anzahl von Klosterschwestern verzückt wurde, während sie wie todt am Boden lagen. Es war dies keine ungewöhnliche Erscheinung in den Frauenklöstern jener Zeit, die ihren Grund in der Richtung der damaligen mystischen Frömmigkeit, in dem durch Askese gesteigerten Seelenleben und in der ansteckenden Macht hatte, welche derartige Erscheinungen auf die Sinne anderer von gleicher Empfänglichkeit auszuüben pflegen. Tauler’s Ruf als Prediger war nun bald wieder hergestellt und steigerte sich in der folgenden Zeit. Er benutzte die Fastenzeit des Jahres 1352, in der er wieder zu predigen begann, zu einer Anzahl von sogenannten Standespredigten, die mit jener von den 24 Stücken und von dem Gleichnisse des Bräutigams durch die Aufzeichnungen des Gottesfreundes im Meisterbuche ums erhalten sind. Sein Convent, welcher durch die rücksichtslose Offenheit, mit welcher hier der Verfall des Klosterlebens, des geistlichen Standes überhaupt, sowie der weltlichen Stände geschildert und gestraft war, um sein Ansehen zu kommen fürchtete, suchte ihn aus Straßburg zu entfernen. Aber die kräftige Einsprache des Magistrats, der eine heilsame Frucht von diesen die Liebe mit dem Ernste paarenden Predigten erwartete, verhinderte diese Maßnahme. Die in dem Meisterbuch enthaltenen Predigten decken sich nicht bloß im allgemeinen oder in einzelnen Stellen mit den taulerischen Anschauungen, sondern sie tragen durchaus in Wortlaut, in der Satzconstruction und in ihrem inneren Zusammenhange das Gepräge der übrigen taulerischen Predigten, wenngleich sie in wenigen Einzelheiten die Spuren dessen tragen, durch dessen Feder sie uns vermittelt sind.

T. wirkte nach den hier geschilderten Vorgängen mit erhöhtem Ansehen und großem Erfolge noch mehrere Jahre lang zu Straßburg, wenngleich unter heftigen Anfechtungen vonseiten solcher, welchen die Mystik der Gottesfreunde an pantheistische („begardische“) Ketzerei zu streifen oder die Ordnung der Kirche zu untergraben schien, oder auch solcher, welchen die Predigt Tauler’s unbequem war um des Ernstes willen, mit welchem er der Zuchtlosigkeit gegenübertrat. Nach der Mitte der fünfziger Jahre finden wir ihn während einer längeren Zeit als Prediger zu Köln thätig und zwar zumeist an der Kirche des Dominicanerinnenklostets St. Gertrud. Hier ist auch, und aller Wahrscheinlichkeit nach mit seinem Wissen und Willen, jene Sammlung seiner Predigten entstanden, welche in den folgenden Zeiten in einer Menge von Abschriften in Deutschland verbreitet wurde und den ältesten gedruckten Ausgaben seiner Predigten zu Grunde liegt. In diesen Kölner Predigten ist der Einfluß, welchen die Begegnung mit dem Gottesfreunde auf T. gehabt hat, in deutlicher Weise wahrzunehmen. Er zeigt sich zunächst in der Bedeutung, welche T. den Gottesfreunden jetzt zuschreibt. „Dieser Menschen soll sich niemand annehmen (mit ungünstigen Urtheilen), auch der Papst und die hl. Kirche nicht; sie sollen Gott lassen mit ihnen gewähren“ (Pr. 93). Es sind das „die wahren Freunde Gottes, es sind zarte minnigliche Menschen, es sind übernatürliche, göttliche Menschen, und die wirken und thun nichts ohne Gott in allen ihren Werken“ (Pr. 19). „Sie sind die Säulen der Welt und der hl. Kirche“. T. sieht in ihnen die Ursachen der Verzögerung der Gerichte, welche der damaligen Christenheit drohten und die ohne ihr Gebet längst hereingebrochen wären. Er räth sie aufzusuchen, sich ihnen „zu Grunde zu lassen“, um nach ihrer Weisung nach der höchsten Vollkommenheit zu streben. „Die diesen Weg gehen, über die hat der Papst keine Gewalt, denn Gott selbst [459] hat sie gefreit“ (Pr. 131). So ist für T. die Kirche zuerst und zunächst „die Gemeinde der Heiligen“, die nicht ohne weiteres zusammenfällt mit der äußerlich verfaßten, sichtbaren Kirche. Sie genießen des von Christus erworbenen Heiles, auch wenn der Papst durch seinen Bann ihnen das Sacrament äußerlich nehmen wollte. Denn „wollte der Papst und die hl. Kirche uns das Sacrament auswendig nehmen, wir sollten uns darein lassen; aber geistlich es zu gebrauchen, das kann uns niemand nehmen.“ Vergleicht man die Kölner Predigten mit den unzweifelhaft früheren, welche zuerst die Baseler Ausgabe von 1521 bringt, so kann die außerordentliche Bedeutung, welche nun mit einem Male den Gottesfreunden für die Kirche zugeschrieben wird, nur erklärt werden, wenn T. in der Zwischenzeit von dieser Seite her einen Einfluß erfahren hat, der weit über den hinausragte, welchen ein Heinrich von Nördlingen, eine Margarethe Ebner, ein Merswin und andere uns bekannte Persönlichkeiten auf ihn hätten ausüben können. Diese standen alle tief unter T. Dagegen tritt uns in den Schriften des Gottesfreundes vom Oberlande eine Persönlichkeit entgegen, die sich weit über die übrigen Gottesfreunde erhebt, und auf die allein die Bedeutung, welche T. den Gottesfreunden in den oben angeführten und zahlreichen anderen gleichartigen Stellen beimißt, zurückgeführt werden kann. Auch nach einer andern Seite hin ist dieser Einfluß des Gottesfreundes vom Oberlande wahrnehmbar. Es sind die drohenden göttlichen Strafgerichte über die Christenheit, welche in den Predigten der letzten Periode Tauler’s eine so hervorragende Stelle einnehmen. Nicht das ist es, daß sie überhaupt häufig erwähnt werden, sondern die Art wie es geschieht. Unter den Schriften des Gottesfreundes findet sich ein Sendschreiben an die Christenheit aus dem Anfang des Jahres 1357, zu welchem der Verfasser zunächst durch das furchtbare Erdbeben, durch welches Basel zum großen Theil zerstört wurde, und durch eine „Offenbarung“, welche ihm in der Christnacht des Jahres 1356 zu theil geworden war, veranlaßt worden ist. Vergleichen wir die Aeußerungen Tauler’s in den Predigten des Jahres 1357 über die zu erwartenden großen Gerichte mit dem, was das Sendschreiben über dieselben sagt, so kann z. B. jene Predigt (Pr. 81), welche unzweifelhaft dem Jahre 1357 angehört und von einer den Gottesfreunden „kürzlich“ gewordenen Offenbarung spricht, und das was hier über diese Plagen selbst, über ihr unmittelbares Bevorstehen und die dadurch veranlaßte Mahnung, sich an die Gottesfreunde anzuschließen, gesagt ist, nur eine Bezugnahme auf jenes Sendschreiben des Gottesfreundes sein. Sie ist ein Beweis, daß T., wenn er von den Gottesfreunden redet, welche er als die Säulen der Christenheit und der Kirche bezeichnet, keine anderen meine, als sie ihm in der Person des Gottesfreundes vom Oberland und seinen Schriften entgegengetreten sind. Auch T. selbst hat sich um dieselbe Zeit in ähnlicher Weise wie der Gottesfreund in einem eigenen Mahnschreiben an die Christenheit gewendet. Der Verfall der Sitten, die Auflösung der klösterlichen Zucht, das Ueberhandnehmen der Lehren der Brüder des freien Geistes, die Bedrängnisse, denen sich die Gottesfreunde und T. selbst durch den Argwohn kirchlicher Eiferer ausgesetzt sahen, konnten einem um das Wohl der Christenheit so unablässig besorgten Manne wie T. nur stets erneuter Anlaß sein, seinen Zuhörern den Weg der Umkehr aus der Welt und ihren Verirrungen und der Einkehr in die Stille des inneren Heiligthums, da das ewige Wort zu der Seele redet, mit heiligem Ernste aber auch mit der ihm eignenden Liebe immer wieder ans Herz zu legen. Das Blatt eines rigorosen Kritikers über Tauler’s Verhalten in dessen letzten Zeiten führt sechs Ursachen an, um deren willen er noch sechs Tage nach seinem Tode im Fegfeuer habe büßen müssen. Sie sind ebenso viele Zeugnisse dafür, daß T. von [460] dem Geiste einer falschen Gesetzlichkeit sich frei gemacht hatte, wie solches auch seine Predigten zur Genüge bekunden.

T. starb zu Straßburg, wohin er von Köln wieder zurückgekehrt war. Ob diese Rückkehr längere oder kürzere Zeit vor seinem Tode stattfand, ist unbekannt. Als ihn hier die Krankheit befiel, die nach fünf Monaten mit seinem Tode endete, sandte er, die Nähe seines Abschieds ahnend, nach dem Freunde, der einen so entscheidenden Einfluß auf sein Leben geübt hatte. Er übergab ihm die Aufzeichnungen, welche er sich hierüber gemacht hatte und bat ihn ein Büchlein daraus zu machen, doch seinen Namen zu verschweigen und dafür zu sorgen, daß niemand merke, daß er es sei, dem Gott solche Gnade erwiesen habe. Der Gottesfreund bat nur, die Predigten beifügen zu dürfen, die er aus des Meisters Munde aufgezeichnet hatte. So ist das oben besprochene Buch von dem Meister der hl. Schrift und seiner Bekehrung entstanden. Das Jahr seiner Begegnung mit dem Gottesfreunde sowie der Umstände bei seinem Tode sind hier absichtlich geändert, um die Aufmerksamkeit von T. abzulenken. Er starb nicht, wie man nach dieser Schrift schließen müßte, im J. 1351 oder 1357, sondern am 16. Juni 1361, und nicht im Kloster, sondern im Gartenhause seiner Schwester, wohin er sich der besseren Pflege wegen hatte bringen lassen. Auch diesen Punkt hat ihm der oben erwähnte Eiferer zum Vorwurf gemacht.

Tauler’s Mystik hat die speculativen Ideen Eckhart’s über Gott und sein Verhältniß zur Welt zur Grundlage; aber er bewegt sich nicht wie sein Meister mit Vorliebe auf jenen speculativen Höhen, sondern berührt die dahingehenden Fragen nur so weit, als sie dazu dienen, seine Lehre vom Seelengrunde, als der Stätte, wo die Vereinigung des Menschen mit Gott sich vollzieht, ins Licht zu setzen. T. unterscheidet im Menschen den geschaffenen und den ungeschaffenen Grund seines Wesens oder das geschaffene und ungeschaffene Bild. Das geschöpfliche göttliche Bild liegt ihm nicht mit Augustin in den drei höheren Kräften der Seele, Vernunft, Wille und Gedächtniß, oder mit Thomas Aquin in der Thätigkeit dieser Kräfte, sondern in dem Wesen des Menschen, aus welchem die genannten und alle übrigen Kräfte des Menschen hervorgehen und in welchem sie alle in ungeschiedener Einheit ruhen. Es ist die geschöpfliche und zugleich schöpferische Idee des Menschen, die im Gemüthe als der Einheit aller Kräfte ruht, und die er auch als den „Funken“ bezeichnet. Dieses geschaffene Bild des Menschen ist es, in welchem Gott selbst nach Wesen und Personen jedem Menschen ohne Unterschied einwohnt als das unerschaffene Bild seiner selbst, und es ist das Ziel der göttlichen Heilsgedanken, den durch die Sünde geknechteten Menschen frei zu machen, damit er mit allen seinen Kräften zunächst seinem erschaffenen Bilde wieder gleichartig werde, um dann von dem diesem Bilde immanenten ewigen Bilde überformt zu werden, d. i. in den ewigen Proceß der göttlichen Selbstoffenbarung hineingezogen und vergottet zu werden, damit so Gott in ihm seinen Sohn ebenso gebäre, wie er ihn ewiglich in sich selbst gebiert und so der Mensch durch die Gnade werde, was Christus von Natur ist, ein Kind Gottes.

Wie kommt nun aber der Mensch zunächst wieder zu sich selbst, d. i. zur Harmonie mit seinem geschaffenen Grunde, so daß er von dem ewigen Grunde in ihm, von Gott selbst überformt werden und Gottes Geburt in ihm geschehen kann? Von sich selbst kann er das nicht, denn die Sünde, der Eigenwille, hat den Menschen mit allen seinen Kräften völlig geknechtet, so daß zwischen ihm und seinem eigenen Bilde eine für ihn unübersteigliche Kluft besteht. Die Sünde beschließt den Menschen unter den Bann des göttlichen Zornes. Aber diesen Bann hat Christus am Charfreitag gebrochen. Durch das Blut des menschgewordenen Gottessohnes ist die Schuld der Menschheit gesühnt.

[461] Die Menschen dieser Sühne theilhaftig zu machen, geht nun Gott aus und sucht sie zu sich zu ziehen. Dies thut er durch die Gnade, die dem Menschen das Wollen und Vollbringen gibt. Den Willen des Menschen zu befreien, ist schon die vorlaufende Gnade wirksam. Gott wirkt auf den Menschen ein durch das Bild im Gemüthe, durch diese natürliche Offenbarung Gottes in uns, die sich in Vernunft und Gewissen reflectirt und später, wenn das äußere Wort von dem Heil in Christus an ihn gelangt, dem letzteren Zeugniß gibt, daß es Wahrheit sei. T. hält dafür, daß durch diese Einwirkung des göttlichen Bildes einzelne fromme Heiden schon bis zur Erkenntniß des dreieinigen Gottes gelangt seien. Aber das äußere Wort muß zu allen vorbereitenden Gnadenzügen hinzukommen, wenn wir Christum finden sollen. Der uns ziehenden Gnade gegenüber können wir wenigstens das thun, daß wir uns ziehen lassen; Gott macht den Menschen nicht „rechtfertig“, ohne seinen freien Willen. Er macht ihn zuerst fähig, zu wirken, auf daß er ihn hernach lehre, selbst zu wirken.

Wo nun der Mensch sich also bereiten lässet, da ergreift er die erlösende, sündenvergebende Gnade, die Gott beschlossen hat in der Kraft seines Wortes. Auch bei den Sacramenten ist es die Kraft seines Wortes, in welchem die Gnade beschlossen liegt. Das Blut Christi kann aber nur die reinigen, welche bereit sind, von der Welt, d. i. Allem, was nicht Gott ist, sich abzukehren und sich dem lauteren Gut, das Gott ist, zuzukehren. Das erstere ist die Buße, das letztere der Glaube, durch welchen der Mensch mit einem ganzen Vertrauen in Gott versinkt. Und wenn nun der Mensch nicht auf seine Werke seine Hoffnung setzt, sondern allein der Verheißung Gottes glaubt, so hält ihm Gott wahrhaftig, was er in der Absolution ihm zusagt, und in dieser Sicherheit des Vertrauens kommt der Mensch zum Frieden und zur Ruhe seines Gewissens. Und diese Vergebung fällt zusammen mit der Zurechnung des Verdienstes Christi. „Gehet ein“, ruft er seinen Zuhörern zu, „durch die sichere Pforte in das ewige Leben; opfert sein unschuldiges Leiden für euer verschuldetes Leiden dem himmlischen Vater, seine unschuldigen Gedanken für euere schuldigen, und also alles sein Thun“; und zwar rechtfertigt der bußfertige Glaube nicht, sofern er selbst „eine creatürliche Bildung“, d. i. eine menschliche Leistung, ist, „denn wie viel du Leid und Reue um deinen eigenen Schaden hast, das gibt noch erwirbt dir keine Gnade. Die Würdigkeit kommt ja nimmer von menschlichen Werken und Verdienen, sondern von lauter Gnade und Verdienst unseres Herrn Jesu Christi und fließt zumal von Gott an uns“.

Dieser bußfertige Glaube, der die Barmherzigkeit Gottes in Christo erfährt, entzündet dann in der Seele die Flamme der Liebe, die sich mit Dankbarkeit zu Gott wendet und ihm ewig dienen will. Die Größe der weiteren Gnadenmittheilungen Gottes aber ist bedingt durch die größere oder geringere Reinheit des Grundes, d. i. des Gemüthes, in den sich Gott ergießen soll. Wenn die Luft lauter und rein ist, so muß sich die Sonne ergießen und mag sich nicht enthalten. Und Gott ist bereit, sich uns in der höchsten Weise zu geben; denn wir sind zu unmäßig großen Dingen geschaffen und geladen.

Hier wird nun zu lehrhafter Veranschaulichung des Weges zur höchsten Vollkommenheit die T. sehr geläufige Auffassung von der Dreitheilung des Menschen in den auswendigen, thierischen, sinnlichen, in den inwendigen, vernünftigen Menschen und in den obersten Theil der Seele, das Gemüth, verwendet. Wie wir sahen, ist das Gemüth der Mensch in seiner Einheit die Quelle, der substanzielle Einheitsgrund, in welchem das Bild, die Idee des Menschen, der Funke, schöpferisch wirksam ist, so daß aus dem Gemüthe alle Kräfte des Menschen fließen und der Mensch eben das wird, was er seiner Idee nach sein soll. Da gilt es nun, zunächst unser sinnliches Leben nach Christi [462] Vorbild unter das Gesetz der Selbstverleugnung und Liebe zu stellen und dann weiter dahin fortzuschreiten, daß wir dasselbe auch mit unserem inwendigen, vernünftigen Menschen thun, um dann von hier aus uns noch höher zu einem „unbildlichen Wandel“ zu erheben, indem wir auf alle Bilder und Formen, auf alles eigene Denken und Wollen und selbst auf die Lust an den göttlichen Tröstungen verzichten (nicht in denselben mit Genügen ruhen), sondern sterbend in unser Nichts sinken und so dem innern geschaffenen Bilde gleichförmig werden. Von diesem Sterben sagt T.: „Soll der Mensch in Wahrheit mit Gott eins werden, so müssen alle Kräfte auch des inwendigen Menschen sterben und schweigen. Der Wille muß selbst des Guten und alles Willens entbildet und willenlos werden; der Verstand oder die Vernunft des Erkennens der Wahrheit, das Gedächtniß und alle Kräfte ihres eigenen Vorwurfs oder Gegenwurfs (Objects)“. „Es ist ein harter Tod, wenn alle Lichter erloschen sind und der reinen (der auf ihre bloße Wesenheit zurückgesunkenen) Seele wunderbar viele Lichter einleuchten in ihre Kräfte, wenn sie aber auch allen diesen Lichtern und lustlichen empfindlichen Gaben sterben muß, weil sie noch nicht Gott allein sind. Es ist das alles noch ein Theil und nicht das Eine“. Wo solche äußerste „Vernichtigung“ und Passivität ist, da kann sich nun Gott in höchster Weise geben.

Aber wie der Weg des Entwerdens ein allmählicher ist, in demselben Maaße ist es auch der des neuen Lebens. Das aus dem Glauben entsprungene Leben ist ein Leben in der Liebe. Der Mensch ist für die Liebe geschaffen. Sie ist das seinem Wesen zu Grunde liegende Gesetz. Das Wesen der Liebe ist die völlige Entäußerung und Hingabe an den Geliebten, an Gott. Sie ist hervorgerufen durch das Einleuchten des Geliebten, sie ist ein Ergriffensein von der Liebe Gottes, das nur in der völligen Selbsthingabe an den Geliebten Ruhe findet. Die wahre Liebe ist die interesselose Liebe, die Gott liebt, nicht um Glorie, Ehre und Lohn zu überkommen, sondern lediglich um Gottes willen. Die Liebe ist Anfang, Mittel und Ende aller Tugend. Tugend ist die bleibende sittliche Richtung der Kräfte, die durch Uebung erlangt wird. „Nicht erwarte, daß dir Gott die Tugenden eingieße ohne die Arbeit“. Durch die Selbstverleugnung in allen Kräften verliert dann die Tugend ihren Namen und ist Wesen geworden, d. h. die einzelnen Tugenden kommen dann dem Menschen als solche nicht mehr zum Bewußtsein, sie sind ihm zur andern Natur, die Tugenden zur Tugend überhaupt und diese zur wesentlichen Richtung und Bethätigung seines Lebens geworden. Bei solcher Auffassung kann es denn auch nicht befremden, wenn T. den verschiedenen Mönchsregeln und Formen für ein heiliges Leben nur einen geringen Werth beilegt. Es erscheint ihm völlig einerlei, in welchem Stande oder Berufe man stehet, ob geistlich oder weltlich, Mönch oder nicht: in allen Werken gilt es, auf das Werk als Werk zu verzichten oder vielmehr in jedem, auch dem niedersten und gewöhnlichsten, nur Ein Werk zu wirken, sich in völliger Selbstverleugnung an den Willen Gottes hinzugeben. So führt T., der Grundrichtung der Mystik gemäß, das beziehungslose Nebeneinander in den scholastischen Tugendsystemen und die äußerliche Werthmessung der einzelnen Tugendwerke in eine lebensvolle Einheit zurück. Dabei bleiben für T. Buße und Glaube überall die Grundbedingungen für die Reinigung und Heiligung des menschlichen Lebens und für seinen Rückfluß in das göttliche Leben.

Wenn nun der Mensch seinem geschaffenen Grunde gleichartig geworden, mit seinem Innigsten sich einträgt oder einschmilzt in Gottes Innigstes, so wird er da wiedergebildet und erneut. Denn „der Abgrund, der geschaffen ist, führt in den ungeschaffenen Abgrund, und die zwei Abgründe werden ein einiges Eins, ein lauteres göttliches Wesen“. Und wie der Vater aus dem Wesen von Ewigkeit her den Sohn gebiert, so gebiert er nun in dem geschaffenen Wesen des [463] Menschen, das mit dem göttlichen Wesen geeint ist, gleichfalls den Sohn, das ewige Wort. Denn „wie der Sohn aus dem Vater geboren wird und wieder in den Vater fließt, also wird dieser Mensch in dem Sohn von dem Vater geboren und fließt wieder in den Vater mit dem Sohn und wird eines mit ihm, und da gießt sich der heilige Geist in einer unaussprechlichen Liebe und Lust aus und durchgießt und durchfließt den Grund in dem Menschen mit seinen minniglichen Gaben“. Diese Geburt Gottes in der Seele fällt nicht immer in unsere Empfindung. Wol aber kann man an den Wirkungen wahrnehmen, ob sie geschehen sei. Denn wie der Blitz alles, was er berührt, zu sich kehrt, so sind dann alle unsere Gedanken auf Gott gerichtet, suchen und meinen nur ihn in allen Dingen. Wird auch der Blick in diesen inneren Grund und in seine innere Herrlichkeit dem Christen nicht immer aufgethan; so können doch bei fortgesetztem Streben nach Heiligung „die Gott vermittelnden Bilder und Vorstellungen so dünne gleichsam werden, daß man die göttlichen Sonnenstrahlen und Einblicke gar nahe hat ohne Unterlaß, so nahe und schnell, als man sich mit Vernunft und Ernst hinzukehren mag“. Aber nur wenige erreichen hienieden die höchste Stufe, da ihnen ein Blick der obersten Ueberformung wird. Von der Geburt Gottes aber in der Seele wird der Mensch an Gnaden so reich, „daß von diesem Reichthum alle niedersten, obersten und mittelsten Kräfte gestärkt werden, und wer nur oft einkehrte in seinen inwendigen Grund und da heimlich wäre, dem würde mancher edle Blick in den inwendigen Grund, wo ihm viel klarer und offenbarer wird, was Gott ist, denn seinen Augen die materliche Sonne“.

Man hat Tauler’s Lehre von dem unerschaffenen Grunde, der im Innersten aller Menschen liegt und der Gott selbst ist nach Wesen und Natur, im pantheistischen Sinne verstanden, als identificire er den Menschen in dem, was seinen Begriff ausmacht, mit Gott selbst. Aber mit Unrecht. Denn dieser unerschaffene Grund ist dem Menschen wol immanent, fällt aber nicht mit dem Ich des Menschen zusammen, sondern ist ihm nur zugeordnet, und von dem freien Entschlusse des Menschen hängt es ab, ob er sich von demselben bestimmen und zuletzt überformen lassen will. Die Nichtidentität desselben mit dem Wesen und Begriff des Menschen ergibt sich schon daraus, daß für die beharrlich Widerstrebenden im letzten Gerichte die Scheidung desselben von der menschlichen Seele stattfinden wird, worin dann eben dessen ewige Pein besteht. Auch damit, daß T. zuweilen in einer Weise von dem Einswerden der Frommen mit Gott spricht, die alle Grenze zuletzt aufzuheben scheint, ist er fern davon, pantheistisch lehren zu wollen. Denn wenn er von dem Einswerden des geschaffenen Grundes mit dem ungeschaffenen sagt, daß die zwei Abgründe ein einiges Eins werden, ein lauteres, göttliches Wesen, da sich der Geist in dem Geist Gottes verloren habe, in dem grundlosen Meer ertrunken sei, und ähnlich anderwärts: so versteht er das doch nicht als völlige Absorption, sondern immer mit dem Vorbehalte, daß der geschaffene Grund „dabei seine Geschaffenheit in der Wesentlichkeit behalte und auch in der Vereinigung“ (Pr. 119). Ferner will T. die „Vernichtigung“ des Menschen gegenüber der Gottheit nur als einen Tod angesehen wissen, dem eine Wiedererstehung des neuen Menschen mit Erhöhung aller seiner Kräfte folgen soll. Gleichwol ist der Gegensatz, in welchen T. die geschöpfliche Form des Denkens, Wollens und Empfindens gegen das Göttliche stellt, zweifellos ein zu schroffer und ausschließender, so daß dann auch die Wiedergeburt aus der Vernichtigung und dem Tode für den Menschen als solchen zu wenig übrig zu lassen scheint; denn es erscheint dann allzusehr, was der neue Mensch thut, nicht sowol als dessen eigenes Denken, Wollen und Thun, als vielmehr als das nur in den menschlichen Formen sich vollziehende göttliche Thun. „Aus der Aeußerlichkeit und Veräußerung in die Innerlichkeit, von der Vielheit in die Einheit, von den [464] Tugenden auf die Tugend, auf die Liebe und deren Wurzel, auf den bußfertigen Glauben, der im Untergang alles Eigenwillens, Denkens und Thuns mit steter Zuversicht sich an das im äußeren Wort sich darbietende Erbarmen Gottes hingibt und sich in Christo weiter leiten läßt zu dem inneren Wort“, dem ungeschaffenen Grunde, in welchem auch wir zu Söhnen Gottes aus Gnaden geboren werden – das ist der Weg, den uns T. in seinen Predigten führt. Es ist ein reformatorischer Geist, der von seinem Predigtstuhl aus durch die Kirche weht, der von falscher Gesetzlichkeit durch Vertrauen allein auf die Gnade zu evangelischer Freiheit und zum Frieden führen will.

Wenn Christine Ebner von ihm sagt, er habe mit seiner feurigen Zunge die Erde angezündet, so ist das nur dann, aber dann auch im vollsten Sinne wahr, wenn man sich T. nicht als einen Prediger von feuriger, mit sich fortreißender, durch Geistesblitze zündender Beredsamkeit denkt, sondern als einen Prediger, der mit der ruhigen Flamme der lautersten Liebe, die in seinem eigenen Herzen brennt, auch die Herzen der Zuhörer zu erwärmen und zu entzünden weiß. Das ist es, worin vor allem die Kraft der Tauler’schen Beredsamkeit liegt. Aber zu dieser Macht, welche der Predigt Tauler’s sein hoher, mit liebevoller Milde gepaarter Ernst verleiht, tritt als zweites Moment die Einheit und Geschlossenheit des Gedankenkreises, in welchem er sich bewegt, eines Gedankenkreises, der die Tiefen der menschlichen Seele mit ihren innersten Regungen und Bedürfnissen und die höchsten Fragen des Geistes zugleich umfaßt und zusammenschließt, und endlich seine hervorragende Predigergabe, die sich an das Fassungsvermögen der Zuhörer anzuschließen und durch Klarheit, Lebhaftigkeit der Anschauung, schlagende Kraft des Ausdrucks und volksthümliche Redeweise das Ohr der Zuhörer zu fesseln weiß. So ist es begreiflich, daß Tauler’s Predigten nicht nur in unzähligen Abschriften in den beiden letzten Jahrhunderten des Mittelalters verbreitet, sondern auch bis auf die neuere Zeit wiederholt gedruckt und in fremde Sprachen übersetzt worden sind. In der katholischen Kirche setzte sich die Verschiedenheit des Urtheils, dem T. schon bei seinen Lebzeiten unterlag, auch später noch fort. Während ihn Eck als Häretiker verdächtigte, suchte der Benedictiner Blosius gegen ihn seine Rechtgläubigkeit zu vertheidigen und noch immer wird T. von den Freunden der mystischen Richtung in der katholischen Kirche hohe Verehrung gezollt; in der protestantischen Kirche hat Luther’s rühmendes Urtheil über T. ihm weithin Eingang verschafft; Flacius setzte ihn um seiner Rechtfertigungslehre willen in seinem Catalogus testium veritatis unter die Zeugen der Wahrheit vor der Reformation. Johann Arnd und nachher Spener haben den Ausgaben seiner Predigten ihr empfehlendes Vorwort vorausgeschickt.

Die Predigten Tauler’s wurden zum ersten Mal in Leipzig gedruckt: „Sermon des groß gelarten in gnaden erlauchten doctoris J. Tauleri, prediger ordens etc.“ (1498, 2°). Unter den nächstfolgenden älteren Drucken haben nur die beiden unter sich gleichlautenden Baseler Ausgaben von 1521 und 1522, 2°, sowie die Kölner Ausgabe von Peter v. Nymwegen, 1543, 2°, besonderen Werth. Die ersteren geben zwar nur den Leipziger Text in etwas verkürzter Gestalt wieder; aber sie bringen außer einer Anzahl Predigten anderer Mystiker, namentlich Eckhart’s, auch noch verschiedene Predigten aus Tauler’s früherer Zeit, und die Kölner Ausgabe benutzt außer dem Baseler Druck andere handschriftliche Quellen, als sie dem Leipziger Text zu Grunde liegen. Surius hat die Kölner Ausgabe ins Lateinische übersetzt oder vielmehr paraphrasirt, Köln 1548, 2°, und diese Uebersetzung liegt dann wieder den Uebersetzungen ins Französische, Spanische und Italienische, ja selbst der von Spener bevorworteten deutschen Ausgabe von 1703 zu Grunde. Ein Verzeichniß der verschiedenen Drucke und Uebersetzungen findet sich in der Einleitung zu der Ausgabe, welche 1826 zu Frankfurt a. M. erschien. Eine 2. Auflage dieser Ausgabe mit Weglassung jenes [465] Verzeichnisses ist von J. Hamberger besorgt worden, 1864, 3 Theile, in welcher der Text der ersten durch Benutzung einer Copie der ältesten Straßburger Handschriften wesentlich verbessert ist. Von minderem Werthe ist die Ausgabe von Cuntze u. Biesenthal, Berl. 1841, 3 Thle. Tauler’s Sendschreiben an die Christenheit v. J. 1356 findet sich bei Jundt, Les amis de Dieu p. 403 ff. Das Buch v. d. Bekehrung des Meisters ist nach der Copie einer Straßb. Handschr. v. J. 1389 u. d. T.: Nikolaus v. Basel, Bericht von der Bekehrung Tauler’s, herausgeg. v. C. Schmidt, Straßb. 1875. Die Kölner Ausgabe v. 1543 enthält noch Sendbriefe u. Gedichte Tauler’s; von den ersteren sind nur wenige, von den letzteren wol keins von ihm. Fälschlich zugeschrieben wird T. ferner das Buch von der Nachfolge des armen Lebens Jesu, von P. Denifle mit dem Nachweis seiner Unechtheit u. d. T.: Das Buch v. geistl. Armuth herausgegeben, München 1877. Auch die v. Surius herausgegebenen Exercitia super vita et passione Jesu Christi u. die Divinae institutiones, auch u. d. T. Medulla animae, rühren nicht von T. her. Letztere sind eine Zusammenstellung von Stücken verschiedener Mystiker. Eine kritische Ausgabe der Taulerpredigten auf Grundlage der ältesten Handschriften fehlt noch zur Zeit.

Schriften über T.: Aus der älteren Litteratur über T. heben wir hier die Artikel in Quétif et Echard, Scriptores ord. praedicatorum T. I, Lut. Par. 1719 u. P. Bayle, Dictionnaire hist. et crit. T. IV, ferner Oberlin’s Schrift De Tauleri dictione vernacula et mystica, Arg. 1786 hervor. Die Bahn zu den neueren Taulerforschungen brach C. Schmidt mit seiner Monographie: Joh. Tauler von Straßburg, Hamb. 1841. Vgl. auch dessen Artikel über T. in der 1. Aufl. von Herzog’s Realencyklopädie. Weiter gehören hieher: Denifle, Tauler’s Bekehrung in: Quellen u. Forsch. zur Sprach- u. Culturgesch. XXXVI, Straßb. 1879; Jundt, Les amis de Dieu au 14. siècle, Par. 1879 und Denifle’s Antikritik gegen Jundt, Münster 1879. Dann Denifle’s Abhandlung: Die Dichtungen des Gottesfreundes v. Oberland bezw. die Dichtungen R. Merswin’s in: Zeitschr. f. d. Alterth. Neue Folge Bd. XII u. XIII, 1880 u. 1881. Endlich des Unterzeichneten Vorarbeiten zu einer Gesch. d. deutsch. Myst. im 13. u. 14. Jahrh. in Zeitschr. f. d. hist. Theol. 1869, S. 109 ff., dann dessen Artikel über T. in der 2. Auflage von Herzog’s Realencyklopädie u. ebendesselben Gesch. d. deutsch. Mystik im Mittelalter, III. Theil, I. Buch, Leipz. 1893.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hattte