ADB:Steiner, Johann Wilhelm Christian
[704] Darmstadt, wohin ein Jahr später seine Eltern ihren Wohnsitz verlegten, und besuchte das dortige Gymnasium, von welchem er 1804 mit dem Zeugniß der Reife für die Universität entlassen wurde. 1804–1807 studirte er in Gießen Jurisprudenz, wo namentlich der damalige Privatdocent, nachherige darmstädtische Staatsminister Dr. Jaup, großen Einfluß auf ihn ausübte. Er widmete sich, nachdem er 1807 und 1808 seine Examina absolvirt hatte, in der That zunächst der juristischen Praxis als Advocat und später Notar am Hofgerichte zu Darmstadt und ließ sich dann als Advocat in Seligenstadt nieder. Im J. 1813 meldete er sich als Freiwilliger zum Kampfe und wurde als Adjutant bei der neugebildeten Landwehr verwendet, durfte aber dabei seine Advocaturgeschäfte weiter führen. Er wurde später Chef des 2. Bataillons vom 12. Regiment der Landwehr (1816) und Interimscommandeur des Schützencorps dieses Regiments (1819) und erzielte dabei als Organisator so tüchtige Erfolge, daß sein Bataillon zu den besten der Landwehr gerechnet wurde. Nachdem die Landwehr 1819 wieder aufgehoben war, widmete sich St. wieder ausschließlich seinen Advocaturgeschäften.
Steiner: Johann Wilhelm Christian St., hessen-darmstädtischer Topograph und Historiker, war am 15. Februar 1785 zu Roßdorf bei Darmstadt geboren. Nachdem er erst in seinem Geburtsorte, dann in Reinheim von dem dortigen Pfarrer unterrichtet worden war, kam er im 10. Lebensjahre nachAber gerade in der Zeit, in welcher er das Landwehrbataillon in Seligenstadt befehligt hatte, war die schon in der Gymnasialzeit durch seinen berühmten Director Wenck geweckte Theilnahme für die Beschäftigung mit der vaterländischen Geschichte von neuem und reger denn je in ihm erwacht. Ihr widmete er fortan die Muße, die ihm seine juristischen Berufspflichten übrig ließen. Dies war auch der Grund, weshalb er die ihm eröffnete Aussicht auf einen richterlichen Posten ausschlug und es vorzog, bei der freien Advocatur zu bleiben. Er hegte dabei die von dem Staatsminister v. Grolmann unterstützte Hoffnung, später einmal eine Anstellung im Staatsdienste zu erlangen, die seinen historischen Neigungen besser entspräche als die eines Juristen. Als nächste Aufgabe hatte er sich, durch seinen Aufenthaltsort veranlaßt, eine Geschichte der alten Abtei Seligenstadt und eine Erforschung der Territorialgeschichte des Maingebiets von Obernburg bis Offenbach gestellt, für welche er in Seligenstadt und Umgegend eine Menge bisher unbenutzter Archivalien vorfand. 1820 erschien seine „Geschichte der Stadt und Abtei Seligenstadt“, die eine sehr freundliche Aufnahme fand; in schneller Folge entstanden dann weitere Arbeiten zur Geschichte der einzelnen Gaue und eine „Geschichte des Freigerichts Alzenau“ sowie „Forschungen zur Geschichte des Maingebiets und des Spessarts unter den Römern“, für die namentlich die aus der Römerzeit erhaltenen Denkmäler, freilich nicht immer in zutreffender und methodisch richtiger Weise, verwerthet wurden. Immerhin war er der erste, der zu einer systematischen Erforschung des limes Romanus, den er im Spessart im Jahre 1834 nach verschiedenen Richtungen untersuchte, den Anstoß gab. Er erregte mit diesen Forschungen nicht nur die Anerkennung des Großherzogs Ludwig I. von Hessen, der namentlich seine Geschichte des Bachgaues mehrfach auch pecuniär unterstützte und ihm nach dem Erscheinen des 1. Bandes den Titel „Hofrath“ verlieh (1825), sondern auch die des Königs Ludwig I. von Baiern. Fast gleichzeitig veröffentlichte er eine von der Münchener Akademie angeregte und preisgekrönte Arbeit über das altdeutsche und altbaierische Gerichtswesen in Bezug auf die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens (Aschaffenburg 1824) und eine Reihe kleiner Arbeiten, darunter eine Biographie des Landgrafen Georg I. von Hessen-Darmstadt.
Um diese rege litterarische Thätigkeit auf dem Gebiete der hessischen Territorialgeschichte wirksam zu unterstützen zugleich und zu belohnen, ernannte ihn Großherzog Ludwig II. am 1. December 1831 unter Beibehaltung seiner Advocatur zum Historiographen des großherzoglichen Hauses und Landes, in welcher Stellung er einer der Nachfolger seines berühmten und verehrten Lehrers Wenck [705] wurde. Er erhielt dadurch neben einer ziemlich hohen Rangstellung vor allem völlig freien Zutritt zum Landesarchiv und der Hofbibliothek, die er mit großem Eifer für seine ferneren Forschungen benutzte. Vor allem aber schuf er für diese Studien der Territorialgeschichte mit Unterstützung des Großherzogs, der freudig auf seinen Plan einging, einen Mittelpunkt in dem historischen Verein für das Großherzogthum Hessen, dessen constituirende Versammlung ihn zum ersten Secretär und zum Herausgeber der von dem Verein herauszugebenden Zeitschrift ernannte. Er hat dieselbe, die unter dem Titel „Archiv für hessische Geschichte und Alterthumskunde“ erschien und noch erscheint, von der Gründung des Vereins bis zum Jahre 1844 redigirt und als eifriger Mitarbeiter mit einer großen Reihe von Beiträgen versehen, überhaupt aber bei der Leitung des Vereins eine hervorragende organisatorische Begabung an den Tag gelegt. Um sich diesen seinen historischen Arbeiten ganz und ungestört widmen zu können, erbat und erhielt St., welcher schon 1825 seinen Wohnsitz von Seligenstadt nach Kleinkrotzenburg verlegt hatte, 1843 seine Entlassung aus dem Advocaturdienste. In den nächsten Jahren wandte er sich dann namentlich dem Studium der neuesten Geschichte Hessens zu, dem die Biographien der Großherzöge Ludwig I. und Ludwig II. entsprungen, für die er die Schätze des Archivs und der Hofbibliothek in umfassender, wenn auch nicht erschöpfender Weise verwerthete. Neben diesen biographischen Versuchen liefen aber immer noch weiter localgeschichtliche Forschungen her, so eine „Geschichte des Patrimonialgerichts Londorf“ (1842), „Forschungen über das System der römischen Befestigungen im Gebiete von Darmstadt und im Neckargebiet“ u. a. Die letzteren Arbeiten, die zum großen Theil auf den Resten der alten Römerbauten beruhten, führten den Verfasser zu einer sehr umfassenden Sammelarbeit, der Herstellung eines „Codex der römischen Inschriften an Rhein und Donau“, welcher in 6 Theilen von 1851–1864 erschienen und ein Zeugniß erstaunlichen Forscherfleißes ist. Zwar erfuhr derselbe, da es St. methodisch an manchen Vorkenntnissen gebrach, neben vieler und berechtigter Anerkennung auch scharfe Angriffe, und in der That enthält er, wie das bei einer derartigen umfassenden Arbeit kaum zu vermeiden ist, eine nicht unbedeutende Zahl von Mißgriffen, falschen Deutungen und Ergänzungen in dem sehr umfangreichen Commentar zu dem eigentlichen Text der Inschriften, allein als Materialsammlung kommt ihm unstreitig ein hervorragender Werth zu. Die mannigfachen Verdienste, die sich der Verfasser durch diese und zahlreiche andere Arbeiten um die Erforschung der vaterländischen, namentlich der großherzoglich hessischen Geschichte erworben hat, haben ihm, namentlich bei Gelegenheit seines 50jährigen und 60jährigen Amtsjubiläums (1858 und 1868), von den verschiedensten Seiten, von deutschen Fürsten, Universitäten und gelehrten Gesellschaften zahlreiche Anerkennungen eingetragen. Die Universität Gießen ernannte ihn schon 1832 zum juristischen, bei seinem fünfzigjährigen Amtsjubiläum (1858) zum philosophischen Doctor; seit 1832 war er correspondirendes, seit 1856 wirkliches Mitglied der Münchener Akademie der Wissenschaften. Er starb am 29. März 1870.
- Vgl. Justi, Fortsetzung zu Strieder’s hessischer Gelehrtengeschichte, S. 644–47, zahlreiche Aufsätze im Archiv für hessische Geschichte und Alterthumskunde, namentlich aber die zu seinem 60jährigen Amtsjubiläum erschienene Schrift „Fünf historische Aufsätze zur Feier eines 60jährigen Staatsdienst-Jubiläums zu Darmstadt am 28. Juli 1868 von Hofrath Dr. jur. et phil. Steiner.“ Darmstadt 1868, wo S. 1–45 eine eingehende Biographie Steiner’s, S. 74–76 eine Bibliographie seiner Schriften gegeben wird.