ADB:Schulthess, Heinrich
Leop. Ranke’s zu betheiligen. Ueber Paris nach Zürich zurückgekehrt, nachdem er sich eine gediegene und umfassende Bildung erworben, wurden seine Zukunftspläne sofort alterirt. Um eines zwingenden Familieninteresses willen mußte er für einige Jahre in den Canton Graubünden übersiedeln, um dort die Verwaltung eines der Familie angefallenen Gutes zu übernehmen. Dort befand er sich noch im Frühjahr 1842, als die heftigen politischen Kämpfe, welche damals seine Vaterstadt und seinen Heimathskanton bewegten, seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Durch Geburt sozusagen der conservativen Partei angehörig, verschloß sich der politisch scharfblickende junge Mann doch nicht der Einsicht, daß dieselbe einer gründlichen Erneuerung und der Reinigung von absolutistischen Elementen bedurfte, wollte sie dem Ansturme der Radicalen widerstehen. Er verfolgte daher mit höchstem Interesse die politische Action des damaligen geistigen Hauptes der Zürcher Regierung und conservativen Partei, des ihm befreundeten Staatsrathes J. C. Bluntschli und der mit demselben enge verbundenen Brüder Friedrich und Theodor Rohmer, welche durch eine Verbindung der wahrhaft conservativen mit den wahrhaft liberalen Elementen und durch ein derselben entsprechendes positives Programm die Reform der seitherigen conservativen Partei erstrebten. Bei [695] einem Besuche in Zürich wurde er mit Friedrich Rohmer und dessen Bruder persönlich bekannt. Diese Begegnung war für sein späteres Leben entscheidend. Bis zu ihrem Tode (1857) blieb er denselben ein treuer aufopfernder Freund. Die Rohmer’schen Ideen in Politik, Philosophie und Religion blieben bis zu seinem Ende der Leitstern seines Lebens. Aus den Maiwahlen 1842 war Bluntschli, die staatsmännische Seele der Regierung wie der neubegründeten „liberal-conservativen“ Partei, zwar als Sieger, aber doch nur mit einer schwachen Mehrheit im Großen Rathe hervorgegangen. Er war genöthigt gleichzeitig Front gegen die Ultramontanen wie gegen die durch die jesuitischen Bestrebungen derselben (Berufung der Jesuiten in den katholischen Kantonen) stets anschwellende radicale Bewegung zu machen. Heinrich S. unterstützte ihn hierin auf das nachdrücklichste, indem er 1844 die publicistische Vertretung der liberal-conservativen Partei als Chefredacteur der „Eidgenössischen Zeitung“ übernahm. Durch die Festigkeit seines Charakters, die ethische Kraft und die politische Klarheit seiner Leitartikel wurde er eine kräftige Stütze der Partei. Indessen scheiterten Bluntschli’s und seine vermittelnden Bestrebungen an den sich fortgesetzt steigernden Gegensätzen. Die Wahlen von 1846 reducirten die Partei auf eine Minorität von vierzig Stimmen. Dennoch wurde noch eine Zeit lang tapfer fortgekämpft. Allein der Sonderbundskrieg war nicht mehr aufzuhalten und damit allen vermittelnden Bestrebungen der Boden entzogen. Bluntschli folgte 1848 einem Rufe nach München, S. setzte noch eine Zeit lang seine publicistische Thätigkeit fort, begann aber ebenfalls seine Uebersiedlung nach Deutschland ins Auge zu fassen. Erst 1859 wurde ihm diese ermöglicht. Er ließ sich in München nieder und trat zunächst als Mitglied in die Redaction der von dem ihm bei öfteren Besuchen in Deutschland befreundet gewordenen Dr. Karl Brater begründeten und geleiteten „Süddeutschen Zeitung“ ein, „welche damals in täglichem Kampfe den Boden bereiten half für die Einigung Deutschlands unter Preußens Führung“. Auch an dem Staatswörterbuch von Bluntschli u. Brater betheiligte er sich durch mehrere gediegene Arbeiten. Inzwischen hatte er auf Anregung seines Freundes Ernst Rohmer, damaligen Inhabers der C. H. Beckschen Buchhandlung in Nördlingen, die Herausgabe eines „Europäischen Geschichtskalenders“ ins Auge gefaßt. Der Gedanke, mit der politischen Zeitbewegung, insbesondere mit derjenigen seines nunmehrigen, von ihm von jeher geliebten Adoptivvaterlandes Deutschland als Chronist in steter Berührung zu bleiben, entsprach durchaus seinen Neigungen, denn er hatte ebenso großes Interesse als Verständniß für hohe Politik. Ein neuer Geist regte sich nach langer schwerer Reactionszeit in Deutschland, für welches er mit so vielen Gleichgesinnten sehnlichst den endlichen Sieg der nationalen Bestrebungen erhoffte. Nach seiner ganzen historischen wie praktisch politischen Bildung, durch maßvolles Wesen und sicheren Tact war er für die ins Auge gefaßte Aufgabe hervorragend geeignet. Im März 1861 erschien der erste Jahrgang des „Europäischen Geschichtskalenders“ mit einem einleitenden Vorworte von Heinrich v. Sybel. Es war S. vergönnt in der stets wachsenden bis zu weltgeschichtlicher Bedeutung sich erhebenden Zeit fünfundzwanzig Jahrgänge des Geschichtskalenders zu vollenden, welcher so unwillkürlich auch ein Denkmal dieser großen Zeit wurde. Im wesentlichen auf national-liberalem Standpunkte stehend, unterlag auch S., wenn er gleich bestrebt war, mit größter Gewissenhaftigkeit und Objectivität zu verfahren, da und dort dem Einflusse dieser Anschauung auch wenn sie irrte. Immer aber griff er die wesentlichen Momente der Zeitgeschichte heraus, und seine Schlußübersichten über die Geschichte des Jahres in zusammenhängender Darstellung gingen stets von hohen Gesichtspunkten aus und waren ausgezeichnet durch ihre Klarheit. Die parlamentarischen Versammlungen dieser Zeit fanden [696] durch den Geschichtskalender manche Erleichterung, wie er ja häufig in den großen parlamentarischen Körperschaften citirt wurde. Am 31. August 1885 entschlief S. an allmählicher Entkräftung. Ein reiches Geistesleben und seltene Gemüthstiefe zeichneten den eigenartigen Mann aus. Seine nach innen gerichtete vornehme Natur fühlte sich am wohlsten in der stillen Zurückgezogenheit des Gelehrten und besonders in der zweiten Hälfte seines Lebens war es das „bene vixit, qui bene latuit“, an das er sich hielt. In den letzten Jahren seines Lebens versenkte er sich mit Vorliebe in die höchsten Fragen des Daseins und es war sein sehnlicher Wunsch, seine Gedanken über Glauben und Wissen, Staat und Kirche noch in logischem Zusammenhang darstellen zu können. Sein Nachlaß enthält davon leider nur Fragmente. Einiges daraus wurde als Manuscript für Freunde gedruckt, ebenso eine Abhandlung über Leben und Wirken seines Freundes und Landsmannes J. C. Bluntschli nach dessen Tode. An die Oeffentlichkeit gelangten außer dem Geschichtskalender und seinen Artikeln im Staatswörterbuche nur noch die einige Monate vor seinem Tode geschriebenen „Einleitende Bemerkungen zu Friedrich Rohmer’s politischen Schriften“ (Band 4 von Fr. R., Wissenschaft und Leben; Nördlingen 1885), in welchen bedeutende Gedanken niedergelegt sind.
Schultheß: Heinrich S., Politiker und Publicist, geboren am 7. September 1815 in Zürich, entstammte einer der dortigen sogenannten „Herrenfamilien“. Er durchlief das humanistische Gymnasium seiner Vaterstadt, widmete sich dann an der Hochschule Zürich einige Jahre hindurch dem Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte und ging von Ostern 1838 bis Herbst 1839 nach Berlin, um sich an dem historischen Seminar