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ADB:Schleicher, August

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Artikel „Schleicher, August“ von Johannes Schmidt (Sprachwissenschaftler) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 402–416, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schleicher,_August&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:05 Uhr UTC)
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Schleicher: August S., hervorragender Sprachforscher, wurde als Sohn des Arztes Johann Gottlieb S. und dessen erster Gattin Henriette geb. Heym am 19. Februar 1821 zu Meiningen geboren. Im folgenden Jahre siedelte der Vater als Kreisphysicus nach Sonneberg bei Coburg über. Diesen Ort hat S. daher stets als seine Heimath angesehen. Frühzeitig zeigte der begabte Knabe große Anlagen für Musik und die vom Vater angeregte Beobachtung der Natur. In seiner Heimath vorgebildet besuchte er von Ostern 1835 bis zum Herbste 1840 das Gymnasium zu Coburg, unter dessen Lehrern der Director Forberg und Professor Trompheller nachhaltigen Einfluß auf ihn ausübten. Forberg nährte seine Sprachneigungen durch Privatunterricht im Arabischen, und Trompheller blieb auch während der Studienzeit sein Berather. Christoph Gottlieb Voigtmann aber, der Lehrer des Englischen und Französischen, prophezeite: „aus Ihnen wird im Leben nichts, eine fremde Sprache erlernen Sie nie“. Durch einen Blick auf des Genannten Schrift „Dr. Max Müller’s Bau-wau-theorie und der Ursprung der Sprache“ (Leipzig 1865, angezeigt in der Zeitschr. f. vrgl. Sprachf. XV, 235) wird sein Ausspruch begreiflich. Die Abgangsprüfung bestand S., da sie an einem der beiden „inländischen“ Gymnasien abgelegt werden mußte, in Hildburghausen. Bald nachdem er das elterliche Haus verlassen, hatte er seine Mutter, deren einziges Kind er war, verloren. Einige Jahre später führte der Vater eine Nürnbergerin Christiane Gruber heim, welche dem Stiefsohne im vollen Sinne eine zweite Mutter wurde. Doch das Glück währte nicht lange. Sie starb, als sie ihrer dritten Tochter das Leben gab, am 12. September 1840. Schmerzerfüllt ging S. einige Wochen später nach Leipzig, um Theologie zu studiren. Der hier unter den Studenten herrschende Ton mißfiel ihm, eine Carcerstrafe wegen Mensur trug auch nicht zur Verbesserung der Stimmung bei. So zog er Ostern 1841 nach Tübingen, wo er sich vier Semester sehr behagte, da er angestrengte Arbeit mit dem Genusse der Freiheit zu vereinigen wußte. Der Theologie aber entfremdete er sich mehr und mehr. An ihre Stelle traten Hegelsche Philosophie und das Studium der semitischen Sprachen, des Sanskrit und [403] des Persischen unter Ewald’s Leitung, daneben zur Erholung eifrige Musikübungen. Im Frühjahre 1843 hielt er seine erste und einzige Predigt. Dann kehrte er Tübingen und mit ihm der Theologie den Rücken, da er den Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen nicht länger zu ertragen vermochte. Mit dem Vorsatze, sich allein der Philologie zu widmen, ging er nach Bonn. Zwar schrieb ihm der Vater noch am 1. Juni 1843: „Ein Philolog ist ein elender Lump, zumal wenn er wirklich einer ist. An dieses Studium Geld zu wenden, verlohnt es nicht. Um ein lateinischer Schulmeister zu werden, möcht ich mich nicht plagen, da plagt man sich wol bloß deshalb, um sein Leben lang sich plagen zu dürfen, denn bei einem so geringen Lohn Schule halten, sich mit den bösen großen Jungen herum balgen, das ist dieser Herren glänzendes Loos. Oft muß ein so armes gelehrtes Thier sich auch begnügen, in einem Dachstübchen zu darben und von der Gnade der tyrannischen Buchhändler abzuhängen. Ganz anders steht es doch um einen Dorfpfarrer, wenn er seine Gemeinde erbaut und ihre Herzen erweicht“. Schließlich gab er doch seine Zustimmung, da er viel zu stolz auf seinen talentvollen Sohn war, um ihm etwas abschlagen zu können. Mit Feuereifer griff dieser jetzt die classischen Studien an, ward bald Mitglied des Seminars und trat in persönliche Beziehungen zu Welcker und Friedr. Ritschl, welche sich von Jahr zu Jahr inniger gestalteten. Er bekannte stets dankbar, von Ritschl eine strenge und klare Methode erlernt zu haben. Ueber der classischen Philologie wurden aber die orientalischen Sprachen bei Lassen und Gildemeister nicht im mindesten vernachlässigt. Auch diesen beiden Gelehrten trat er persönlich nahe. Bei Diez hörte er Vorlesungen über altdeutsche Dialekte. Neben allem dem bewahrte er der Burschenschaft, welcher er in Leipzig und Tübingen angehört hatte, sein Interesse und arbeitete in ihrem Sinne mit an Gustav v. Struve’s Zeitschrift für Deutschlands Hochschulen, Heidelberg 1844–45. [Nach einer in Schleicher’s Nachlaß vorhandenen Notiz stammen aus seiner Feder die Correspondenzen aus Bonn S. 21, 52, 160, „ein Wort an die den Corps opponirenden Vereine“ S. 61 f (die Burschenschaft soll, um die nur von ihr ausführbare Reform des Studentenlebens in Angriff zu nehmen, die Heimlichkeit aufgeben, alles veraltete Formenwesen abstreifen und sich als öffentliche Gesellschaft, an welcher alle Studenten Theil haben, constituiren), „das Lateinische auf den deutschen Hochschulen“ S. 119 f. (für dessen Abschaffung).]

Der Sommer 1844 führte den Erbprinzen Georg von Meiningen mit seinem Gouverneur Seebeck nach Bonn. Beide fanden Gefallen an dem vielseitig begabten, eifrig studirenden Landeskinde. So knüpften sich Beziehungen, welche Schleicher’s ganze Zukunft bestimmen sollten. Um diese Zeit äußert sich auch bereits das Bedürfniß nach einem wissenschaftlichen Sporte neben den mit aller Kraft betriebenen Fachstudien, welches S. sein ganzes ferneres Leben in gleicher Kraft aber wechselnden Richtungen bewegt hat. Im November 1844 hielt G. v. Struve einen Cyclus von zwanzig Vorträgen über Phrenologie in Bonn. S. fing sofort Feuer und gründete mit achtzehn Gesinnungsgenossen eine phrenologische Gesellschaft, „die zweite in Deutschland“, wie er mit Stolz in der Zeitschr. f. Deutschlands Hochschulen (S. 160) berichtet. Seinem Vater schrieb er nun lange Abhandlungen über Phrenologie. Bald aber mußte sie der Musik, welche er auf verschiedenen Instrumenten ausübte, wieder weichen. Da er außerdem sehr gesellig in den Kreisen der Professoren und der durch den Erbprinzen ihm erschlossenen Aristokratie verkehrte, mußten oft die Nächte die Arbeitszeit hergeben, wenn Tag und Abend in angeregtem Umgange oder Concerten verbracht waren. Er hatte aber körperlich nicht viel zuzusetzen. Erst in Tübingen hatte er 1841 einen schweren exanthematischen Typhus überstanden, bei der Genesung, wie er selbst in seiner Promotionsvita sagt, modo non paterno von Ewald gepflegt. Infolge [404] des aufreibenden Bonner Lebens stellten sich bald wieder Krankheitsanfälle ein, welche ihn im Herbste 1845 eine Cur in Kreuznach zu brauchen nöthigten. Zurückgekehrt stürzte er sich mit ganzer Kraft in die Arbeit, bestand die Doctorprüfung magna cum laude, was in Bonn nicht nur ein „epitheton ornans“ war, wurde am 10. Januar 1846 mit der Dissertation Meletematon Varronianorum specimen I. promovirt, erwarb am 14. Februar von der wissenschaftlichen Prüfungscommission die Berechtigung, „den Unterricht in den classischen Sprachen durch alle Classen eines Gymnasiums zu ertheilen“, im März die venia legendi „für indische Sprache und Litteratur und für vergleichende Grammatik“. Oft kam er während dieser Zeit die ganze Nacht nicht zu Bette. Das rächte sich. Am Ende des Sommersemesters brach der Ueberarbeitete tief zerrüttet, selbst das Schlimmste befürchtend, zusammen. Als er wieder hergestellt war, schickte ihn der Arzt nach Ostende, wo er bis in den December blieb, in seiner Einsamkeit durch die herzlichsten Briefe von Friedr. Ritschl und dessen Frau getröstet, von Albrecht Ritschl, dem Theologen, über die Bonner Tagesereignisse unterrichtet. Zu weiterer Erholung ging er für den noch übrigen Theil des Semesters in seine Heimath. Inzwischen hatte der Erbprinz von seiner Tante, der Königin Wittwe Adelheid von England, einer Meiningischen Prinzessin, für S. ohne dessen Wissen eine Unterstützung von 400 Pfund Sterling erwirkt, welche ihm die akademische Laufbahn ohne gleichzeitige Anstellung am Gymnasium ermöglichte, und überraschte ihn damit am 2. April, dem Geburtstage des Prinzen. Diesen Tag feierte S. bis an sein Ende als die Begründung seines Lebensglückes.

Vorlesungen hat S. in Bonn nicht oft gehalten, dafür desto eifriger gearbeitet, um seine Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. Seine Antrittsvorlesung vom 27. Juni 1846 „über den Werth der Sprachvergleichung“ (gedruckt in Lassen’s Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes VII, 25 f.) eröffnet bereits weite Ausblicke, indem sie auf eine vergleichende Metrik, Litteraturgeschichte und Mythologie als Wissenschaften der Zukunft deutet. „Die Sprachvergleichung führt zur Erkenntniß organischer Gesetze, oder was dasselbe sagt, der immanenten Vernunft in dem anscheinend wirren Sprachgemenge“. Sie erscheint unter einem Gesichtspunkte als Geschichte, „in gewisser Beziehung“ aber als Naturwissenschaft. Den nächsten Plan, über die Conjugation der classischen Sprachen zu schreiben, kreuzte das Erscheinen der „Tempora und Modi“ von Georg Curtius, so daß S. seine im Manuscripte fast vollendete Arbeit nur zu einer Anzeige dieses Buches benutzen konnte (Rhein. Museum V, 266 f.). Im Frühjahr 1848 erschien der erste Theil der „sprachvergleichenden Untersuchungen“ mit dem Sondertitel „zur vergleichenden Sprachengeschichte“, eine Monographie über den „Zetacismus, d. h. die Wirkungen von j auf vorhergehende Consonanten, welche durch die indogermanischen und eine Reihe anderer Sprachen verfolgt werden. Die Schrift brachte viele neue Ergebnisse, welche alsbald Gemeingut der Wissenschaft wurden. Als zweiter Theil folgten 1850 „die Sprachen Europas in systematischer Uebersicht“. Beide zeigen den Dualismus, welcher den Verfasser bis an das Ende seines Wirkens beherrschte. Neben einer nüchternen, möglichst sorgfältigen Einzelforschung gehen rein apriorische Dogmen über das Sprachleben, welche in den Einleitungen beider Theile, deren zweite bis auf einen Punkt nur die erste wiederholt, entwickelt sind und in den Einleitungen zur „deutschen Sprache“ (1860), zum „Compendium“ (1861) und in der „Darwinschen Theorie und Sprachwissenschaft“ (1863) ziemlich unverändert wiederkehren. Später suchte er sie naturwissenschaftlich zu begründen, erwachsen sind sie aber nicht auf dem Boden der Naturwissenschaften, sondern auf dem rein speculativen der Hegelschen Philosophie und in diesen sprachvergleichenden Untersuchungen auch nach „dialektischer Methode“ mit deren Schlagworten begründet. Merkwürdig und verhängnißvoll aber ist, daß während [405] Schleicher’s Methode der Einzelforschung sich in jeder folgenden Schrift verfeinert und verschärft, jene Dogmen keine wesentliche Veränderung erleiden und so immer störender diese Methode kreuzen. Folgende Ansichten stehen ihm ein für alle Male fest (II, S. 1–4): „Die Philologie gehört wesentlich der Geschichte an. Ihr gegenüber steht die Linguistik, diese hat die Sprache als solche zum Object, und sie hat direct mit dem geschichtlichen Leben der die Sprachen redenden Völker nichts zu schaffen, sie bildet einen Theil der Naturgeschichte des Menschen“. „Die Beschaffenheit der Sprache liegt außerhalb der Willensbestimmung des Einzelnen, ist unabänderlichen natürlichen Gesetzen unterworfen, gehört also nicht in das Gebiet des freien Geistes [welchem sie noch I, 1 wenigstens theilweis zugewiesen wurde], sondern in jenes der Natur. Demzufolge ist auch die Methode der Linguistik von der aller Geschichtswissenschaften total verschieden und schließt sich wesentlich der Methode der übrigen Naturwissenschaften an“. „Die schon mehr vom Denken und Wollen des Einzelnen abhängige Syntax neigt mehr auf die Seite der Philologie. Letzterer gehört ganz an der Stil, die von der freien Willensbestimmung des Einzelnen abhängige Schreibweise“. S. nimmt W. v. Humboldt’s Eintheilung der Sprachen in drei Classen an: isolirende, agglutinirende, flectirende, welche er „dialektisch“ zu begründen sucht (I, 6). In historischer Zeit ist keine Sprache aus einer dieser Classen in eine andere übergetreten (I, 13), wol aber in vorhistorischer, das indogermanische z. B. ist vorhistorisch von der isolirenden zur agglutinirenden und von dieser zur flectirenden Stufe vorgeschritten (S. 22 f.). S. versteht – worin ihm Niemand gefolgt ist – einzig dies Vorschreiten unter „Sprachbildung“ und gelangt so zu den Sätzen, welche er bis an sein Lebensende festhielt: „Geschichte und Sprachbildung sind demnach sich ablösende Thätigkei1en des menschlichen Geistes. „Die Bildung der Sprache, die aufsteigende Geschichte ihrer Entwicklung fällt in die vorhistorische Periode der Völker“. „In der historischen Periode ist die Sprachengeschichte die Geschichte des Verfalls der Sprachen als solcher infolge ihrer Knechtung durch den Geist“ (I, 16 f.). Diese scharfe Scheidung zweier ihrem ganzen Wesen nach verschiedener Perioden der Sprachgeschichte, auch eine Erbschaft der Hegelschen Geschichtsphilosophie, hat später in Schleicher’s Gebäude der indogermanischen Sprachwissenschaft einen gefährlichen Riß gebracht. Wäre er streng inductiv, nicht geblendet von der Philosophie vorgeschritten, dann hätte er schwerlich verkannt, daß in historischer Zeit Sprachbildung und Sprachverfall stets Hand in Hand gehen, daß beide nur verschiedene Seiten eines und desselben Vorganges sind. Ital. amerò z. B., vom Standpunkte der Formenlehre betrachtet, ist eine Neubildung, vom Standpunkte der Lautlehre aber ein verfallenes lat. amare habeo. Aehnlich wird wenigstens ein Theil auch der vorhistorischen Formenbildung erst auf lautlichem Verfalle vollerer Formen beruhen.

Das Jahr 1848 rüttelte S. aus seinen Studien auf. Im Anfange desselben verlobte er sich mit einer Bonner Dame, löste das Band aber bald wieder. Dies Verhältniß, die allgemeine Unruhe der Zeit, welche ihn, den politischen Freund Kinkel’s, stark ergriff, und die an der englischen Unterstützung haftende Bedingung, daß dieselbe wenigstens theilweise zu wissenschaftlichen Reisen verwandt werden sollte, wirkten zusammen, ihn in die Weite zu treiben. Im Sommer ging er nach Paris und Brüssel, im Herbste nach Wien. Von dort folgte er dem Reichstage im November nach Kremsier. Als dieser am 7. März 1849 aufgelöst war, zog er nach Prag. Seinen Unterhalt bestritt er während dieser ganzen Zeit durch politische Correspondenzen an die Kölnische und die Augsburger Allgem. Zeitung. Dem Anerbieten einer rein journalistischen Stellung mit dem in seiner Lage sehr verlockenden Gehalte von 1000 Thalern widerstand er jedoch. In Prag zwang ihn die Polizei zur Rückkehr, indem sie der Post verbot, ihm die für ihn eintreffenden [406] Geldsendungen auszuhändigen. Anfangs Mai 1849 mußte er diesem Aushungerungssysteme weichen, vielleicht zu seinem Glücke, denn am Tage nach seiner Abreise ward der Belagerungszustand verkündet. Während des Aufenthaltes in Kremsier und Prag hatte er sich mit der ihm eigenen Leichtigkeit das Čzechische schon so gut angeeignet, daß er in demselben Jahre zwei kleine Abhandlungen in dieser Sprache zu schreiben vermochte: o českéj spisovnině (Bonn, Marcus in Comm.) und o infinitivě a supinum w jazyku slowanském (Časopis českého Museum 1849, Bd. 23, Heft 3, S. 153 f.). Von lebenden slavischen Sprachen war ihm vorher nur das Polnische bekannt, welches er als Student von einem Commilitonen dieser Nation in Bonn erlernt hatte. Nach Bonn zurückgekehrt setzte er die slavischen Studien fort und zog dadurch die Augen des österreichischen Unterrichtsministers, des Grafen Leo Thun auf sich. Am 14. November 1849 fragte Bonitz in dessen Namen bei S. an, ob er eine Professur an der Prager Universität anzunehmen geneigt sei. „Die eigenthümliche Richtung, welche Sie in Ihren sprachvergleichenden Studien genommen, indem Sie mehr, als es bisher geschehen ist, die slavischen Sprachen in das Bereich Ihrer Untersuchungen gezogen, läßt erwarten, daß die Prager Universität eine angemessene und Ihnen selbst erwünschte Stätte Ihrer Thätigkeit sein würde“. Am 8. März 1850 ward S. zum außerordentlichen Professor „der classischen Philologie und Litteratur“ ernannt mit dem Lehrauftrage zu Vorlesungen „über Grammatik und Litteratur der beiden alten classischen Sprachen, wobei es Ihnen unbenommen bleibt, zugleich philologische Wissenschaften wie Metrik und dergl. vorzutragen“. Ein neckischer Zufall fügte es, daß die classische Philologie, welche damals noch sehr scheel auf die Sprachwissenschaft blickte, in Prag nun ausschließlich durch Männer dieser Richtung vertreten ward, da die andere Professur ein Semester früher durch G. Curtius besetzt war. Im Sommersemester trat S. sein neues Amt an, suchte aber gleich im folgenden Winter dahin zu wirken, daß ihm statt der Philologie die Sprachwissenschaft als Lehrgebiet angewiesen würde. Am 28. Mai 1851 wurde ihm dann das neu errichtete Extraordinariat „für vergleichende Sprachwissenschaft und Sanskrit“ übertragen, dazu nach K. A. Hahn’s Abgange im Winter 1851 auch die Vertretung des Deutschen. Am 10. Juni 1853 erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Professor „der deutschen und vergleichenden Sprachwissenschaft und des Sanskrit“.

Seine schaffende Thätigkeit wandte er nun, wie er es in den „Sprachen Europas“ (S. 191 Anm.) verheißen, ganz dem Slavischen und Litauischen zu. Diese Sprachen waren nächst den keltischen von der vergleichenden Forschung noch am wenigsten berührt. Im Frühjahr 1852 erschien „die Formenlehre der kirchenslavischen Sprache“, die erste vergleichende Lautlehre und Erklärung der ganzen Formenlehre einer slavischen Sprache. Konnte er sich hierbei auf die thatsächlichen Ermittelungen und Materialsammlungen von Miklosich stützen, so mußte er für das Litauische beide erst selbst beschaffen. Da die sehr schwankende, vielfach ungenaue Orthographie kein zuverlässiges Bild dieser Sprache gab, war hierzu eine Reise nach Litauen erforderlich, welche er, auf Verwendung des Unterrichtsministers von der Wiener Akademie unterstützt, im Sommer 1852 ausführte. Er leistete außerordentliches. Sein großes Geschick, mit dem Volke zu verkehren, und sein Sprachtalent gaben ihm binnen weniger Monate eine Herrschaft über die Sprache, wie sie selbst von Eingeborenen nicht viele besaßen. Reich beladen kehrte er heim und war die nächsten vier Jahre vollauf mit der Verarbeitung des Gesammelten beschäftigt. Als Vorarbeiten veröffentlichte er „Briefe über die Erfolge einer wissenschaftlichen Reise nach Litauen“ (Sitzungsber. d. Wien. Akad. Bd. IX, 1852, 524 ff.), „Lituanica“ (ebenda XI, 1853, 76 ff.) und o jazyku litevském zvlástě ohledem na slovanský (Časopis českého Museum 1853, Bd. 27, S. 320 ff.). [407] Dann erschien sein „Handbuch der litauischen Sprache“, I. Litauische Grammatik, Prag 1856, II. Litauisches Lesebuch und Glossar, Prag 1857, und die Uebersetzung des letzteren, „Lit. Märchen, Sprichworte, Räthsel und Lieder“, Weimar 1857. Zwischen Ausarbeitung und Druck ließ er sich, um die lebende Sprache sicher vor Ohren zu haben, den litauischen Lehrer Kumutatis aus der Gegend von Ragnit auf einige Zeit nach Prag kommen und nahm mit ihm das Ganze durch. Dieses Buch ist ein unvergänglicher Ruhmestitel. Mit seinem Ohre hatte S. die Laute der Volkssprache genau festgehalten, sprachgeschichtlich wichtige Unterschiede gefunden, welche die bisherige Orthographie theils gar nicht berücksichtigte (ė, ë) theils ohne Consequenz bezeichnete (Erweichung u. a.), kurz ein wirklich naturgetreues Bild der Sprache entworfen, der Wissenschaft völlig zuverlässiges Material beschafft. Die vergleichende Erklärung desselben behielt er sich für spätere Zeit vor. Als er, noch in Bonn, den Plan einer litauischen Grammatik faßte, fragte er zuvor Nesselmann, ob dieser nicht vielleicht dieselbe Absicht hegte. Nesselmann verneinte (26. October 1849), erklärte auch noch später seine Gleichgiltigkeit gegen grammatische Untersuchungen (19. October 1852), als aber Schleicher’s Grammatik erschienen war, bat er um die Erlaubniß, einen kurzen Auszug aus ihr zu machen, welche ihm Verfasser und Verleger natürlich verweigerten. Seit jener Zeit war Nesselmann bestrebt, Schleicher’s Verdienste um das Litauische in der öffentlichen Meinung herabzusetzen.

Ende 1855 vereinigte sich S. mit Adalbert Kuhn auf dessen Vorschlag zur Herausgabe der „Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung auf dem Gebiete der arischen, celtischen und slavischen Sprachen“, in welchen er von nun an neben selbständigen eigenen Arbeiten über alle wesentlichen Erscheinungen der Slavistik berichtete. Das erste Heft erschien im Herbste 1856.

Je mehr die wissenschaftlichen Ergebnisse der Prager Wirksamkeit reiften, um so unerquicklicher wurden die persönlichen Verhältnisse. [Vaníček hat einiges aus seinem persönlichen Verkehr mit S. in Prag 1849 und 1850–53 veröffentlicht in den „Erinnerungen an Prof. Dr. Aug. S. in Prag“, Bohemia 1869, No. 16 f., Feuilleton.] Anfangs hatte S. das Phäakenleben der čechischen Hauptstadt mit Behagen genossen, machte aber bald sehr bittere Erfahrungen. Die persönlichen Reibungen, welche an keiner kleinen Universität fehlen, hier durch die nationalen, politischen und kirchlichen Gegensätze ohnehin verschärft, wurden durch die im Schatten der Kanonen erwachsene Angeberei geradezu vergiftet. Außer der allgemeinen politischen Reaction lastete auf der Universität noch besonders die Hand der Kirche. Protector studiorum und Curator der Universität war der Erzbischof. Wahlen und Uebergabe des Rectorats und Decanats vollzogen sich, eingeleitet durch Meßopfer, in der Kirche. Protestanten waren zu diesen Ehrenämtern überhaupt nicht wählbar. Gegen jeden „aus dem Reiche“ Berufenen brandeten überdies die Wogen der eben hoch aufwallenden nationalen Leidenschaft der Čzechen. War ein solcher gar noch wie S. durch seine Kenntniß der Sprache befähigt, die nationalen Größen in ihrer wahren Gestalt zu würdigen, dann mochte er sich besonders vorsehen. Um schnell eine wissenschaftliche Nationallitteratur zu beschaffen, verfaßten die Čechen dutzendweise Grammatiken ihrer Sprache, übersetzten classische Schriftsteller und deutsche Handbücher, oft ohne selbst ein correctes Čechisch frei von Germanismen schreiben zu können, aber getragen von der Bewunderung ihrer Volksgenossen. Im Auftrage des Unterrichtsministers beleuchtete S., dessen Uebersetzung Nal a Damajantí (Prag 1852, vorher im Časopis českého Museum 1851, Bd. 25 erschienen) und Abhandlungen in der Zeitschrift des čechischen Museums an Sprachrichtigkeit manche Schriften jener „Säulen“ übertrafen, dies Treiben in der Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. Da man dem lästigen Eindringlinge wissenschaftlich nichts anhaben [408] konnte, denuncirte man ihn – es herrschte noch Belagerungszustand – beim Kriegsgerichte und bei der Stadthauptmannschaft als Verfasser Oesterreich feindlicher Berichte deutscher Zeitungen und als Rädelsführer einer über Europa verbreiteten republikanischen Verschwörung. Allerdings hatte er aus seinen stark freisinnigen Ansichten weniger Hehl gemacht, als die Vorsicht gebot, sich aber jeder politischen Thätigkeit oder Schriftstellerei streng enthalten. Polizeispitzel beobachteten ihn bald auf Schritt und Tritt. Dadurch gewarnt entledigte er sich aller irgendwie Verdacht erregenden Papiere. [Daher findet sich in seinem Nachlasse keinerlei Anhalt für die Zeit seiner Reisen 1848–49 und sehr geringer für die drei folgenden Jahre.] Im Morgengrauen des 2. October 1851 veranstaltete man bei ihm eine Haussuchung und nahm, um doch nicht mit ganz leeren Händen abzuziehen, vier Briefe von Zeitungsredactionen aus den Jahren 1848–50 in Beschlag. S. bat noch an dem selben Tage den Unterrichtsminister Grafen Leo Thun „um Schutz gegen solches Verfahren, welches mit der Würde eines k. k. Professors nicht im Einklange zu stehen scheint“. „Allerdings habe ich im Jahre 1848–49 für politische Zeitungen geschrieben, um mir mein Brot auf Reisen zu verdienen, bei denen ich wissenschaftliche Zwecke verfolgte, seit Frühjahr 1849 aber mich so ganz von aller publicistischen Thätigkeit zurück gezogen, daß ich nicht nur nichts schreibe, sondern höchstens gelegentlich ein Zeitungsblatt auch nur einmal lese“. In seiner Antwort vom 1. December suchte der Minister S. Lügen zu strafen, indem er ihm die Abschrift eines der ergriffenen Briefe schickte, einer am 19. Januar 1850 von der Redaction der Kölnischen Zeitung an ihn gerichteten Bitte um einen populär wissenschaftlichen Nekrolog für seinen Studiengenossen, den Historiker und Geographen Eugen Alexis Schwanbeck, welche S. nicht einmal erfüllt hatte. „Die mitfolgende Abschrift eines von der Redaction der Kölnischen Zeitung unterm 19. Januar 1850 an Sie gerichteten Schreibens, welches bei jener Gelegenheit bei Ihnen vorgefunden wurde, stimmt jedoch mit dieser (oben wörtlich mitgetheilten) Versicherung nicht überein und stellt jedenfalls den Beweis her, daß Sie noch zu jener Zeit mit einem Blatte in Verbindung standen, dessen Richtung eine schlechte und eine gegen Oesterreich höchst feindselige ist“. Der Minister hatte im Eifer übersehen, daß er Schleicher’s Anstellungsdecret erst am 8. März 1850 unterzeichnet und dieser seinen Diensteid am 11. April geleistet hatte, jener Brief also nicht an den k. k. Professor, sondern an den noch preußischen Privatdocenten gerichtet war. Nachdem S. dies in Erinnerung gebracht, gab ihm der Minister eine befriedigende persönliche Erklärung und schützte ihn auch später, soviel er konnte, gegen Anfechtungen. S. hat auch stets dankbar anerkannt, daß er dem Grafen „überhaupt alles zu danken habe, was ihm Förderndes und Anregendes in Oesterreich zu Theil ward“ (Eingabe an das Meininger Ministerium vom 4. October 1856). Eine amtliche Genugthuung von Seiten der Polizei oder eine Bestrafung der Angeber erfolgte nicht.

Als Mitglied der Gymnasialprüfungscommission hatte S. seit dem Winter 1851 „die Beurtheilung der allgemeinen sprachlichen Vorbildung der Candidaten aller Lehrzweige, welche die deutsche Sprache als Unterrichtssprache wählen“, d. h. jeden Candidaten zu prüfen. Beide Augen mußte er zudrücken, um nicht alle durchfallen zu lassen. Da aber bei den meisten die Herrschaft über deutsche Grammatik und Orthographie im umgekehrten Verhältnisse zu ihrer kirchlichen Devotion und ihren Verdiensten um die čechische Nation standen und S. die Zumuthung falscher Zeugnisse mit einer dort auffallenden Entrüstung zurückwies, so suchte die Mehrheit der Commission, deren Vorsitz der Generalgroßmeister des ritterlichen Kreuzherrnordens führte, den Ketzer und Deutschen aus seiner sehr unbequemen Stellung hinauszuintriguiren, da dieser aber vom Ministerium gehalten [409] wurde, ihm wenigstens sein Amt nach Möglichkeit zu verleiden. Die Professoren der Geschichte stellten mit Vorliebe Aufgaben aus der Reformationszeit und ließen die Candidaten über Luther und den Protestantismus Ansichten aussprechen, welche jeden Protestanten auf das tiefste verletzen mußten, in Arbeiten, die S. auf Stil und Orthographie zu prüfen hatte. Zu jener Zeit kündigte der Bischof von Leitmeritz unter großen Ablaßverheißungen für die Theilnehmer „Gebete um Ausrottung der Ketzerei in den k. k. Landen“ an und pries ein Wiener Professor in der litterarischen Beilage zur officiellen Wiener Zeitung Ferdinand II. wegen seiner „Säuberung Wiens von den protestantischen Elementen“. Verekelt und verbittert zog sich S. auf sich selbst zurück und führte ein Einsiedlerleben, dem ihn auch sein Freund Georg Curtius, mit welchem er den regsten wissenschaftlichen Verkehr pflog, nur selten zu entreißen vermochte.

Erst die Verlobung mit Fanny Strasburger, einer Tochter der geliebten Heimath Sonneberg, im Herbste 1853, welcher am 8. Januar 1854 die Hochzeit folgte, erschloß ihm das Leben wieder von der menschlichen Seite. „Vom Jahre 1853“, schrieb Fr. Ritschl zur Verlobung, „wird sich also nun pars secunda Ihres bewegten Lebenslaufes datiren, idyllisch über grüne weiche Matten führend, nachdem pars prima Felszacken und Gletschergründe überwunden. So geben es die geneigten Götter, die in der Brust und die auswendigen!“ Die in der Brust haben es gegeben, die auswendigen nicht. Es war eine unter meist drückenden Verhältnissen ungetrübt glückliche Ehe. Im März 1855 brachte Ritschl seinen Glückwunsch zur Geburt eines Sohnes: „Sie werden jetzt fühlen, was Sie in Ihrer Bönnischen Kleinmüthigkeit“ oft genug nicht glauben wollten, daß es für einen ordentlichen Menschen nie zu spät ist zum – Glück“. Das Kind starb schon im August. Auch die Eltern litten unter dem ungesunden Prager Klima. S. hatte wiederholt schwere Lungenentzündungen und noch häufiger leichtere Lungenbeschwerden zu überstehen. Dazu die entmuthigende Erfahrung, unter seinen Zuhörern, welche zwar zahlreich (bis zu 56, im Sanskrit bis zu 25) aber ungenügend vorbereitet und meist jeder wissenschaftlichen Anregung unzugänglich waren, überdies alle mit des Lebens Noth bitter zu kämpfen hatten, fast keine wirklichen Schüler zu finden. Er war völlig niedergedrückt. „Das Gefühl frohen freudigen Muthes kenne ich seit meinem Hiersein nicht mehr“, schrieb dieser von Natur ungewöhnlich thatkräftige Mann im Juni 1855. „Anfangs glaubte ich, mit der Zeit werde sich dieses Mißbehagen verlieren, ich bin aber bereits länger als fünf Jahre hier und es wächst mit den Jahren immer mehr“. „Ich erkenne immer mehr, daß mein Wirken hier verloren geht und meine besten Mannesjahre nutzlos verfließen“. Er hatte nur den einen Gedanken, um jeden Preis aus Prag fort zu kommen.

Da erhielt er zufällig einen Brief seines Gönners aus der Bonner Studienzeit Seebeck, damaligen Curators von Jena, der um Auskunft bat, ob ein Keplerscher Kalender in Prag aufzutreiben sei. In dem Antwortschreiben vom 20. Juni 1855 schüttete S. sein Herz aus und fragte dann geradezu: „Können Sie mich nicht daheim an der Landesuniversität Jena brauchen?“ Seebeck griff mit Freuden zu. Zwar war keine Stelle offen, er konnte höchstens eine ordentliche Honorarprofessur anbieten und wußte noch nicht, woher eine Besoldung zu nehmen. S. aber war durch diesen Hoffnungsschimmer so beglückt, daß er sich zu kommen erbot, auch wenn er nur die Hälfte des Prager Gehaltes von 1300 Fl. C. M., ja im ersten Jahre selbst gar keins beziehen sollte. Den vereinten Bemühungen Seebeck’s, des Bonner Freundes Frhrn. R. v. Liliencron, damaligen Meiningischen Cabinetsrathes, und des Erbprinzen von Meiningen gelang es, das Fehlende nothdürftig zu beschaffen. Schon mit ziemlich sicherer Aussicht auf Erlösung nahm S., um sich von einem Brustleiden zu erholen, für das [410] Wintersemester 1856 Urlaub, welchen er in der Heimath verbrachte. Den Dank für die hier wiederkehrende Gesundheit stattete er ab, indem er während dieses Winters aus Volkes Munde alles für Sprache, Sitte, Aberglauben u. s. w. des Ortes Charakteristische sammelte und eine wissenschaftliche Grammatik der Mundart schrieb. Diese Erholungsarbeit veröffentlichte er u. d. T. „Volksthümliches aus Sonneberg im Meininger Oberlande“ (Weimar 1858) und überwies den Ertrag seiner Vaterstadt als „Verschönerungsfond“ zur Erhaltung der Spaziergänge. Mit Ablauf des Urlaubs schlug auch die Befreiungsstunde. Am 29. März 1857 ward S. als ordentlicher Honorarprofessor für vergleichende Sprachkunde und deutsche Philologie mit 600 Thalern Gehalt nach Jena berufen. Jubelnd sandte er sein Entlassungsgesuch nach Wien. „Ich habe Manches in Oesterreich gelernt“, schreibt er um diese Zeit, „Gutes und Schlimmes, das Beste aber, was ich dort gelernt habe, ist die innige Werthschätzung meiner deutschen Heimath und des Glückes, evangelischer Eltern Kind zu sein“.

Im Mai trat er das neue Amt an und fand sofort eifrige Theilnahme bei den Studenten. Sein Vortrag war nicht schön, bisweilen stockend, aber durchweg klar und fesselnd, da jedes Wort volle Begeisterung für die Sache athmete und erweckte. „Wie mir’s hier gefällt – nun darüber könnte am besten ein Vogel Auskunft geben, der aus einem Käfig und aus dumpfer Stube mit noch ungeschwächter Flugkraft in den grünen grünen Wald zu entwischen das Glück hatte. Das Gleichniß paßt: das Futter war dort besser, aber aber es fehlte nur sonst Alles, was zum Leben gehört. Und das Schönste ist, daß ich eben in der Heimath bin“ (26. Mai 1857). Die leidigen Sorgen um „das Futter“ ließen ihren Druck aber bald empfinden. Zunächst hoffte er sie durch Unterricht an den beiden Privaterziehungsanstalten Jenas zu beschwichtigen. Man bot ihm 10 Sgr. für die Stunde und dazu noch lästige Bedingungen. So war er allein auf litterarischen Erwerb angewiesen. „Ich muß schreiben, daß mir selbst ob der Polygraphie Angst wird, aber es muß sein“ (19. April 1860). „Es ist zu hart, jährlich mindestens 400 Thaler erschreiben zu müssen“ (2. Februar 1862). Von diesem Zwange ist er nicht wieder befreit. Unter dem Drucke der Noth hat er die Feder geführt, bis sie ihm der Tod aus der Hand nahm. Eine Anfrage von Würzburg im Februar 1859 brachte ihm eine Gehaltserhöhung von 200 Thalern und das Versprechen Seebeck’s, daß er in die Facultät einrücken sollte, sobald eine der historisch-philologischen Stellen frei würde. Dies wurde aber durch die Abneigung der classischen Philologen gegen die Sprachwissenschaft, welche Seebeck nicht überwinden konnte oder wollte, vereitelt. Wie oft hat S. nachher beklagt, daß er sich durch diese Zusicherung hatte in Jena halten lassen. Im September 1862 kam ein Abgesandter der russischen Regierung mit dem Auftrage, ihn unter glänzenden Bedingungen, „à tout prix“, wie es in der Vollmacht hieß, für die in der Gründung begriffene Universität Warschau zu gewinnen. Obgleich ihm in Jena jede Verbesserung seiner Stelle und die Erfüllung des erwähnten Versprechens ausdrücklich verweigert wurde, konnte er sich nach den Prager Erfahrungen doch nicht entschließen, sein Glück noch einmal in der Fremde zu versuchen. Aus demselben Grunde lehnte er wenige Wochen später eine Berufung an die Petersburger Akademie und im August des folgenden Jahres eine nach Dorpat ab, ohne davon dem Jenaer Curatorium Anzeige zu machen. Daß er, der anerkannt erste und vielseitigste Vertreter der Sprachwissenschaft seiner Zeit, welchem das Ausland die glänzendsten Stellungen anbot, in Deutschland nicht einmal das Ordinariat an einer der kleinsten Universitäten zu erreichen vermochte, verbitterte ihn tief.

Mit dem Umzuge von Prag nach Jena verschob sich zum zweiten Male der Schwerpunkt seiner Thätigkeit. Slavisch und Litauisch traten nun in den Hintergrund, [411] die germanischen Sprachen, schon durch die amtliche Verpflichtung, sie zu lehren, in den Mittelpunkt der Studien. Außerdem trieb er zunächst Keltisch und orientirte sich über alle nichtindogermanischen Sprachen, für welche er grammatische Hülfsmittel erlangen konnte. Nicht nur der Gegenstand seiner Studien hat gewechselt, auch die Art derselben. Nach Abschluß der rein empirischen litauischen Arbeiten bricht jetzt der tief in ihm wohnende theoretische Drang wieder hervor. „Die sprachliche Naturgeschichte und Urgeschichte“ hatte er in einer Eingabe an das Meininger Ministerium vom 4. October 1856 als „das Feld, welchem er eigentlich sein Leben gewidmet habe“, bezeichnet. In sie münden die Hauptwerke der nächsten Jahre aus. „Hier in Jena bin ich so aufgethaut, daß ich mich mit wahrhaft juveniler Frechheit an die schwierigsten Dinge mache und auch vor allem früher versäumtes nachzulernen mich bestrebe“, schreibt er im März 1858. Rasch nach einander erschienen: „Zur Morphologie der Sprache“ (Mém. de l’Acad. de St. Pétersb. VII. Série, Tome I, Nr. 7, 1859), ein Versuch, die Verschiedenheit des Sprachbaues in Formeln auszudrücken; „Die deutsche Sprache“ (Stuttgart 1860, 5. Aufl. 1888), ein populär gehaltener Abriß der mittel- und neuhochdeutschen Grammatik mit allgemein sprachwissenschaftlicher Einleitung; „Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen“ (Weimar I 1861, II 1862, 4. Aufl. 1876); „Die Unterscheidung von Nomen und Verbum in der lautlichen Form“ (Abh. der sächs. Ges. d. Wissensch. phil.-hist. Cl., Bd. IV, Nr. V, 1865), der Nachweis, daß keine außerindogermanische Sprache beide Redetheile mit gleicher Schärfe scheidet, wie die indogermanische Ursprache; „Indogermanische Chrestomathie, Schriftproben und Lesestücke mit erklärenden Glossaren zu A. Schleicher’s Compendium, bearbeitet von H. Ebel, A. Leskien, Johannes Schmidt und A. Schleicher“ (Weimar 1869). Sein bedeutendstes Werk ist das mit unübertroffener Klarheit und Schärfe geschriebene Compendium, nicht sowol durch die vielen neuen Ergebnisse, welche es im einzelnen, namentlich für das Litauische und Slavische, brachte, als durch die ganze Art der Behandlung auch da, wo es sachlich Bekanntes gab. „Ich denke, wir brauchen ein solches Buch“, schreibt S. am 28. Januar 1860. „Verwilderung bricht so von allen Enden herein, Zucht und Methode werfen die Jüngeren wieder ab, die Philologen höhnen und spotten noch immer – es ist nöthig, daß wir einmal Bilanz machen und in systematisch-kurzer Uebersicht mit zwingender Anschaulichkeit die Resultate und Ergebnisse reinlich darlegen. Ob ich freilich der Kerl dazu bin, fragt sich sehr, indeß will ich’s wagen“. Und das Wagniß gelang völlig. Von diesem Buche datirt eine neue Epoche der vergleichenden Sprachforschung, die streng geschichtliche. Bisher hatte man sich meist begnügt, die in verschiedenen Sprachen einander entsprechenden Worte und grammatischen Formen zusammen zu stellen und etymologisch zu deuten. Die Thatsache der Entsprechung und die Möglichkeit der Deutung waren die Hauptsache, hinter welcher die Entstehung der Verschiedenheit zurücktrat. S. setzte, indem er letztere mehr ins Auge faßte, die Entsprechungen in historischen Proceß um, reconstruirte als erster die Ursprache und leitete aus ihr durch mehrere ebenfalls erschlossene Mittelstufen die Einzelsprachen her. Daß diese Reconstructionen später vielfache Berichtigungen erfahren haben, liegt in der Natur der Sache und vermindert ihren Werth nicht. Das Entscheidende war eben ihr erster Versuch. Sein Compendium setzte zum ersten Male die historische Sprachforschung in vorhistorische Zeit bis zur Ursprache fort. Es entwarf ferner die erste vergleichende Lautlehre der indogermanischen Sprachen, für deren streng ermittelte Gesetze S. ausnahmslose Geltung beanspruchte. So scharf und zwingend war diese Forderung noch von Niemand ausgesprochen (s. Zeitschr. f. vergl. Sprachforschung XXVIII, 303 ff.). Daneben erkannte er als starke, die Lautgesetze von jeher [412] störende Kraft des Sprachlebens die gegenseitige Einwirkung der Formen, die falsche Analogie, an (dtsche Spr.1 60). Von ihm persönlich angeregt erschien die erste ausschließlich auf Wirkungen der Analogie gerichtete Untersuchung, die von Baudouin de Courtenay (Kuhn u. Schl. Beitr. VI, 19–88). Jede einzelne Sprache ward streng nach ihren eigenthümlichen Gesetzen erklärt, kein Lautgesetz mehr unbesehens aus einer in die andere übertragen. Mit glänzendem Organisationstalente brachte er, überall das Wesentliche scharf und klar hervorhebend, den kritisch gesichteten Besitzstand der Wissenschaft in ein System, entwarf zum ersten Male eine alte Geschichte der indogermanischen Sprachen. Und wie zahllose Berichtigungen im einzelnen dies System auch seitdem erfahren hat, sind doch seine Grundsätze und Methode bis auf den heutigen Tag wesentlich unverändert in Geltung. Den Nachfolgenden ohne Ausnahme hat seine Forschungsweise, deren Genauigkeit nur wenige Zeitgenossen erreichten, als Vorbild gedient. Nur bei der Reconstruction der Ursprache zahlte auch er seinen Tribut als Enkel, indem ihm die aus jungen Jahren beibehaltene Hegelsche Theorie und das von Bopp ererbte, alle Zeitgenossen beseelende Streben, jede grammatische Form etymologisch zu deuten, den sonst so klaren Blick trübten und ihn mit seiner eigenen fort und fort verschärften Methode in Zwiespalt brachten. Z. B. aus skr. bháratē, φέρεται, got. bairada ergab sich als methodisch zu construirende ursprachliche Grundlage nur bháratai. Sich hierbei zu beruhigen, hinderte ihn aber sein seit 1848 oft wiederholter Satz, Sprachbildung und Geschichte seien sich ablösende Thätigkeiten des menschlichen Geistes. Ursprache in dessen Sinne war eine vom Lautverfalle noch gar nicht berührte Sprache, wie sie § 3 und § 115 des Compendiums proclamiren, indem sie der Ursprache jedes Lautgesetz absprechen. In dieser sollte wie in den agglutinirenden Sprachen jede „Beziehung“ der Wurzel durch ein eigenes Element ausgedrückt sein. Bei bháratai ist dies aber nicht der Fall, –tai enthält zugleich die Beziehungen des Mediums und der dritten Person. Nimmt man aber mit A. Kuhn ein älteres bhara-ta-ti an, so sind in diesem beide gesondert und beide deutbar: tragen sich (Acc. oder Dat.) er = er trägt sich oder für sich. So kam S. dahin, vor dem allein methodisch erschlossenen urspr. bháratai noch ein älteres lediglich der ererbten Theorie der Sprachbildung entwachsenes, direct nicht erweisliches urspr. bharatati anzusetzen und ähnlich in sehr vielen anderen Fällen über das methodisch erreichbare hinauszugreifen. Der augenfällige Widerspruch zwischen der Verneinung ursprachlicher Lautgesetze, d. h. Lautveränderungen, und der Annahme eines solche voraussetzenden Wandels von urspr. bharatati in jüngeres ursprachliches bháratai mußte sehr bald dahin führen, Schleicher’s Methode bis ans Ende der Reconstruction unentwegt zu handhaben, d. h. bei bháratai als letzterreichbarer Form stehen zu bleiben, gleichgiltig, ob diese für’s erste deutbar war oder nicht. Und mit dieser durch sie selbst gegebenen Verschärfung gilt Schleicher’s Methode noch heute allgemein. Wäre ihm ein längeres Leben beschieden gewesen, so würde er, der sich ein immer strengerer Richter wurde, die Besserung gewiß selbst vollzogen haben.

Vielfachen Widerspruch erregten seine Ansichten vom Wesen und Leben der Sprachen, wie sie am ausführlichsten in der Einleitung zur „deutschen Sprache“ sowie den beiden Schriftchen „Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft“ (Weimar 1863) und „Ueber die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen“ (Weimar 1865) dargelegt sind. Weil er auf sie den höchsten Werth legte, wie die oftmalige Wiederholung zeigt, und weil der dagegen erhobene Widerspruch meist auf Mißverständniß beruht, müssen sie hier mit seinen eigenen Worten aufgeführt werden. „Sprache ist lautes Denken, Denken lautloses Sprechen“ (dtsche. Spr. 5). „Die Sprache ist das durch das Ohr wahrnehmbare Symptom der Thätigkeit eines Complexes materieller Verhältnisse in der Bildung des [413] Gehirns und der Sprachorgane mit ihren Nerven, Knochen, Muskeln u. s. w.“ (Bed. d. Spr. 8). „Was bei der Sonne das Licht ist, das ist bei der Sprache der hörbare Laut; wie dort die Beschaffenheit des Lichtes von einer materiellen Grundlage desselben zeugt, so hier die Beschaffenheit des Lautes. Die der Sprache zu Grunde liegenden materiellen Verhältnisse und die hörbare Wirkung dieser Verhältnisse verhalten sich zu einander wie Ursache und Wirkung, wie Wesen und Erscheinung überhaupt; der Philosoph [d. h. Hegel] würde sagen: sie sind identisch. Wir halten uns daher für berechtigt, die Sprachen geradezu als etwas materiell Existierendes zu betrachten, wenn wir dies auch nicht mit Händen greifen und nicht mit dem Auge sehen, sondern fast nur durch das Ohr wahrnehmen können. Den mir mehrfach gemachten Einwurf, daß ich irrthümlicher Weise die Sprachorganismen als wirkliche Existenzen behandle, während sie ja nur die Folge von Thätigkeiten der Organe, keineswegs aber materielle Wirklichkeiten seien, glaube ich durch die eben angestellte Betrachtung widerlegt zu haben“ (Bed. d. Spr. 10). Nach dieser authentischen Interpretation sollte man meinen, wäre kein Mißverständniß des folgenden mehr möglich. „Die Sprachen sind Naturorganismen, die ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben. Auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, welche man unter dem Namen „Leben“ zu verstehen pflegt“ (Darw. Theor. 6). Wie wenig S. daran dachte, die Sprache vom Menschen zu trennen, sie anders denn als eine Function desselben aufzufassen, lehrt weiter seine mehrmals ausgesprochene Meinung, daß die Sprache das einzig charakteristische Merkmal sei, welches den Menschen vom Thiere und die verschiedenen Species des Menschen von einander scheide. „Nach unserer Ansicht ist also für den Menschen die äußerlich wahrnehmbare Bildung des Hirn- und Gesichtsschädels und des Körpers überhaupt weniger wesentlich, als jene nicht minder materielle aber unendlich feinere körperliche Beschaffenheit, deren Symptom die Sprache ist. Das natürliche System der Sprachen ist nach meinem Dafürhalten zugleich das natürliche System der Menschheit. Mit der Sprache hängt aber auf’s Genaueste zusammen die ganze höhere Lebensthätigkeit des Menschen, so daß diese zugleich in und mit der Sprache die ihr gebührende Berücksichtigung erfährt“ (Bed. d. Spr. 17 f., vgl. Darw. Theor. 5). So kommt S. zu der Consequenz, daß die Sprachwissenschaft zu den Naturwissenschaften gehört. Sie ist, wenn man überhaupt alle Wissenschaften in zwei Gruppen scheidet, ebenso berechtigt wie die Einreihung der Sprachwissenschaft unter die historischen Wissenschaften. Allerdings wird der Sprachwissenschaft das Beobachtungsmaterial nur zum allergeringsten Theile unmittelbar von der Natur gegeben. Die Veränderungen, welche Laut, Form, Bedeutung oder Anwendung der Worte erlitten haben, lassen sich allein durch Vergleichung mit älteren nur historisch überlieferten Sprachzuständen ermitteln. Sie arbeitet also fast ganz mit historisch überliefertem Materiale, welches durch die Philologie, eine rein historische Wissenschaft, gesichtet werden muß. Wer nun die höchste Aufgabe der Sprachwissenschaft in die Sammlung kritisch gesicherten, historisch geordneten Materials setzt, der wird ihr natürlich den Charakter einer rein historischen Wissenschaft zusprechen. Wer dagegen diese Aufgabe erst dann für gelöst hält, wenn die Spracherscheinungen, welche, vom Stile des Einzelnen abgesehen, wie die Naturerscheinungen ohne Bewußtsein der Sprechenden hervortreten und der Einwirkung des menschlichen Willens völlig unzugänglich sind, auf die physiologischen und psychologischen Gesetze, deren Wirkung sie sind, zurückgeführt werden, wie es S. that, indem er „die Erklärung der Thatsachen der Lautgeschichte von der Physiologie der Sprachorgane erwartete“ (dtsche. Spr.1 49), der muß sie auch als eine Naturwissenschaft anerkennen. Sie ist eine mit historischem Materiale arbeitende [414] Naturwissenschaft. Wer ihren höchsten Anforderungen genügen will, muß also zugleich Philolog und Anthropolog sein. Gerade die Sprachwissenschaft zeigt, daß sich Natur- und Geisteswissenschaften oder historische Wissenschaften gar nicht scharf scheiden lassen. Und wenn S. ihr nur naturwissenschaftliche Methode zuschreibt, so hätte man sich darüber nicht unnöthig ereifern sollen, denn er definirt diese als „bestehend in genauer Beobachtung des Objectes und in Schlüssen, welche auf die Beobachtung gebaut sind“ (Comp.2 1, Darw. Th. 6), was für jede strenge Wissenschaft gilt. Daß er den naturwissenschaftlichen Charakter der Sprachwissenschaft und ihren Unterschied von der Philologie so stark betonte, während er doch praktisch auch ihrer philologischen Seite streng gerecht zu werden strebte, geschah im bewußten Gegensatze zu einseitig philologischen Willkürlichkeiten, welche er so a limine abweisen wollte.

Den litauischen und slavischen Studien wurde er durch die Petersburger Akademie, deren correspondirendes Mitglied er seit 1858 war, wieder zugeführt. Seine dortigen Freunde, Böhtlingk, Kunik, Schiefner, hatten, da er die Berufung nach Petersburg ablehnte, einen anderen Weg gefunden, ihn materiell zu unterstützen. Wesentlich auf ihre Veranlassung verlieh ihm die Akademie ein Jahrgehalt von 400 Rubeln Silber auf fünf Jahre mit der Verpflichtung, dafür zu schreiben 1) eine vergleichende Grammatik der hauptsächlichsten slavischen Dialekte mit Reconstruction der slavischen Ursprache, 2) eine vergleichende Grammatik des Litauischen, Preußischen, Lettischen mit Reconstruction der baltischen Ursprache, 3) eine Grammatik der slavolettischen Grundsprache. Ehe er an die Lösung der Hauptaufgaben ging, gab er im Einverständnisse mit der Akademie die einzigen litauischen Kunstdichtungen heraus: „Christian Donaleitis litauische Dichtungen, erste vollständige Ausgabe mit Glossar“ (St. Petersburg 1865). Dann stürzte er sich ganz ins Slavische, und wie er mit Recht den höchsten Werth darauf legte, eine Sprache, deren frühere Gestalt man erklären wollte, in ihren hauptsächlichen lebenden Erscheinungsformen praktisch zu beherrschen, so eignete er sich nun zum Čechischen und Litauischen auch noch das Russische durch Verkehr mit russischen Studenten bis zu dem Grade an, daß er es schriftlich und mündlich handhaben konnte. Um der Akademie zu zeigen, daß er am Werke sei, veröffentlichte er in deren russischen Denkschriften den kurzen Abriß des vorhistorischen Lebens des nordöstlichen Zweiges der indogermanischen Sprachen (Beilage 2 zum 8. Bde. der Zapiski 1865), die Themen der Zahlwörter im Litu-slavischen und Deutschen (Beilage 2 zum 10. Bde. der Zapiski 1866), die Declination der u-Stämme in den slavischen Sprachen (Beilage zum 11. Bde. der Zapiski 1867), alle russisch geschrieben. Ehe das Hauptwerk unternommen werden konnte, erheischte noch das in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ausgestorbene Polabische, die Sprache der Elbslaven im Lüneburger Wendlande, wegen gewisser Lauteigenthümlichkeiten eine sorgfältige Darstellung. Dies war eine Arbeit, wie sie Schleicher’s Spürsinne so recht zusagte und der Wenige außer ihm gewachsen waren. Es galt den Worten und Sätzen, welche deutsche, der Sprache nicht mächtige Aufzeichner nach mangelhaftem Gehöre aus Volkesmunde niedergeschrieben haben, ihre wahre Gestalt zurückzugeben. S. hat wiederholt die polabische Grammatik sein bestes Werk genannt. Tag und Nacht saß er über ihr, um möglichst bald die Hände für das Hauptwerk frei zu bekommen. Als die Reinschrift des Manuscriptes bis auf wenige Seiten vollendet war, brach er zusammen. Eine Lungenentzündung, wie er sie schon früher gehabt, befiel ihn. Diesmal war sein Körper durch übermäßige Arbeit so geschwächt, daß er ihr nach wenigen Tagen am 6. December 1868 erlag. Das Hauptwerk, die vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen, seit 18 Jahren geplant (Sprachen Europas. 191 Anm.), das Dichten und Trachten seiner letzten Lebenszeit, blieb unvollendet, nur ein Theil davon war als [415] Collegienheft aufgezeichnet. Ein herbes Schicksal ließ ihn hier so wenig wie in seiner äußeren Stellung das ersehnte Ziel erreichen. Die postume Laut- und Formenlehre der polabischen Sprache (St. Petersburg 1871) blieb sein letztes Werk.

Nächst Bopp, dem Begründer, hat Niemand der Sprachwissenschaft die Spuren seiner Persönlichkeit so tief eingedrückt, wie S. Seine große zwei Jahrzehnte rastlos mit erstaunlicher Fruchtbarkeit schaffende Kraft entsprang „einer Natur von Leder und Schmiedeeisen“, wie er sich selbst bezeichnete, und einem unbeugsamen Willen. Wenige Stunden Schlafes, oft nur drei, genügten ihm, und einige Uebungen an Barren oder Reck, welche neben seinem Arbeitszimmer angebracht waren, stellten die nachlassende Spannkraft wieder her. Zur Erholung betrieb er andere weit abliegende Dinge mit demselben Eifer und derselben Anstrengung, wie seine Berufswissenschaft: in Bonn Phrenologie und Musik, in Prag Medicin, in Jena Gärtnerei und mikroskopische Botanik. Seit er im Mai 1858 ein Häuschen, dasselbe, in welchem einst Johann Heinrich Voß gewohnt, mit Garten erworben hatte, warf er, von jeher ein Blumenfreund und Kenner der Botanik, sich auf wissenschaftliche Gärtnerei. Die erste Honorarrate für das Compendium ward zur Erbauung eines Gewächshauses verwendet. Und wie oft ist er dann in tiefer eisiger Winternacht von der Arbeit dorthin geeilt, um nachzuheizen oder die Fenster zu decken. Von großer Vollständigkeit waren namentlich seine Helleborus-, Cactus- und Farnsammlungen. Er stand in Austausch mit den botanischen Gärten von Berlin, Leipzig, Würzburg, Innsbruck und mehreren angesehenen Gärtnern. Die nicht unbedeutenden Kosten dieser Liebhaberei deckte er durch die Zucht von Riesenastern auf auswärts gepachtetem Lande, welche er zu solcher Vollkommenheit brachte, daß eine Erfurter Samenhandlung ihm jährlich seine ganze Ernte abnahm. Diese wissenschaftliche Gärtnerei führte ihn endlich ans Mikroskop. Durch Pringsheim und dessen Assistenten angeleitet, verbrachte er in seinen letzten Jahren oft die ganzen Tage mit pflanzenphysiologischen Untersuchungen und kam erst mit Sonnenuntergang an die slavischen Studien, welche dann bis gegen Sonnenaufgang fortgesetzt wurden. Wären ihm noch einige Lebensjahre beschieden gewesen, so würde er sich zweifellos auch auf botanischem Gebiete als Schriftsteller versucht haben, wie er es seit 1862 auf dem des Gartenbaues that. [In Stöckhardt’s Zeitschr. f. dtsche. Landwirthe XIII, 1862 (Ziehkarst, Yams und Anzeigen, unterzeichnet 1. 18, ebenso in den folgenden Jahren), XV, 1 (die Darwinsche Theorie und die Thier- und Pflanzenzucht). In der deutschen Gartenzeitung 1863 sind die Berichte über den Jenaischen Gartenbauverein von ihm verfaßt, ferner „über Kittfalzthüren bei Kanalheizung“, 1864 Nr. 5 und 7.]

In Bonn hatte er sich dem großen Strome der Geselligkeit willig hingegeben, durch sprudelnden Geist und Liebenswürdigkeit alle Welt bezaubernd. In Jena lebte er, verbittert durch die fortwährende Zurücksetzung, ganz eingezogen. Fast nur die von ihm geleiteten Uebungen des Männerturnvereins und Sitzungen des Gartenbauvereins brachten ihn unter Menschen. Das innige Zusammenleben mit seiner Frau und den Kindern, zwei Knaben und einem Mädchen, füllte sein Gemüth völlig aus. Für seine Schüler ließ er sich keine Mühe verdrießen, opferte ganze Nachmittage und Abende einem einzigen, wenn er nachhaltigen Eifer bei ihm erkannt hatte. Wem der schlichte, schwer zugängliche, nach außen bisweilen rauh und schroff auftretende, im Freundeskreise aber joviale Mann sich einmal erschlossen hatte, an dem hielt er fest, für den war ihm kein Opfer zu groß. Er war der treueste Freund, der pflichteifrigste Lehrer, seinen Schülern ein väterlicher Berather und Helfer in der Noth, lauter und selbstlos vom Wirbel bis zur Zehe.

[416] Nekrologe: Augsburger Allg. Zeitung, Beilage 349, 14. December 1868, S. 5323 f. (G. Curtius); Weser-Zeitung, 23. und 24. Decbr. 1868 (Const. Bulle); Revue de l’instruction publique, Paris 31. Decbr. 1868, p. 651 (M. Bréal); Světozor, Prag 11. Januar 1869, S. 31 (mit Bildniß); Zeitschrift f. vgl. Sprachf. XVIII, 315 = Beitr. z. vgl. Sprachf. VI, 251 (J. Schmidt); Unsere Zeit 1869, S. 388; Rad jugoslavenske akademije VI, Agram 1869 (V. Jagić); Revue de linguistique III, 261 (mit Bildniß; A. Hovelacque); Illustrirte Zeitung 1869, Nr. 1337; Sonntagsblatt von Fr. Duncker 1869, Nr. 23. – Hermann Schäffer, Erinnerungsblätter der mathemat. Gesellschaft zu Jena, 4. Sammlung, S. 36, Jena 1870. – Biographie: Sal. Lefmann, Aug. Schleicher, Leipzig 1870 (nicht überall zuverlässig; angezeigt von Spiegel, Heidelberger Jahrb. der Litteratur 1871, Nr. 8).