ADB:Ruhnken, David
Dan. Wyttenbach Angabe „in Pomeraniae ulterioris celebri urbe Stolpa“; auch bezeichnet er selbst wiederholt die Stadt Stolp als seine Heimath. Da aber die Stolper Kirchenbücher seinen Namen nicht enthalten, auch Wyttenbach über den Vater Ruhnken’s beifügt „pater munus Sculteti, quod est praetoris rusticani, gessit“, so scheint R. nicht in der Stadt Stolp selbst, sondern auf dem Lande in der Nähe geboren zu sein. Mit Sicherheit ist festgestellt worden, daß die Familie wenigstens von 1724 an in Wintershagen bei Stolpmünde wohnte; das dortige Kirchenbuch weist für die Jahre 1724–43 die Geburt von fünf Söhnen und vier Töchtern nach, unter denen sich David aber nicht befindet. – Auch die Schreibung des Namens ist nicht zweifellos: das Wintershagener Kirchenbuch schreibt Ruhncken, erst von 1744 an Ruhnken. Die Angabe (bei Eckstein, Nomencl. philol., und Freund, Trienn. philol.), daß die ursprüngliche Form des Namens Ruhneken gewesen sei, ist nicht erwiesen.
Ruhnken: David R. oder – wie er sich in Holland ausschließlich nannte – Ruhnkenius, einer der größten Humanisten des 18. Jahrhunderts. Er war am 2. Januar 1723 geboren und zwar nach seines BiographenDer Vater, Hans Christian R., war Verwalter des gräflich Podewils’schen Lehngutes Wintershagen und als solcher zugleich Inhaber der Ortspolizeigewalt; seine Vermögensverhältnisse waren günstig. Da der junge David schon früh Geschick zum Lernen zeigte und die Mutter, eine fromme lutherische Frau, den sehnlichen Wunsch hegte, ihren Sohn einst auf der Kanzel zu sehen, so gab der Vater, welcher selbst reformirt war, seine Zustimmung dazu, daß der Knabe gelehrten Unterricht erhalte. Zu diesem Zwecke wurde er zunächst nach dem nur zwei Meilen von Stolp gelegenen Schlawe, wo Verwandte der Familie lebten, gebracht. Hier hat er unter der Leitung des trefflichen Rectors Kniephof die ersten Kenntnisse im Lateinischen sich angeeignet. Wie lange der dortige Aufenthalt gedauert hat, ist nicht nachweisbar. Um 1737 entschlossen sich die Eltern, ihn auf das Friedrichscollegium in Königsberg i. Pr. zu senden, welches unter der Leitung des von Stolp dorthin betufenen „beliebten und redlichen“ Rectors Christian Schiffert einen neuen Aufschwung und guten Ruf, namentlich in frommen Kreisen, gewonnen hatte. In der That fand auch R. dort gute Förderung, so wenig ihm auch der strenge Pietismus, der die Anstalt beherrschte, zusagen mochte. Noch dreißig Jahre später spricht er von der „tetrica illa quidem, [616] sed utilis tamen nec poenitenda fanaticorum disciplina“ in Königsberg. Unter seinen dortigen Schulfreunden treten namentlich zwei hervor, sein Landsmann Georg David Kypke aus Neukirchen bei Labes, später Professor der morgenländischen Sprachen in Königsberg, und Immanuel Kant. Mit diesen verband er sich zum gemeinsamen Lesen namentlich römischer Schriftsteller; er hatte Mittel genug, die besten Ausgaben für diese gemeinschaftlichen Studien zu beschaffen.
Um Ostern 1741 verließ R. die Schule, um zunächst die Heimath wieder aufzusuchen und mit den Eltern über die Wahl der zu besuchenden Universität zu berathen. Königsberg, Frankfurt und Halle kamen in Frage; R. zog es aber vornehmlich nach Göttingen, um dort bei Joh. Math. Gesner gründliche Studien im Griechischen machen zu können. Die Eltern ließen sich überzeugen, daß hierdurch ihres Sohnes theologische Studien wesentlich unterstützt werden würden, und gaben ihre Einwilligung; daß der junge Mann der Theologie und dem geistlichen Berufe immer abgeneigt gewesen und durch den Königsberger Pietismus von dieser Abneigung nicht zurückgebracht war, scheinen sie nicht geahnt zu haben. – R. reiste zunächst nach Berlin, wo er sich einige Tage aufhielt, um die dortigen Sehenswürdigkeiten zu betrachten; er wollte von dort aus die sächsischen Universitäten durch kurzen Besuch kennen lernen, ehe er nach Göttingen käme. In Wittenberg besuchte er den Professor der Beredtsamkeit Johann Wilhelm v. Berger, dessen archäologischen Schriften in Königsberg ein Gegenstand seiner Studien gewesen waren, und fand bei diesem die freundlichste Aufnahme. Berger fand Gefallen an dem begabten und wißbegierigen jungen Studenten und machte ihn auch mit seinem juristischen Collegen, dem Professor der Geschichte Johann Daniel Ritter bekannt; beide zogen R. in ihren täglichen Verkehr und gaben ihm ganz neue Anschauungen und Ausblicke in die Gebiete der Alterthumswissenschaft. So gingen Wochen dahin, ohne daß R. zur Weiterreise sich entschließen konnte. Endlich beschloß er, in Wittenberg zu bleiben. In einem Briefe an die Eltern versicherte er diesen, daß er in Wittenberg das gefunden habe, was er in Göttingen suchen wollte, und bat um ihre Zustimmung zu seinem Verbleiben. Wider Erwarten erhielt er die gewünschte Erlaubniß; die Eltern freuten sich, daß er in einem ihnen näher gelegenen Orte studieren werde; sie hofften, daß er in zwei Jahren nach vollendeten Studien zu ihnen zurückkehren werde. Bekanntlich hat R. die Heimath niemals wiedergesehen.
Während der beiden Jahre, welche R. nun in Wittenberg verbrachte, blieben Berger und Ritter seine hauptsächlichsten Lehrer. Bei Ritter hörte er besonders römisches Recht und Geschichte, bei Berger römische Alterthümer und Litteraturgeschichte. Vornehmlich verdankte er aber diesem die Aneignung eines reinen und fließenden lateinischen Stiles und die umfassende Kenntniß des für philologische Studien erforderlichen gelehrten Apparates, die ihn immer auszeichnete. Neben seinem Hauptfache trieb er auch Wolf’sche Philosophie und Mathematik, nur von Theologie war nicht die Rede. – Von den in Wittenberg gemachten Bekanntschaften war ihm kaum eine werthvoller, als die des Rectors der Leipziger Thomasschule Joh. Aug. Ernesti, der wiederholt auf längere Zeit sich dort aufhielt und durch Berger auf R. aufmerksam gemacht war; durch ihn wurde der junge Gekehrte, dessen griechische Studien in Wittenberg nur wenig gefördert worden waren, auf Tib. Hemsterhuys als auf den rechten Lehrer des Griechischen hingewiesen. So wurde eine Fortsetzung der Studien in den Niederlanden von R. ins Auge gefaßt. Zunächst jedoch wollte er in Wittenberg eine Probe seiner Studien ablegen; im December 1743 vertheidigte er unter Ritter’s Vorsitz seine „Disputatio prior de Galla Placidia Augusta“ und erlangte hierdurch die philosophische Magisterwürde. Diese erste Schrift Ruhnken’s ist [617] dem Erbherrn von Wintershagen, Grafen Otto Friedrich v. Podewils, gewidmet; in der Widmungsschrift vom 25. December 1743 dankt R. dem Grafen für die vielfachen Wohlthaten, die derselbe ihm, nachdem er die ersten Spuren geistiger Begabung in ihm entdeckt, in Pommern, Preußen und nun in Sachsen stets erwiesen habe.
Für den nun ernstlich gefaßten Plan, nach Leyden zu gehen, war die Zustimmung der Eltern nur schwer zu erlangen; auf Ruhnken’s Bitte um ihre Erlaubniß und Unterstützung kam die fast selbstverständliche Antwort, er solle nach Hause zurückkehren, etwa noch ein Jahr auf einer preußischen Universität studieren und dann ein Amt suchen, das ihn ernähren könne. Erst als Professor Berger vermittelnd dazwischen trat, ließen die Eltern sich mit dem Plane einigermaßen versöhnen; wenn sie den Entschluß des Sohnes auch nicht zu billigen vermochten, so schickten sie doch reichlich Geld zur Ausführung; die Wittenberger Professoren und Ernesti sorgten für Empfehlungen und stellten jede mögliche weitere Förderung in Aussicht. Im Frühjahr 1744 reiste R. in Begleitung eines jungen Studenten, Namens Uffenbach, auf dem kürzesten Wege nach Leyden, und fand hier bei Gerhard Meermann – später Syndicus von Rotterdam – einem Freunde Ritter’s, und bei Franz Oudendorp, dem Professor der Geschichte, an den ihn Berger empfohlen hatte, freundliche Aufnahme. Eine Empfehlung an Hemsterhuys hatte er nicht mitgebracht; er wollte versuchen, ob er dessen Vertrauen durch sich selbst gewinnen könne. Gleich am ersten Tage stellte er sich ihm vor und erzählte ihm, was ihn nach Leyden geführt. Hemsterhuys hörte den jungen Mann, welchen sein tadelloser lateinischer Ausdruck von vornherein empfahl, wohlwollend an und gab ihm werthvollen Rath. R. seinerseits fühlte sich beglückt; Hemsterhuys’ Persönlichkeit hatte seine Erwartungen weit übertroffen, er schien ihm, wie Wyttenbach aus seinem Munde berichtet, die sämmtlichen früheren Zierden der Leydener Hochschule, wie Scaliger und Salmasius, in einer Person zu ersetzen.
Es begann nun eine Periode eifrigster und erhebendster Arbeit; die griechischen Studien konnten endlich unter Hemsterhuys’ vorzüglicher Anleitung ernstlich betrieben werden. Homer und die Historiker wurden zunächst durchgearbeitet, bald folgten Hesiod, Kallimachus, Apollonius Rhodius u. A.; die kritischen und exegetischen Ergebnisse dieser Lectüre fanden in Hemsterhuys einen genauen und anerkennenden Beurtheiler. In die Oeffentlichkeit trat R. mit diesen Studien in den beiden „Epistolae criticae“, deren erste – über die Homerischen Hymnen, Hesiod und die griechische Anthologie – er 1749 an seinen Freund und Mitschüler Valckenaer, die zweite – über Kallimachus, Apollonius und Orpheus – 1751 an Ernesti richtete. Die scharfsinnigen Bemerkungen und Verbesserungen, welche diese beiden Schriften enthalten, zeigten der gelehrten Welt einen kritischen Geist von einem ganz ungewöhnlichen Reichthum an Wissen und seltener Kenntniß des Griechischen.
Mit den wissenschaftlichen Arbeiten war vom Anfange des holländischen Aufenthaltes an eine nicht unbedeutende Unterrichtsthätigkeit verbunden. Schon als Hemsterhuys’ Lieblingsschüler und von diesem empfohlen, wurde er vielfach um Unterricht angegangen; nicht wenig lenkten aber auch seine weltmännischen Formen, die sein Auftreten wesentlich von dem anderer Gelehrten unterschieden, die Aufmerksamkeit vornehmer Familien auf ihn hin. Drei Jahre hindurch (1744–46), leitete er in Leyden die akademischen Studien eines jüngeren Bruders von Gerhard Meermann; darauf siedelte er auf einige Zeit nach Amsterdam in das Haus von Jakob Philipp d’Orville über, der früher selbst ein Schüler von Hemsterhuys gewesen war und nun sein großes Vermögen zur eifrigen Förderung philologischer Studien verwendete. R. fühlte sich hier überaus glücklich; mit [618] keinem Könige wolle er tauschen, schreibt er an Ritter. Mit Leyden konnte er in regelmäßiger Verbindung bleiben; wöchentlich einmal fuhr er dorthin, um auf der Bibliothek zu studiren. – Im Herbste des Jahres 1747 endete der Aufenthalt in Amsterdam; R. kehrte nach Leyden zurück und übernahm hier wieder die Leitung eines jungen Menschen von reicher und vornehmer Familie. Freilich nicht auf lange; malo parce ac tenuiter vivere, schreibt er am 16. October 1747 an d’Orville, quam hominibus illis opulentis quidem, sed ἀμούσοις operam meam addicere: Quaerant isti sibi politulos Gallulos, quos filiorum studiis moribusque praeficiant. Diese Aeußerung lehrt, warum das Verhältniß so bald sich löste; wenn auch Ruhnken’s Einnahmen jetzt zunächst recht bescheiden wurden, so beugte doch d’Orville jeder Noth vor; für diesen war er fortdauernd vielfach thätig, besorgte ihm Bücherankäufe und mannichfache wissenschaftliche Arbeit.
Im J. 1748 übernahm R. wieder eine Stellung als Leiter eines jungen Studenten Nicolaus de Dirquens und begleitete diesen, als er wegen Erkrankung in seine Heimathstadt Harlem zurückkehren mußte, auch dorthin. Das glänzende Leben in dem reichen Hause, in welches R. hier eintrat, scheint ihm an sich wohl behagt zu haben, unter den Zerstreuungen des Gesellschaftslebens – in deliciis aulicis et salutationibus – mußten aber seine Studien leiden; er kehrte daher 1749 nach Leyden zurück und hat während der nächsten Jahre seine eifrige Arbeit nur selten und auf kurze Zeit wieder durch Reisen unterbrochen. Nur während der Sommerferien brachte er wohl einige Tage bei befreundeten Familien auf dem Lande zu, 1750 begleitete er den erkrankten Professor Alberti nach Spaa. – Ein lebhafter geselliger Verkehr, für den er Neigung und Begabung in gleichem Maße hatte, bewahrte ihn vor dem Versinken in die Einseitigkeiten der Stubengelehrsamkeit; er war ein geübter Reiter und gewandter Tänzer, malte und blies die Flöte. An der Jagd, die er eifrig pflegte, hat er bis in sein Alter lebhafte Freude gehabt. Das behagliche und auch wohl üppige Leben in den Niederlanden sagte ihm zu: die politischen Verhältnisse, die er dort fand, schienen ihm ein Wiederaufleben der republikanischen Freiheit der alten Völker zu sein; es dauerte nicht lange, so fühlte er sich ganz als Niederländer. Schon 1747 hatte er an Ritter geschrieben, daß er an eine Rückkehr nach Deutschland gar nicht denke: „jam enim λωτὸν ἔϕαγον“. An den ausschließlichen Gebrauch der niederländischen oder französischen Sprache im täglichen Verkehr gewöhnte er sich rasch und vergaß die Muttersprache bald in dem Maße, daß er in späteren Jahren nicht mehr sich deutsch auszudrücken vermochte. Sein Uebertritt zur reformirten Kirche, der mit seines Vaters Wünschen übereinstimmte, trug noch mehr dazu bei, ihm die Heimath zu entfremden. Alle Versuche, welche seine deutschen Freunde machten, ihn zur Annahme einer Professur an einer heimathlichen Universität zu bewegen, blieben völlig erfolglos; sein ganzer Verkehr mit Deutschland blieb auf Briefe beschränkt.
Wesentlich hatte zu Ruhnken’s Entschluß, ganz in den Niederlanden zu bleiben, Hemsterhuys’ Einfluß beigetragen, der in dem jungen Gelehrten sich einen würdigen Nachfolger heranzubilden wünschte. Zunächst freilich war es schwer, eine entsprechende Stellung für R. zu finden. Die nächstliegende Möglichkeit war die, daß R. das Rectorat eines der zahlreichen niederländischen Gymnasien übernähme; da er aber nach Sitte der Zeit genöthigt gewesen wäre, sich zu verheirathen und alsdann Zöglinge bei sich aufzunehmen, so wies er diesen Gedanken von vornherein ab; überhaupt hatte er keine Neigung zum Schulamte. Er kam vielmehr, wol durch Hemsterhuys mit angeregt, auf den Gedanken, die früher in Wittenberg betriebenen juristischen Studien wieder aufzunehmen, um sich auch für eine juristische Professur – wie sein Freund Ritter [619] – tüchtig zu machen. Ganz hatte er das Studium des Rechts überhaupt nicht vernachlässigt; die seiner Führung übergebenen jungen Studenten waren Juristen gewesen, deren Arbeiten er mit stetiger Theilnahme geleitet hatte. So machte er sich jetzt an die Herstellung einer kritischen Ausgabe des „Promptuarium Juris Romani“ des Constantinus Harmenopulus; aber der Mangel eines ausreichenden handschriftlichen Apparates ließ die Arbeit nicht zur Vollendung kommen. Dagegen konnte er 1752 „Thalelaei, Theodori, Stephani, Cyrilli aliorumque Juris consultorum graec. commentarii in titulos Dig. et Cod. de Postulando sive de Advocatis et Procuratoribus et Defensoribus; pr. ed. lat. vert. et castigavit D. R.“ erscheinen lassen. Die Ausgabe enthält außer dem griechischen Texte und der lateinischen Uebersetzung einen eingehenden Commentar und in der Vorrede einen Bericht über die aus der Leydener Bibliothek von R. aufgefundenen Handschriften. Mit dieser Arbeit schloß R. aber seine juristischen Studien wieder ab; seine Neigung zog ihn doch zurück zur Beschäftigung mit der eigentlichen Philologie und vornehmlich zur Textkritik der griechischen Schriftsteller, für die er sich vornehmlich befähigt fühlte. Schon 1748 hatte er seinem Freunde Ritter schreiben können, daß er nach Hemsterhuys’ und Valckenaer’s Meinung auf diesem Gebiete etwas leisten könne, „quod prope Bentlejanum sit“, jetzt wendete er sich mit aller Energie der Kritik des Plato zu. Er hatte es übernommen, für zwei Buchhändler in Glasgow eine neue Textrecension dieses Schriftstellers herzustellen, und hatte zu diesem Zwecke mit den ihm zur Verfügung gestellten Geldmitteln an verschiedenen Orten den handschriftlichen Apparat zusammenzubringen begonnen. So erhielt er u. A. von der Sangermann’schen Bibliothek in Paris eine Abschrift der einzigen noch erhaltenen Handschrift von des Timäus kleinem grammatischen Wörterbuche zu Plato. So gering der Werth dieses Schriftchens an sich ist, so erkannte R. in demselben doch ein schätzbares Hilfsmittel für das Verständniß des Plato, und unternahm nun zunächst eine Ausgabe desselben, welche 1754 unter dem Titel „Timaei Sophistae lexicon vocum Platonicarum“ erschien. Wie diese Bearbeitung das sorgfältigste Studium des Plato voraussetzte, so ist sie eines der wichtigsten Hülfsmittel für das Verständniß des Philosophen geworden; die Fülle von Gelehrsamkeit und der kritische Scharfsinn welche in dem Commentare Ruhnken’s zu Tage treten, sind wahrhaft erstaunlich; erst von dieser Ausgabe an ist eine grammatische Erklärung und philologisches Studium des bisher ausschließlich den Philosophen überlassenen Plato möglich geworden. Wie die „Genealogie der dem Plato nachgebildeten Stellen aller folgenden Schriftsteller“ nachwies, so machte er auch den Commentar zu einem „Hauptrepertorium für das Studium der griechischen Sprache“. Es entsprach der Sitte oder Unsitte vieler bedeutender niederländischer Philologen, daß an sich unbedeutende und kleine Schriften zum Substrat weitausgreifender gelehrter Ausführungen gemacht wurden: kaum jemals ist aber auf einem so kleinen Raume so viel Wissen zusammengedrängt worden wie hier. Die kleine Schrift, welche später noch wiederholt aufgelegt wurde, ist der Ausgangspunkt für alle Platostudien der späteren Zeit geworden; daß François Hemsterhuys, der Sohn seines väterlichen Freundes, sich dem Plato zuwendete, ist ausschließlich Ruhnken’s Verdienst gewesen.
Der Wunsch, für die beabsichtigte Platoausgabe umfassendere Studien in den Bibliotheken von Paris machen zu können, erfüllte sich gegen Ende des Jahres 1754. Den dortigen Aufenthalt nutzte R. zu umfassendsten Arbeiten auf der königlichen und der Benedictiner-Bibliothek von St. Germain aus; eine überaus große Zahl von Handschriften wurde abgeschrieben, ausgezogen, verglichen; eine ganze Reihe bis dahin unbekannt gewesener griechischer Schriftsteller – vornehmlich Grammatiker – der Litteratur wiedergewonnen. In den Kreisen der [620] Pariser Gelehrten war R. kein Unbekannter mehr, schon 1753 war er zum Mitgliede der Akademie der Inschriften ernannt worden; so konnte er denn jetzt manche interessante Bekanntschaft machen u. A. mit Sal. Musgrave und Thomas Tyrwhitt, und manche werthvolle Verbindung anknüpfen. Auch was Paris sonst bot, genoß er freudig; mit dem Scherznamen Hercules Musagetes haben ihn seine dortigen Freunde belegt, die seine Fähigkeit zu Arbeit und Genuß an ihm bewunderten. – Sein Plan war gewesen, von Paris nach Madrid zu gehen, um auch die dortigen Bibliotheken zu durchforschen; die Erwägung jedoch, daß die Pariser Ausbeute ihm für Jahre hinaus übermächtigen Arbeitsstoff biete, ließ ihn den Plan aufgeben, für dessen Ausführung durch den niederländischen Gesandten schon alles vorbereitet war. Im Sommer 1755 kehrte R. nach Leyden zurück.
Das entscheidende Wort für die baldige Rückkehr hatte Hemsterhuys gesprochen. Dieser fühlte sich bei seinem Alter den umfangreichen Arbeiten seines Amtes nicht mehr gewachsen und wünschte, R. als Lector der griechischen Sprache zum Gehülfen zu haben. Zwar konnte R., wenn er in diese Stellung eintrat, sich keine Hoffnung machen, dereinst Hemsterhuys’ Nachfolger zu werden – dazu war bereits Valckenaer bestimmt –, aber er erwarb doch einen gewissen Anspruch auf die Oudendorp’sche Professur für Geschichte und Beredtsamkeit, deren Erledigung in naher Aussicht stand und die er auch in der That später erhielt. So übernahm er denn das Gehülfenamt und eröffnete seine Vorlesungen am 16. Mai 1757 (nicht im October, wie Wyttenbach irrthümlich angibt) mit einer Rede „De Graecia artium et doctrinarum inventrice“. Die Vorlesungen, zu denen er verpflichtet war, umfaßten in erster Linie das Neue Testament; so hat er über das Evangelium Lucae und die Apostelgeschichte lesen müssen, wenngleich ihm dieser Stoff sehr fern lag; daneben aber behandelte er Homer, Xenophon und andere Classiker. Seine Vorlesungsart war die damals in den Niederlanden und namentlich in Leyden allgemein übliche: er las zuerst den Text, übersetzte denselben alsdann in das Lateinische und dictirte zuletzt den Zuhörern seine Erklärung schwieriger Stellen in die Feder. Selbst frei zu sprechen konnte er sich nicht entschließen; er fürchtete, daß dadurch die Deutlichkeit des Vortrages, die Genauigkeit der Entwicklung, die Ordnung, Correctheit und Schönheit des Ausdrucks leiden könne. Ueberhaupt legte er weit mehr Gewicht auf die Uebung im Schreiben, als im Sprechen, welche sich nach seiner Meinung nur aus der Schreibfähigkeit entwickele: „stilus optimus et praestantissimus dicendi effector et magister“.
Oudendorp starb im J. 1761; wie schon früher in Aussicht genommen, rückte nun R. in die erledigte Professur der Universalgeschichte und Beredsamkeit ein, allerdings nicht ohne mehrfachen Widerspruch. Namentlich empfanden P. Burmann der Jüngere und Johannes Schrader es als eine kränkende Zurücksetzung, daß ihnen der Ausländer R. vorgezogen wurde, aber auch unbefangene Beurtheiler meinten doch mit Recht, daß Ruhnken’s Vorzüge auf einem wesentlich andern Gebiete lägen, als auf dem durch das neue Amt ihm zugewiesenen Arbeitsfelde. Im September 1761 trat er die ordentliche Professur mit einer geistvollen und witzigen Rede „De doctore umbratico“ an. Er schildert hier mit treffendem Spotte den Schulpedanten, „das Jammerbild eines in seinem Berufe versteinerten und seinen Beruf versteinernden Lehrers“ und entwickelt andererseits den liberalen Geist, der ihn selbst erfüllt, den höheren und freien Standpunkt, auf dem er unter den Humanisten seiner Zeit stand, und die weltmännische Bildung, die ihn vor so vielen Gelehrten auszeichnete. Wenn aber dieser Vortrag durch die hohe Auffassung des philologischen Studiums die Zuhörer begeisterte, durch die scharfe Satire zum Lachen reizte, so erbitterte derselbe [621] andererseits eine große Reihe von verdienten Schulmännern des Landes, welche sich getroffen fühlten, oder sich wenigstens verspottet glaubten. Es entwickelte sich ein offener Gegensatz zwischen R. und einer großen Zahl niederländischer Gymnasialrectoren – unter diesen namentlich zu dem von Leyden selbst –, welcher für R. keineswegs unbedenklich war. Der geringe Besuch, welchen Ruhnken’s lateinische Vorlesungen, die er neben den geschichtlichen zu halten hatte, fanden, wird von Wyttenbach auf die Feindschaft der Rectoren zurückgeführt. Und einer der Gründe des schwachen Besuches war es auch gewiß, wenn die Rectoren vor ihren Schülern geringschätzig über R. urtheilten und in den jungen Leuten die Anschauung erweckten, als ob bei ihm wohl Griechisch, aber wenig anderes zu lernen sei. – R. selbst hat einige Jahre später in der Gedächtnißrede auf Hemsterhuys die Gelegenheit ergriffen, um dem niederländischen Lehrerstande für die durch seine Uebertreibung angethane Kränkung vollständige Genugthuung zu gewähren.
Das neue Amt erforderte viel Arbeit. R. hatte Universalgeschichte zu lehren, ferner über römische Alterthümer zu lesen und lateinische Schriftsteller zu interpretiren. Die geschichtlichen Vorlesungen schloß er, dem Herkommen folgend, an „Tursellini historiae a mundo condito libri decem“ an; es wird von ihm gerühmt, daß er, abweichend von der Lehrmethode der Jesuiten, nicht bloß die jüdische und römische Geschichte behandelt, sondern in kritischer und pragmatischer Behandlung die Geschichte der Hauptvölker bis auf das 18. Jahrhundert herabgeführt habe. Auch in diesen Vorträgen las er nur seine Hefte ab; der Besuch war nicht sehr zahlreich, wenn auch noch stärker, als nach der in Holland herrschenden Anschauung über den Werth geschichtlicher Vorlesungen überhaupt erwartet werden durfte. – Werthvoller waren wohl seine Vorträge über römische Alterthümer, welche sich über alle Zweige der Alterthumskunde, auch Religion und Kriegswesen, erstreckten, die er „im kritischen Geiste des Polybius“ zu behandeln suchte. – Die lateinischen Schriftsteller, welche er mit Vorliebe zu behandeln pflegte, waren Terenz, Sueton, Cicero’s Briefe und Ovid’s Heroiden; seine Interpretation ging von genauer Worterklärung und Auseinandersetzung des Sprachgebrauches aus und knüpfte an diese auch eine sorgfältige ästhetische und Sacherklärung. So musterhaft diese Methode auch war und so sehr R. sich bemühte, sowol Anfängern verständlich zu sein, als bereits geförderten Philologen zu nützen, so blieb doch die unmittelbare Wirkung auf die größere Menge der Studentenschaft aus; fast nur Ausländer, die in Leyden studirten, besuchten die Vorlesungen.
Trotz dieser zunächst nicht völlig befriedigenden Stellung fühlte sich R. doch mit Leyden so verwachsen, daß er an einen Weggang von dort nicht denken mochte. Als ihm auf Ernesti’s Vorschlag im J. 1761 die durch Gesner’s Tod erledigte griechische Professur in Göttingen angeboten wurde, lehnte er den ehrenden Ruf ab und empfahl Heyne, der dann auch berufen wurde; das Curatorium der Leydener Universität dankte ihm durch eine Gehaltserhöhung um 600 Gulden. Das folgende Jahr (1762) brachte R. einen überaus schmerzlichen Verlust durch den Tod Alberti’s, seines ersten Freundes und Gönners in den Niederlanden. Da er schon an dem ersten Theile der Alberti’schen Hesychiusausgabe mitgearbeitet hatte, so ging jetzt die Pflicht der Vollendung und Herausgabe ganz auf ihn über; der Schlußband erschien 1766, versehen mit einem Anhange werthvoller Emendationen und einer Vorrede, welche dem Andenken des verstorbenen Freundes gewidmet ist.
Im J. 1763 entschloß sich der bereits 40jährige Mann, sich zu verheirathen; früher hatten seine beschränkten Verhältnisse ihm diesen Schritt nicht gestattet und die Versuche, es mehreren seiner Collegen, welche reiche Frauen gefunden [622] hatten, nachzuthun, waren ihm nicht geglückt. Seine Gattin wurde Marianne Heirmans (nicht Maria Geiermann), die wenig bemittelte Tochter eines vor kurzem aus Italien heimgekehrten Kaufmanns, ein erst 18jähriges, sehr begabtes Mädchen, mit der er in glücklicher Ehe in stiller Zurückgezogenheit lebte; den früher sehr ausgedehnten geselligen Verkehr außer dem Hause gab R. jetzt fast ganz auf, nur seiner Jagdliebhaberei blieb er getreu.
Am 7. April 1766 starb 81jährig Tiberius Hemsterhuys, um den zu trauern R. mehr als andere Grund hatte. Bis zur letzten Stunde hatte er, der Lieblingsschüler des Meisters, diesem zur Seite gestanden; Niemand war mehr berufen als R., das Gedächtniß des Heimgegangenen zu ehren. Als R. am 8. Februar 1768 das bis dahin geführte Rectorat der Universität niederlegts, that er dies mit seiner berühmten Rede auf Hemsterhuys, dem „Elogium Tiberii Hemsterhusii“, einem Meisterstücke der Beredtsamkeit, welches nach Form und Inhalt das Vollendetste von allen Arbeiten Ruhnken’s ist. Das Idealbild eines Kritikers und Lehrers wird an Hemsterhuys’ Person dargestellt, der in sich die gesammte Cultur seiner Zeit – in Sprachen und Wissenschaften – vereinigt habe und so der vollendete Gelehrte, der Stolz der Niederlande geworden sei. „Ein wahrhaft goldenes Buch“, nennt Wyttenbach das Elogium, „bei dessen Abfassung alle Musen und Grazien mitgewirkt zu haben scheinen“. – In demselben Jahre erschien eine zweite, sorgsam vorbereitete größere Arbeit, die meisterhafte Ausgabe der Schrift des Rutilius Lupus „de figuris sententiarum et elocutionis“ nebst den verwandten Schriften des Aquila Romanus und Julius Rufinianus und in einem Anhange eine „Historia critica oratorum graecorum“. Die Absicht, in derselben Weise auch die asiatischen und rhodischen Redner zu behandeln, blieb unausgeführt, ebenso auch der damals gehegte Plan einer großen Ausgabe des Cornelius Nepos. R. wendete sich vielmehr wieder Xenophon zu und verfaßte 1770 die trefflichen Anmerkungen zu den Memorabilien, welche in der Ernesti’schen Ausgabe (1772) veröffentlicht sind. Umfangreiche Erörterungen über Longinus hatte er für die erst 1778 erschienene Ausgabe von Toup bestimmt, welche auch die Emendationen enthält, während R. die Schrift „De vita et scriptis Longini“ 1776 selbständig veröffentlichte.
Leider wurde Ruhnken’s Schaffenskraft durch betrübendes häusliches Ungemach nicht wenig gelähmt. Seine junge Gattin verlor 1771 nach schwerer Erkrankung Sprache und Gesicht und hat dan in langem qualvollen Siechthum den Gatten noch überlebt; die jüngere seiner beiden Töchter erblindete; es ist verständlich, wenn er selbst von der dumpfen Gefühllosigkeit spricht, die ihn befallen. Allmählich half ihm sein glückliches, zur Heiterkeit neigendes Naturell über den Jammer in der Familie hinweg; die ältere Tochter – Söhne hatte R. nicht – entwickelte sich zu seiner Freude und wurde der Trost seines Alters und die Stütze des Hauses. – Die Uebernahme der Bibliotheksverwaltung nach Abr. Gronov’s Tode 1774 gewährte R. zunächst lebhafte Befriedigung und zwang ihn, sich auch mit Verwaltungsgeschäften näher zu befassen. Er nahm die Bestrebungen zur Beschaffung eines neuen Locals mit Eifer auf, verlor aber, als seine Wünsche nicht rasch genug erfüllt wurden, bald die Lust an diesem Amte und besuchte schließlich die Bibliothek nur noch selten, meist nur, wenn er hervorragende Fremde dorthin zu führen hatte. Für Vermehrung der Sammlung zu sorgen hielt er für überflüssig, so lange der Raum zur Aufstellung des Erworbenen fehle.
Im J. 1779 konnte R. die so lange erwartete Ausgabe des Vellejus Paterculus erscheinen lassen, in der die feinste kritische Behandlung des Textes sich mit der eingehendsten grammatischen Erklärung auf das glücklichste verband; 1780 folgte die erste Ausgabe des kurz vorher wieder entdeckten Homerischen [623] Hymnus auf die Demeter, bereits 1782 die zweite, vervollständigte und mit dem Anhange der umgearbeiteten „Epistolae criticae“ versehene. Die letzte größere Arbeit, welche R. beschäftigte, war die Ausgabe der Platonischen Scholien, deren Abschluß er nicht mehr erleben sollte; sein Schüler Wyttenbach ließ dieselben 1800 erscheinen. Im Uebrigen fallen in die letzten Jahre noch die vierbändige Ausgabe Muret’s („Mureti opera omnia ex Ms. aucta et emendata, cum brevi annotatione“) 1789, und eine neue Ausgabe des Timäus und der Rede auf Hemsterhuys, sowie die Bearbeitung des Scheller’schen lateinischen Wörterbuches („ingratus idemque inglorius labor“).
Mehr und mehr machten sich die Einwirkungen des Alters bei R. geltend; eine gewisse Lässigkeit trat an die Stelle des früheren lebhaften Eifers; fast nur noch am Morgen arbeitete er, am Nachmittage ging er, so lange es ihm möglich war, auf die Jagd. Es entbehrt eines humoristischen Anstriches nicht, wenn berichtet wird, daß der gelehrte Philologe bei dieser Waidmannsthätigkeit sich durch den Bericht Arrian’s über die Kelten leiten ließ, nur mit Netzen, Bogen und Pfeilen, nicht aber mit Pulver und Blei dem Wilde nachstellte, eifrig seine Windhunde, denen er nach Xenophon’s Vorschrift recht volltönende mehrsilbige Namen beigelegt hatte, pflegte und abrichtete. Auch der Politik hat er gelegentlich sein Interesse zugewendet; 1787 war er ein eifriger Anhänger der Patriotenpartei und begrüßte dann auch in den neunziger Jahren die republikanische Gestaltung Hollands mit lebhafter Freude. Aber die Erfahrungen, die er mit dem Regimente der Clubs machte, brachten ihn doch bald von seiner Vorliebe für die neue Staatsform zurück. – Im Sommer 1796 begannen sich Engbrüstigkeit und Anzeichen von Wassersucht einzustellen; vorübergehend trat dann wohl Besserung ein, aber das Leiden schritt unaufhaltsam fort und führte zuletzt zu schmerzvollem Krankenlager. Er starb am Abend des 14. Mai 1798. – Wyttenbach übernahm die Sorge für die hinterlassene Familie, deren Lage um so bedenklicher war, als Ruhnken’s Vermögensverhältnisse sich niemals in rechter Ordnung befunden hatten. Wyttenbach erreichte es, daß der Staat im December den litterarischen Nachlaß Ruhnken’s für die Leydener Bibliothek erwarb und dafür den drei Hinterbliebenen eine jährliche Rente von je 500 Gulden zahlte.
Ueber Ruhnken’s Aeußeres und seine Art des Auftretens berichtet Rink, der ihn 1789 kennen lernte und ein Jahr lang täglich mit ihm verkehrte, Folgendes: „R. war von mittlerer Statur, näherte sich aber durch seinen gedrungenen festen Körperbau … mehr der Größe, als der Kleinheit. … Alle seine Züge waren nichts weniger als hervortretend und ausgewirkt; Alles schien an ihm gleichsam wie abgerundet bis auf den Kopf und die einzelnen Züge seines Gesichtes. Dabei hatte sein ganzes Benehmen etwas ausnehmend Grades und Schlichtes, daß man eher einen wackeren Bürger gewöhnlicher Art, als den Gelehrten, der er war, in ihm würde vermuthet haben. Er imponirte … anfänglich wenig, aber ein unerschütterliches Zutrauen zu ihm zu gewinnen, war die Sache eines Augenblicks. Ungeachtet seiner Jahre, Anstrengungen und mannichfachen Leiden war sein Ansehen dennoch sehr munter und sein Gesicht voll, roth und meistens faltenlos, eine Folge seines ruhigen, genügsamen und heiteren Temperamentes, ohne welches er wahrscheinlich schon in seiner beschränkten häuslichen Lage Stoff und Ursache genug der Verringerung seiner Körperkräfte würde gefunden haben. Deutsch zu sprechen war er nicht mehr vermögend; so sehr hatte er seine Muttersprache verloren. Auch nicht einmal so viel Zeit verwendete er auf sie, als zum genauen Verständnisse in ihr abgefaßter Schriften würde erforderlich gewesen sein. Ueberhaupt hatte seine ganze Bildung eine Richtung genommen, die nur sehr schwer noch, oder – eigentlicher gesagt – [624] gar nicht mehr einen geborenen Deutschen in ihm erkennen ließ. Aber auch das Französische und Holländische hörte auf, in seinem Munde französisch und holländisch zu sein. Man würde, hätte man es nicht gewußt, schwerlich, wenn er irgend eine dieser Sprachen redete, geahnt haben, daß er sich einst geraume Zeit in Paris aufgehalten und so viele Jahre, bei weitem die meisten seines Lebens, in Holland zugebracht habe. Selbst das Lateinische endlich sprach er lange mit der Fertigkeit nicht, die man bei einem solchen Kenner desselben hätte voraussetzen sollen. Der Grund davon lag … gerade in seinem Gefühl von echter Latinität, das im schnellen Flusse der Rede für ihn vielleicht zu oft würde verletzt worden sein, und in der Prätensionslosigkeit seines Charakters. Er mochte indessen in einer Sprache reden, in welcher er wollte, immer hörte man ihn gerne, denn alles, was er sagte, hatte Gehalt, Deutlichkeit, Präcision und etwas besonders Angenehmes.“
Unter den glänzenden Namen der niederländischen Philologen des 18. Jahrhunderts steht der von R. – den „Princeps criticorum“ nennt ihn F. A. Wolf in der Widmung des Homer – oben an durch „Reichthum des Findens, Fülle der Gelehrsamkeit und Selbstbeherrschung, um diese Gaben auf bestimmte fest abgegrenzte Ziele zu concentriren, nicht in unruhige Vielgeschäftigkeit zu zerstreuen (L. Müller)“. Und gerade aus dieser etwas einseitigen Beschränkung auf die Kritik, welche seiner besonderen Begabung entsprach, sind die Arbeiten erwachsen, die seinen Namen unsterblich gemacht haben; für die Wahrheit des Wortes, welches er in der Gedächtnißrede auf Hemsterhuys gebrauchte, „criticus non fit, sed nascitur“, ist durch ihn selbst der überzeugende Beweis geliefert worden.
- Die Hauptquellen für das Leben Ruhnken’s sind die „Vita Davidis Ruhnkenii autore Dan. Wyttenbachio“ 1799, später mehrfach wieder abgedruckt, und Dav. Ruhnkenii opuscula, ed. II, 1823, (Dav. Ruhnkenii orationes, dissertationes et epistolae, ed. F. Tr. Friedemann 1828, 2 Bde., mit Ruhnken’s Bildnisse); – ferner: Fr. Th. Rink, Tib. Hemsterhuys und Dav. Ruhnken, 1801 (hauptsächlich nach Wyttenbach). – Schlichtegroll, Nekrolog für 1798, Bd. I, S. 1–53. Manches Neue bringt: H. Petrich, D. R., ein Lebensbild mit besonderer Rücksicht auf Ruhnken’s Beziehungen zu seiner pommerschen Heimath, in der Berliner Zeitschrift für Gymnasialwesen XXXIV, S. 81–111. – Ueber die Bedeutung seiner Arbeiten vornehmlich L. Müller, Gesch. der klass. Litteratur in den Niederlanden, 1880, S. 82 bis 92, und bei Bursian, Gesch. der klass. Philologie. – Verzeichniß der Schriften Ruhnkens, auch der späteren Ausgaben, am zuverlässigsten bei W. Pökel, Philolog. Schriftsteller-Lexikon, S. 233.