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ADB:Pirazzi, Emil

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Artikel „Pirazzi, Emil“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 69–72, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Pirazzi,_Emil&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 04:46 Uhr UTC)
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Pirazzi: Emil P., politisch-religiöser Agitator und Publicist, sowie Dramatiker, wurde am 3. August 1832 zu Offenbach geboren. Er war Enkel eines Piemontesen, der am Ende des 18. Jahrhunderts die noch bestehende Firma G(iorgio) Pirazzi und Söhne zu Offenbach gegründet hatte, und Sohn Joseph Pirazzi’s (1799–1868), der sich in den Dreißigern und Vierzigern durch lyrische Veröffentlichungen in Tagesblättern, besonders in der „Didaskalia“ des Frankfurter Journals, namentlich aber durch Begründung der ersten deutschkatholischen Gemeinde Südwestdeutschlands 1845 (in Offenbach) bekannt machte. Nach dem Besuche der Realschule ins Geschäft der Familie, dessen Theil- und (1868) Allein-Inhaber er später ward, eingetreten, reiste er 1851 zur Londoner Weltausstellung, 1856–57 nach Griechenland und tief hinein, theilweise mit dem noch unberühmten Ethnologen Adolf Bastian, nach Aegypten nilaufwärts bis Philä, im Frühlinge 1857 zurück über Süd-Italien und -Frankreich. Breitere Eindrücke dieser ausgedehnten Fahrt veröffentlichte P. in der Didaskalia, dem Cotta’schen Morgenblatt, Gutzkow’s Unterhaltungen am häuslichen Herd. Die ersten Gedichte, melancholische Platen’sche Sonette, hatte der 19jährige während einer Sodener Badecur September 1851 geschrieben. Zum ersten Male an die Oeffentlichkeit trat P. mit einem Vorspiel zu Schiller’s Todtenfeier, anläßlich der 50. Wiederkehr seines Sterbetags am 9. Mai 1855, das auf einer Anzahl von Bühnen zur Aufführung kam, u. a. gesprochen von Auguste Crelinger im kgl. Opernhause zu Berlin. Diese Dichtung vermittelte ihrem Verfasser eine Einladung zu dem bekannten Mäcen Baron v. d. Malsburg nach Escheberg bei Kassel, wie vorher Geibel, Bodenstedt, Rodenberg u. A. Hier schrieb er im Spätsommer 1855 nach Laube’s gleichnamigem Roman ein Drama „Gräfin Chateaubriant“, das bald darauf in Hamburg und durch Fedor v. Wehl’s (s. d.) Initiative, zum 4. Male neu bearbeitet, auf der Stuttgarter Hofbühne zur Aufführung kam. Ebenfalls [70] 1855 begründete P. in seiner Vaterstadt Offenbach einen Zweigverein der Deutschen Schillerstiftung und hielt bei der dortigen Feier von Schiller’s Geburtstag 1859 (wo auch ein Hymnus seines Vaters, gedruckt im „Schiller-Denkmal“ 1860 Bd. II, 273 f., gesungen wurde) die Festrede. Seitdem war P. im öffentlichen Leben unermüdlich thätig. Die Bahnen der ihm vom Vater eingepflanzten Geistesrichtung weiterwandelnd, betheiligte er sich rege an der Offenbacher deutschkatholischen Gemeinde und rief 1858 daselbst die „Freireligiöse Stiftung“ mit ins Leben. Er trat dann publicistisch, später gelegentlich auch als Redner in Versammlungen und Vereinen, auf, durchweg in nationalem und freisinnigem Geiste. Seine nachdrückliche Theilnahme an Entstehung und Ausbreitung des Nationalvereins trug ihm sogleich im Anfang lange politische Untersuchung und kurze Gefängnißstrafe ein. In diesem Sinne und so auch im Kampfe der hessischen Nationalpartei gegen das reactionäre Ministerium Dalwigk griff er mit vielen, theilweise sehr scharfen Veröffentlichungen in der Tagepresse und Flugschriften, größtentheils anonym, ein, mit dem Namen dagegen in einer Reihe streitbarer vaterländischer Zeitgedichte. Im Juli 1861 wirkte er an der unter Herzog Ernst’s von Coburg in Gotha vollzogenen Gründung des deutschen Schützenbundes mit; seine Berichte in der „Didaskalia“ schilderten jene festlichen Tage der Wiedergeburt des deutschen Schützenthums als eines wichtigen einigenden nationalen Factors am eingehendsten.

Winter und Frühling 1861/62 holte sich P. mannichfaltige Anregungen von einem Aufenthalte in Italien, meistens zu Florenz und Rom, wo sein bedeutendstes dichterisches Werk, die fünfactige Verstragödie „Rienzi der Tribun“, entstand und er sowol deutschpatriotisch sich nützlich machte als mit italienischen Einheits-Propagandisten, namentlich der Deutschböhmin Marchesa Anna Pallavicino-Trivulzio († 1885), in lebhaften Verkehr trat. Mit Feuereifer warf sich P. sodann in die 1863 heftig aufflammende jung-schleswig-holsteinische Bewegung, voran mit doppelter Kundgebung für die Elbherzogthümer: in erster Linie 1864, da er unter den Auspicien des Frankfurter 36er Ausschusses „Ein Wort an England von Deutschlands Recht und Schleswig-Holsteins Ehre“ herausgab und den deutschfreundlichen Mitgliedern des englischen Unterhauses widmete. Umfänglich erweitert erschien es später französisch („L’Angleterre et l’Allemagne à propos du Schleswig-Holstein“) in Brüssel und wurde so den Parlamenten Englands, Frankreichs, Belgiens, Italiens vertheilt. Der als Antwort darauf von dem Schleswig-Holstein geneigten englischen Abgeordneten Sir Harry Vermey an P. gerichtete Brief machte die Runde durch die deutsche Presse. Kurz vor Ausbruch des deutschen Kriegs von 1866 nahm P. sechswöchigen Aufenthalt zu Paris und war Ende dieses Jahres bis in den Anfang 1867 bei der dann von Offenbach nach Darmstadt verlegten täglichen Mainzeitung thätig. Bei allen politischen Wahlen seiner Heimath und dann zum Land- und Reichstag betheiligte sich P. aufs regste organisatorisch wie agitatorisch, in hunderten von Artikeln, Berichten u. dgl. in Frankfurter und Offenbacher Zeitungen, durchgängig in alt-nationalliberaler, später auch, ungeachtet seines demokratischen Anstrichs, in antisocialistischer Richtung. Ueber hessische Zustände schrieb er auch in die „Neue Freie Presse“, die „Grenzboten“, anderwärts, auch in die Berliner „Nationalzeitung“, Feuilletons. Ergebniß der genannten Rienzi-Studien war das Büchlein „Stimmen des Mittelalters wider die Päpste und ihr weltliches Reich“, das 1872 dem einsetzenden Kampfe gegen die römische Kirche beisprang, wie denn P. bis zum letzten Athemzuge in seiner rastlosen Förderung der freireligiösen Bewegung, den Ursprung des Deutschkatholicismus aus J. Ronge’s Abfall von Rom nie [71] verleugnete: er war Jahre lang zu Offenbach Vorsteher der deutschkatholischen Gemeinde und der deutschen freireligiösen Stiftungen. Eine Hauptstütze wurde P. endlich dem zu Ende der 60er Jahre von der Prinzessin Ludwig von Hessen, späteren Großherzogin Alice, begründeten confessionslosen Alice-Frauenverein für Krankenpflege in Hessen. Ungebrochen in Arbeitsfreudigkeit und lebendigster Antheilnahme an allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens ist P. am 8. Januar 1898 den Folgen eines Bronchialkatarrhs erlegen, in Offenbach, der Stadt, da er gewurzelt und alle seine kräftigen Anstöße hatte ausgehen lassen. Zahlreiche Freunde, die er sich auf den verschiedenen Feldern seines Schaffens erworben, viele Bedürftige, denen er geholfen hatte, betrauerten den Tod des starkgeistigen, hochstrebenden Mannes, der schon gar bald da und dort fehlen sollte.

Zählt man die vielfältige publicistische Bethätigung, wie sie oben angedeutet, zu seiner sonstigen litterarischen dazu, so ergibt sich eine beträchtliche Fruchtbarkeit des doch mitten im Getriebe des praktischen Lebens und der Oeffentlichkeit stehenden Mannes. Eine durchaus impulsive Natur, hat er freilich in der Regel auch als Belletrist und als Poet die Tendenz des Kampfes für Recht und Freiheit in den Vordergrund gerückt. Sogar seine Dramen tragen etwas wie einen Protest gegen die neuere Bühnenlitteratur und ihre Art in sich. Aber ob er politisirt oder sonstwie in den Meinungsstreit des Tages eingreift, ob er als Historiker oder als selbstschöpferischer Schriftsteller auf den Plan tritt: „überall tritt uns die ehrliche Begeisterung für alles Gute und Große mit überzeugender Kraft entgegen, die seinem Wesen wie seinem Schaffen die Einheit gibt und ihn weit über das Niveau der Durchschnittsmenschen hinaushebt“ – so charakterisirt ihn unmittelbar nach dem Tode ein persönlich Vertrauter. Unter seinen dramatischen Dichtungen sind die zwei genannten Trauerspiele „Gräfin Chateaubriant“ (1856), 1883 in endgültiger Fassung gedruckt, und „Rienzi, der Tribun“ (1873), in den Vordergrund zu stellen. An letzterer Tragödie hing der Verfasser mit Recht ganz vorzugsweise; doch hat sie, vielleicht auch durch Richard Wagner’s gleichnamige Oper hintangehalten, ebensowenig wie seine andern, theilweise nie gedruckten Dramen, trotz mehrfacher Aufführungen ihrem Autor bleibende Erfolge eingebracht. „Gräfin Chateaubriant“ blieb Jahrzehnte lang sein Schmerzenskind, und man lese in F. Wehl’s „15 Jahre Stuttgarter Hoftheater-Leitung“ (1886), S. 539/42 die Schwierigkeiten mit Stück, Dichter und Darstellern nach, welche es auch nicht über Wasser zu halten vermochten. Dahinter stehen: „Ein Dichtertraum. Phantasie-Festspiel zur Ersten Jahrhundertfeier von Schiller’s Geburt. Mit freier Benutzung Schiller’scher Dichtungen“ (1859); sodann „Moderne Größen. Schauspiel aus der Gegenwart in 5 Aufzügen“ (1873); „Die Erbin von Maurach. Drama in 5 Aufzügen, frei nach einer Levin Schücking’schen Erzählung“ (1876; dem Druck sind als Anhang einige Ersatzscenen und Streich-Vorschläge für solche Bühnen beigegeben, die „an einer gewissen antiklerikalen Tendenz Anstoß“ nahmen); „Die Hochzeitsreisenden. Lustspiel in 1 Aufzug“ (1878; Neuausg.1880); „Gräfin Sonnenburg“, Drama aus der Gegenwart (1890). Diese Prosa-Stücke sind einstmals, wie die Drucke theilweise angeben, vielfach auf die Bretter gelangt, jetzt aber längst von ihnen verschwunden und wol auch kaum noch für sie zu galvanisiren. Als Lyriker hat sich P. vorgestellt 1859 mit dem Hefte „Fünf Zeitgedichte“ (1859), der zwei Mal herausgebrachten Serie „Deutschland. Zwölf vaterländische Gesänge“ (1897, 2., vermehrte Auflage der Jubiläums-Ausgabe von 1896) – einem Kranze, mit dem er ganz ins heutige reichspatriotische Fahrwasser einmündet –, endlich dem lyrisch-epischen und didaktischen mäßig [72] starken Bande „Im Herbste des Lebens. Gesammelte Dichtungen“ (1888), der Ausbeute all seiner persönlichen und gelegenheitlichen Anregungen, überstrahlt durch „des Dichters Leitsterne: Freundschaft und Liebe – Freiheit und Vaterland“: schöne Sprache, ideale Gedanken, doch leider meistens an Augenblicksanlässe zu eng angeknüpft. Der Text zur großen Oper „Der Sturm“, frei nach Shakespeare’s „Tempest“, Musik von Anton Urspruch (1887) gelangte 1887/88 für das Frankfurter Stadttheater zur Aufnahme. Um seine Geburtsstadt hat sich P. außer vielen kleinen Artikeln durch die urkundlich sorgsamen „Bilder und Geschichten aus Offenbachs Vergangenheit“, Festschrift zur 1. hessischen Landesgewerbeausstellung 1879, verdient gemacht; über ein Drittel davon handelt nach localen Quellen über Goethe’s Beziehungen zu Lili und Offenbacher Freunden und ist von Paul Heyse wegen ansprechenden Tacts und Gemüths gelobt worden.

Von dem Prosaiker Pirazzi ist zunächst die packende novellistische Skizze „Florence Hamilton. Ein Abenteuer im päpstlichen Rom“ von 1862 zu erwähnen, 1894 aus der „Didaskalia“ abgedruckt. Die Biographie Joseph Pirazzi’s (1869) genügte einem Herzensbedürfnisse, die Geschichte der Offenbacher deutschkatholischen Gemeinde zu ihrem goldenen Jubiläum 1895 diente gleichermaßen historischem Streben wie der Ueberzeugung. Insbesondere hat aber P. immer und immer wieder seine gewandte Feder in den Dienst des Freidenkerthums gestellt. Als Beispiele seien folgende Broschüren genannt: „Auch ein Glaubensbekenntniß. Allen Freireligiösen in Vorschlag gebracht“ (1859); „Eine Rede wider die Unsterblichkeit. Kritische Bedenken“ (1869); „Die alleinseligmachende Kirche und ihre Duldung Andersgläubiger. Eine Zeitungs-Controverse“ (1875); „Zur Eides-Formel. Ein Appell an die Reichsgesetzgebung und die öffentliche Meinung“ (1877). In diesen, theilweise aus dem Wiesbadener „Deutschkatholischen Sonntagsblatt“[WS 1] zusammengefaßten Aufsätzen kommt Pirazzi’s begeisterungsfähige, unbedingt wahrhaftige Denk- und Schreibweise deutlichst zur Geltung.

Zahlreiche Zeitungsnotizen nach dem Tode (ausführlicher Nekrolog von rn Offenbacher Zeitung vom 10. Jan. 1898, Nr. 7, Feuilleton) wurden mir nebst den meisten Schriften meist durch die Wittwe zugänglich, desgleichen eine handschriftliche „(auto)biographische Skizze“ von 1887. – Brümmer, Lexikon d. deutschen Dichter u. Pros. d. 19. Jahrh.5 III, 225 u. 523. – Fränkel im Biogr. Jahrb. u. Dtsch. Nekrolog III, 245. – Gottschall, Die dtsch. Nationalliteratur d. 19. Jahrh.5 (1881) IV, 82 („Als ein Dramatiker rhetorischer Kraft zeigt sich E. P. in ‚Rienzi der Volkstribun‘, doch läßt auch diese Dichtung die nachhaltige Steigerung und überdies einen echt tragischen Conflict vermissen“). – „Kleine Presse“ (Frankfurt a. M.) 1898, Nr. 9 u. Nr. 11, 2. Blatt (Auszug aus der Offenbacher Zeitung; mit Bildniß). – Aufsatz über Pirazzi aufgenommen in eine Artikelsammlung über die geistliche und gewerbliche Cultur Offenbachs seitens der dortigen städtischen Schulverwaltung 1904.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Deutschkatholiischen Sonntagsblatt“;