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ADB:Moleschott, Jacob

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Artikel „Moleschott, Jacob“ von Paul von Grützner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 435–438, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Moleschott,_Jacob&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:16 Uhr UTC)
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Moleschott: Jacob M., geboren am 9. August 1822 zu Hertogenbosch in Nordbrabant, also Holländer von Geburt, ist doch in seiner weiteren, namentlich wissenschaftlichen Entwicklung ein Deutscher geworden und wol auch Zeit seines Lebens geblieben, wenn er auch in Italien als italienischer Beamter drei Jahrzehnte lang gelebt und gewirkt hat. Durch die Thätigkeit des Vaters auf die medicinische Wissenschaft hingewiesen, und wie er einleitend in seiner Dissertation erzählt, von ihm frühzeitig mit den Anfangsgründen von Chemie und Physik bekannt gemacht, widmete er sich derselben in Heidelberg, woselbst der Anatom F. Tiedemann, der Chemiker L. Gmelin und der Anatom, Physiolog und Patholog J. Henle seine hauptsächlichsten Lehrer waren. Denn daß ihn wesentlich die theoretische und nicht die praktische Medicin oder nur das Wissenschaftliche in ihr anzog, geht aus der Thatsache hervor, daß er noch [436] vor seiner Promotion als jugendlicher Forscher die im J. 1844 von der Teyler’schen Gesellschaft gestellte Preisaufgabe „Kritische Betrachtung von Liebig’s Theorie der Pflanzenernährung mit besonderer Angabe der empirisch konstatirten Thatsachen“ löste und den Preis erhielt. In dieser ungemein umfangreichen (122 Seiten in Quart) Abhandlung kritisirt der jugendliche Forscher in Bewunderung die gewaltigen Leistungen Liebig’s auf dem Gebiete der Pflanzenernährung und ihre Bedeutung für die Landwirthschaft.

Kurze Zeit darauf, 1845, promovirte er mit der anatomisch-physiologischen Arbeit: „De Malpighianis pulmonum vesiculis“ und spricht auf das Bestimmteste sein wissenschaftliches Glaubensbekenntniß in den Worten aus: Nullam extra physicae studia medicum invenire salutem, immo artem non esse medicinam, nisi a physiologia proficisceretur. Nächst dem Vater dankt er diese Auffassung über die Medicin sowie eine gewisse Liebe zur Philosophie seinem früheren philosophischen Lehrer Moritz Fleischer an dem Gymnasium in Cleve und seinem Lehrer Henle, auf dessen Anregung hin und unter dessen Leitung die Dissertation entstand. Nach einer eingehenden historischen Einleitung bespricht M. in derselben den histologischen Bau der Lunge, die er in zweckmäßiger Weise mit Luft aufgebläht oder auch mit Quecksilber injicirt hat, stellt vor allen Dingen fest, daß die kleinen Bronchiolen in Bläschen und nicht in Canälchen enden, daß diese Bläschen sich durch eigene glatte Muskeln bewegen können, mit dem Alter an Größe zunehmen und bei dem sogenannten Emphysem atrophiren, aber nicht hypertrophiren.

Hierauf ließ sich M. kurze Zeit in Utrecht als Arzt nieder, arbeitete aber wissenschaftlich weiter bei Mulder und gab von 1846–1848 mit J. van Deen und Donders die „Holländischen Beiträge zu den anatomischen und physiologischen Wissenschaften“ heraus. Aber schon 1847 kehrte er nach Heidelberg zurück und habilitirte sich hier für Physiologie und Anthropologie. Wie gewaltig sein wissenschaftlicher Eifer war, geht außer seinen später mitzutheilenden Arbeiten auch daraus hervor, daß er sich 1853 ein eigenes kleines physiologisches Laboratorium einrichtete.

Hier erschienen in kurzer Zeitfolge auf einander 1. „Lehre der Nahrungsmittel für das Volk“, 1850, seinem Vater gewidmet, „weil M. von jeher das Recht hatte, die Sorgfalt zu verehren, die sein Vater der Diät von Kranken und Gesunden zuwendete“. Das Buch stellt in kurzen Zügen das Wesentliche des Stoffwechsels dar und ist in anregender Weise mit Vermeidung der verschiedenen chemischen fremdsprachlichen Kunstausdrücke für Jedermann verständlich geschrieben. 2. In ausführlicher wissenschaftlicher Darstellung wird in der „Physiologie der Nahrungsmittel“, einem Handbuch der Diätetik, Darmstadt 1850, dasselbe Thema behandelt. 3. „Die Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen und Thieren“, ein Handbuch für Naturforscher, Landwirthe und Aerzte, Erlangen 1851 gibt eine weitere Uebersicht über das genannte Thema.

Man sieht, M. berührte sich jetzt vielfach mit den Arbeiten Liebig’s. Und als er nun betreffs der Zusammensetzung des Froschfleisches und des Gehirns zu einer anderen Ansicht kam, als Liebig und an Liebig’s Arbeiten Kritik übte, trat Liebig auf das Schärfste gegen ihn auf. M. antwortete Liebig mit dem bekannten Werke „Der Kreislauf des Lebens“, Physiologische Antworten auf Liebig’s chemische Briefe, Heidelberg 1852. Dieses glänzend geschriebene Buch, in welchem die ganze Kraft des Verfassers und gelegentlich der ehrliche Zorn gegenüber Liebig zum Ausbruch kommt, welcher mit Hohn seinen minderwerthigen Gegner abzuthun gedachte, hat außerordentlich viel Verbreitung gefunden. Im J. 1887 erschien es in der fünften vermehrten [437] und gänzlich umgearbeiteten Auflage. Gleich der erste Brief in diesem Buche führt den Titel „Offenbarung und Naturgesetz“. Folgende Sätze charakterisiren seinen Inhalt: „Nur der Forscher begnügt sich nicht mit der Offenbarung einer entfernten Ursache, von der er sich keine Vorstellung machen kann. Er sucht für jede Erscheinung die nächste Quelle, für jede Quelle einen Grund, weiter und weiter rückwarts, so lange die sinnliche Wahrnehmung reicht“ … Forschung schließt also Offenbarung aus. Das ganze Buch steht auf einer, kurz gesagt, materialistischen Grundlage. Diese Anschauungen aber, welche M. natürlich auch in seinen Vorlesungen mit der ihm eigenthümlichen Wärme der Ueberzeugung vertrat, waren höheren Ortes nicht genehm. Namentlich die Auffassung über die Unzweckmäßigkeit der Bestattung menschlicher Leichen in Kirchhöfen erregten daselbst Anstoß. Die interessante Stelle lautet: „Wenn wir unsere Todten verbrennen könnten, dann würden wir die Luft bereichern mit Kohlensäure und Ammoniak, und die Asche, welche die Werkzeuge zu neuen Getreidepflanzen, zu Thieren und Menschen enthält, würde unsere Haiden in fruchtbare Fluren verwandeln. Es kann nicht fehlen, wenn wir es auch nicht erleben sollten, das Bedürfniß der Menschen, welches der oberste Rechtsgrund und die heiligste Quelle der Sitte ist, wird einmal unsere Kirchhöfe mit gleichen Augen betrachten, wie wir das Pfund, das ein ängstlicher Bauer vergräbt, statt vom sauer erworbenen Capitale Zinsen zu ernten. Nur die Unwissenheit ist Barbarei.“ Ob dieser Lehren, die als „unsittlich und frivol“ bezeichnet, dazu geeignet, die Jugend durch Wort und Schrift zu verderben, erhielt M. eine ernste Verwarnung von dem engeren Senat der Universität Heidelberg, die er mit der sofortigen Niederlegung seines Amtes beantwortete.

Zwei Jahre später, 1856, wurde er an die Züricher Hochschule als Professor berufen, welchem Rufe er natürlich mit Freuden Folge leistete. In seiner Antrittsrede daselbst („Licht und Leben“, Frankfurt 1856), die dem Vater gewidmet ist, heißt es: „Dir vor allen würde ich’s vorjauchzen, wie viel das freie Zürich mir wiedergab, nachdem ich durch den Zusammenstoß mit der von Pfaffenseelen aufgestachelten badischen Regierung und deren willfährigem Werkzeug, dem Heidelberger Senate, inmitten einer lernbegierigen Jugend, an dem reizenden Ort, dem ich so viele Wonne nie vergessen werde, auch viel und schmerzlich entbehren mußte.“

Doch war seines Bleibens in der Schweiz nicht lange. Der ihm befreundete italienische Minister des Unterrichtswesens Fr. de Sanctis, den er in Zürich kennen gelernt hatte, berief M. 1861 nach Turin, von wo er 1879 als Professor der Physiologie an die Sapienza in Rom übersiedelte. Bis zu seinem den 20. Mai 1893 daselbst erfolgten Tode verblieb er in dieser Stellung, verehrt von seinen Schülern und hochgeachtet von Vielen, freilich nicht von Jedermann; denn daß seine materialistische Auffassung Manchem nicht zutreffend und ausreichend, Vielen geradezu ein Gräuel dünkte, ist ziemlich selbstverständlich. Doch dürfte zutreffend sein, was J. R. Mayer in einem Schreiben vom 13. Decemher 1867 sagt, in welchem er M. für die von ihm betriebene Aufnahme in die Turiner Akademie dankt. Mayer schreibt darin: „Ihnen vor Allen gebührt das große und bleibende Verdienst, den Satz siegreich vertheidigt zu haben, daß wissenschaftliche Gegenstände und Forschungen nicht mit religiösen Dogmen oder gar kirchlichen Fragen vermischt werden dürfen“ (J. J. Weyrauch, Kleinere Schriften und Briefe von Robert Mayer, Stuttgart 1893).

M. war in erster Linie Schriftsteller, und zwar ein glänzender deutscher Schriftsteller, der mit der ganzen Kraft und Wucht seiner Ueberzeugung die von ihm für recht erkannten Anschauungen gegen Jedermann, auch gegen Hohe [438] und Mächtige vertrat. Er war aber in zweiter Linie auch ein bedeutender Forscher. Die meisten seiner experimentellen Arbeiten finden sich niedergelegt in den von ihm herausgegebenen „Untersuchungen zur Naturlehre der Menschen und der Thiere“, Frankfurt a./M., deren erster Band im J. 1857 erschien. Seine Arbeiten sind in erster Linie physiologisch-chemischer Natur. So betreffen sie die Beeinflussung des Stoffwechsels je nach Art und Bau der Thiere, ferner je nach der Temperatur und der Stärke der Belichtung, mit welcher im allgemeinen der Stoffwechsel zunimmt, lehren interessante und wenig beachtete Unterschiede in dem Stoffwechsel hungernder und winterschlafender Thiere, indem, kurz gesagt, in den ersteren hochwerthiges, in den letzteren minderwerthiges Körpermaterial verbrennt. Weitere Untersuchungen stellte M. an über die Zusammensetzung des menschlichen Blutes und weist auf den Wechsel in der Menge der weißen Blutkörperchen hin, wie er sich infolge von Krankheiten, Nahrungsmitteln und Medicamenten einstellt, eine in letzter Zeit vielfach besprochene, sogenannte moderne Frage. Ausgehend von dem Grundsatze, „das beste Messer in der Hand des Mikroscopikers ist ein richtig gewähltes chemisches Reagens“, untersuchte M. das mikroscopische Verhalten verschiedener thierischer Gewebe, von Horngewebe, von glatten Muskeln u. s. w. gegenüber zweckmäßig ausprobirten chemischen Reagentien und bereicherte so die histologische und anthropologische Wissenschaft um mancherlei werthvolle Kenntnisse. Schließlich sei noch auf seine Arbeiten hingewiesen, welche die Physiologie der Nerven und diejenige des Kreislaufs, namentlich diejenige des Herzens betreffen, in denen die damals auf das Schärfste bestrittene, heutzutage aber anerkannte beschleunigende Wirkung des Vagus auf den Herzschlag bewiesen wird.

M., den ich persönlich nicht gekannt, war von untersetzter Statur, hatte offenbar sehr lebhafte Augen und eine lebhafte Sprechweise. Er war überaus glücklich mit einer Mainzerin, Sophie Strecker, verheirathet und hatte mehrere Söhne und Töchter. 1876 wurde er Senator des Königreichs Italien und bei Gelegenheit seines 70. Geburtstages, 1892, den er in Rom feierte, von aller Welt auf das herzlichste gefeiert. Kurze Zeit darauf, am 20. Mai 1893, starb er in Rom.

Ueber Moleschott hat geschrieben H. Vierordt in der Münchener med. Wochenschrift 1893. – Eine prächtige Schilderung seines Lebens bis 1861 gibt er selbst in dem hochinteressanten Buche „Für meine Freunde“, Gießen 1894. In beiden Schriften findet sich sein Bild.