ADB:Joest von Calcar, Wilhelm
[681] Körper durchwanderte er 1874–75 den Orient, Aegypten und die afrikanischen Mittelmeerländer, namentlich Marokko. Seit 1876 bereiste er Canada und die Vereinigten Staaten, besuchte die westindischen Inseln, durchquerte Mexiko von einem Ocean zum andern, zog dann durch die centralamerikanischen Republiken und das nordwestliche Südamerika bis Peru, hielt sich einige Zeit am Titicaca-See und in Bolivien auf, überstieg die Cordilleren, berührte die Wüste Atacama und fuhr von Valparaiso durch die Magellan-Straße nach Buenos Aires. Von hier aus unternahm er Ausflüge bis weit hinein nach Patagonien, um die dortigen Indianerstämme kennen zu lernen, gelangte über den Paß von Uspallata nach Chile, kehrte dann über die Cordillere nach Argentinien zurück, durchstreifte die weiten Grassteppen dieses Landes nördlich bis Tucuman, hielt sich darauf mehrere Wochen in Uruguay auf, fuhr den La Plata und Parana aufwärts bis Asuncion, der Hauptstadt von Paraguay, und erreichte nach einem beschwerlichen Ritt durch das ehemalige Missionsgebiet der Jesuiten die brasilianische Provinz Rio Grande do Sul, wo er sich längere Zeit niederließ, um die Verhältnisse in den dortigen deutschen Siedelungen gründlich zu studiren. Dann reiste er längs der Küste nordwärts über Rio de Janeiro bis Pernambuco. Hier schiffte er sich 1878 nach Senegambien und von dort nach Deutschland ein. Nachdem er einige Monate mit der Ordnung seiner reichhaltigen ethnographischen, anthropologischen und zoologischen Sammlungen verbracht hatte, begab er sich im Herbst des folgenden Jahres nach Britisch-Indien. Zunächst durchzog er das Land von Ceylon bis an den Südfuß des Himalaya. Dann schloß er sich einem englischen Truppentheile an, der nach Afghanistan marschirte, um dort verschiedene Aufstände niederzuschlagen. Nach Beendigung des Feldzuges kehrte er nach Calcutta zurück, besuchte von hier aus Birma, wo ihn der durch seine Menschenschlächtereien berüchtigte König Thibo in Mandalay in feierlicher Audienz empfing, verweilte einige Zeit in Siam und bereiste darauf fast ein Jahr lang den malaiischen Archipel, namentlich Ceram, Borneo, Celebes und die Molukken. Hier beschäftigte er sich hauptsächlich mit den Sprachen und Sitten einiger wenig bekannter Naturvölker. Später hielt er sich längere Zeit an der Grenze von Atjeh auf Sumatra auf, um die dortigen Kämpfe der Holländer mit den Eingebornen als Zuschauer zu beobachten. Weiterhin besuchte er Singapur, Kambodscha, die großen Küstenstädte des südlichen China, die Philippinen und Formosa, verweilte vorübergehend in Peking und mehrere Monate in Japan, untersuchte die Urbewohner der Insel Yesso, schiffte sich dann von Nagasaki nach Wladiwostok ein, durchzog die Mandschurei bis an den Amur und fuhr im Reisewagen quer durch ganz Sibirien bis an den Ural. Nachdem er im Herbst 1882 nach Deutschland zurückgekehrt war, ordnete er wiederum seine unterwegs erworbenen reichen Sammlungen und Aufzeichnungen, ließ sich an der Berliner Universität immatriculiren und vertiefte unter Leitung der Professoren Bastian, Virchow und Kiepert seine ethnologischen, anthropologischen und geographischen Kenntnisse. 1883 erwarb er in Leipzig durch eine Dissertation über die Holontalo-Sprache auf Celebes den philosophischen Doctortitel. Noch im Herbst desselben Jahres trat er seine dritte große Reise an. Er fuhr von England nach der Capstadt, hielt sich unterwegs einige Zeit in Madeira und St. Helena auf, drang dann von Port Elizabeth aus nach Norden zu ins Binnenland ein, besuchte die Diamantminen von Kimberley, durchquerte den Oranjefreistaat, ritt dann durch Basutoland, Kaffraria, Natal und Sululand, wo er die noch unbeerdigte Leiche des kürzlich verstorbenen Königs Ketschwayo sah, fuhr darauf nordwärts an der Ostküste Afrikas hin und verweilte überall kurze Zeit in den großen Hafenorten. [682] In Aden wurde er von einem heftigen Fieber ergriffen, das nicht weichen wollte und ihn zwang, seine Absicht, nach Australien und den Südseeinseln zu reisen, vorläufig aufzugeben und durch den Suezcanal nach der Heimath zurückzukehren. Da sich seine gesundheitlichen Verhältnisse nur langsam wieder besserten, beschloß er sich einige Jahre der Ruhe zu gönnen. Im März 1885 heirathete er, schlug seinen Wohnsitz in Berlin auf und errichtete sich ein prächtiges Heim, das er mit den künstlerisch werthvollsten Stücken seiner Sammlungen in überaus origineller Weise ausstattete und in ein höchst sehenswerthes Museum verwandelte. Auch widmete er sich der litterarischen Bearbeitung seiner mitgebrachten Schätze und entfaltete in den wissenschaftlichen Vereinen und Instituten Berlins eine rege Thätigkeit. Doch sollte er sich nicht lange der erhofften Ruhe erfreuen. Seine Ehe befriedigte ihn nicht, so daß sie später getrennt wurde, und sein Wandertrieb führte ihn bald wieder durch die verschiedensten Staaten Europas. Zu Anfang des Jahres 1889 unternahm er abermals eine größere Reise, diesmal nach Südamerika und zwar hauptsächlich in das venezolanische, britische, holländische und französische Guayana zwischen den Flüssen Orinoco und Maroni, wo er die verschiedenen Bevölkerungstypen eingehend studirte. Nachdem er sich wieder einige Jahre in Europa, besonders in Berlin aufgehalten hatte, trat er im Mai 1897 seine letzte Reise an, die ihn nach Australien und den Südseeinseln führte, wo er namentlich die Tätowirungsmethoden der Eingebornen zu erforschen gedachte. Leider war sein geschwächter Gesundheitszustand den Strapazen, die er sich zumuthete, nicht mehr gewachsen, und so erlag er bei einem Besuche der zu Melanesien gehörigen Santa-Cruz-Inseln am 25. November 1897 noch im rüstigsten Mannesalter einem Herzschlag.
Joest: Wilhelm J., Forschungsreisender und Ethnolog, wurde am 15. März 1852 zu Köln a. Rh. als Sohn des Geheimen Commerzienrathes Eduard J. geboren. Er besuchte das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium seiner Vaterstadt, nahm als Freiwilliger im Königs-Husarenregiment am Feldzuge gegen Frankreich theil und studirte dann bis 1872 Naturwissenschaften und Sprachen auf den Universitäten Bonn, Heidelberg und Berlin. Ein starker Trieb, fremde Länder und Völker kennen zu leinen, bestimmte ihn, sich in den folgenden Jahren systematisch auf den Beruf des Forschungsreisenden vorzubereiten. Begünstigt durch glückliche Vermögensverhältnisse und einen widerstandsfähigenJ. war ein gewandter Weltmann und zugleich ein vielseitig gebildeter Gelehrter von seltener Vorurtheilslosigkeit. Sein Vaterland liebte er über alles, und auch im Auslande kehrte er stets seine deutsche Gesinnung hervor, doch hielt er sich frei von jedem Chauvinismus. Seine reichen und werthvollen Sammlungen verschenkte er zum großen Theil in liberalster Weise an öffentliche Sammlungen. Namentlich die Museen von Berlin, Dresden, Karlsruhe, Braunschweig, Leiden und Kopenhagen verdanken ihm viel. Auch seine sehr beträchtlichen Geldmittel verwendete er gern zur Förderung wissenschaftlicher Unternehmungen. Dafür fehlte es ihm nicht an Ehren und Auszeichnungen. Er war Inhaber zahlreicher Orden und wurde 1890 vom König von Preußen zum Titularprofessor ernannt.
Als Schriftsteller ist er vielfach hervorgetreten. Zahlreiche Reisebriefe hat er in der Kölnischen Zeitung veröffentlicht. Andere Aufsätze finden sich im „Globus“, im „Ausland“, in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in der Zeitschrift für Ethnologie und im Internationalen Archiv für Ethnographie, vereinzelt auch in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Erdkunde, in der Revue coloniale internationale, sowie in den Zeitschriften „Nord und Süd“ und „Die Zukunft“. An selbständigen Werken Joest’s sind folgende zu nennen: „Ein Besuch beim Könige von Birma“, Köln 1883; „Aus Japan nach Deutschland durch Sibirien“, Köln 1883, 2. Aufl. 1887; „Das Holontalo. Glossar und grammatische Skizze. Ein Beitrag zur Kenntniß der Sprachen von Celebes“, Berlin 1883; „Um Afrika“, Köln 1885, ein Buch, das namentlich durch seine ungünstige Beurtheilung des Burenvolkes Aufsehen erregte; „Tätowiren, Narbenzeichnen und Körperbemalen, ein Beitrag zur vergleichenden Ethnologie“, Berlin 1887, ein großes Prachtwerk von dauerndem Werthe, mit vielen Tafeln und Abbildungen; „Die außereuropäische Presse nebst einem Verzeichniß sämmtlicher [683] außerhalb Europas erscheinenden deutschen Zeitungen und Zeitschriften“, Köln 1888, eine Frucht des andauernden Interesses, das er an den Verhältnissen des Deutschthums im Auslande nahm; „Spanische Stiergefechte, eine culturgeschichtliche Skizze“, Berlin 1889, das durch seine grellen Schilderungen spanischer Mißstände großes Aufsehen erregte und auch ins Englische übersetzt wurde; „Ethnographisches und Verwandtes aus Guayana“, Leiden 1893, das sich namentlich mit den Verhältnissen der Buschneger befaßt; endlich seine letzte größere Arbeit: „Weltfahrten, Beiträge zur Länder- und Völkerkunde“, Berlin 1895, 3 Bände, eine Sammlung von bereits früher veröffentlichten Aufsätzen mit guten Abbildungen. In allen diesen Werken zeigt sich J. als trefflicher Stilist, der es versteht, fesselnd und auch für weitere Kreise der Gebildeten verständlich zu schreiben. Liebenswürdiger Humor und scharfe Ironie, diese namentlich gegenüber dem Clerikalismus und der Bureaukratie, stehen ihm gleichermaßen zur Verfügung. Seine Ueberzeugung spricht er als unabhängiger Mann überall ungescheut und nicht selten in schroffer Form aus. So hält er die Aufhebung der Sklaverei für einen schweren Mißgriff und bekämpft jene vielverbreitete Meinung, welche in den Verbrechern beklagenswerthe Opfer unglücklicher Verhältnisse sieht. In seinem vielbesprochenen Aufsatz über Sibirien (Zukunft IV, 1893, S. 151–166) weist er die entstellenden Schilderungen Georg Kennan’s aus dem sibirischen Gefängnißleben entschieden zurück und billigt die Maßnahmen der russischen Regierung. Dieses unerschrockene öffentliche Eintreten für seine Ueberzeugungen erweckte ihm mancherlei Gegner, deren Angriffe er indeß mit der größten Seelenruhe über sich ergehen ließ.
- Selbstbiographie als Anhang zu seiner Dissertation über die Holontalo-Sprache, Berlin 1883. – Globus, Bd. 73, 1898, S. 46–48 (m. Bildn.). – Internationales Archiv für Ethnographie, Bd. 11, 1898, S. 38–40 (m. Bildn.). – Leopoldina, Heft 34, 1898, S. 53. – Biogr. Jahrbuch, Bd. 2, 1898, S. 293–294. – Geogr. Jahrbuch, Bd. 20, 1898, S. 472.