ADB:Gesenius, Friedrich Wilhelm
*): Friedrich Wilhelm G., Schulmann und Anglist, wurde am 3. August 1825 zu Halle a. S. geboren. Obwol er sich später vor der Oeffentlichkeit, auch als Schriftsteller, stets F. W. Gesenius nannte, war sein Rufname der seines Vaters (Heinr. Frdr.) Wilhelm, des berühmten Orientalisten und Bibelkritikers (geb. 1786), der von 1810 bis zum Tode, 1842, als anerkannte Leuchte der erst mit von ihm begründeten semitistischen Philologie als Professor – nominell der Theologie – an der Hallenser Universität gewirkt hat. Seit dem Erscheinen des Redslob’schen Artikels über diesen vielberufenen „großen Hebräer“ in der A. D. B. IX, 89–93 (1879) sind zwei mehr oder weniger authentische Veröffentlichungen über ihn hervorgetreten, die nicht nur seine Gestalt persönlich und litterarisch vielfach in neues Licht rückten, sondern auch über die Verhältnisse, aus denen der Sohn Fr. W. G. hervorgegangen ist, aufklären: „Wilhelm Gesenius … Ein Erinnerungsblatt an den hundertjährigen Geburtstag am 3. Februar 1886. Kindern und Kindeskindern gewidmet von [einem Sohne, Verlagsbuchhändler] Hermann Gesenius“ (Privatdruck, Halle 1886), drei gelehrte Nekrologe von 1842 erneuernd und eine Bibliographie mit den Neuauflagen bis 1886 enthaltend, sodann ein auf genauer Autopsie und „der ihm zur Benutzung gestellten Familienchronik“ beruhender Aufsatz „Der große Hebräer“, ein in den achtziger Jahren in einem Journal und danach 1890 in dem Buche „Zerstreutes und Erneutes“ S. 31–62 abgedrucktes, etwas klatschsüchtig aufgebauschtes Lebens- und Charakterbild aus der Feder Friedrich W. Ebeling’s. Die bezüglichen Andeutungen beider sind im Folgenden verwerthet.
GeseniusIm J. 1811 hatte der gar nicht ans Heirathen denkende junge Hallenser Akademiker in der Familie seines älteren Amts- und Fachcollegen J. A. L. Wegscheider dessen elternlose (?) Nichte Henriette Schneidewind aus Lügde bei Pyrmont kennen gelernt und sich alsbald mit dem kaum vierzehnjährigen, äußerer Vorzüge baren Mädchen verlobt. Er heirathete im Februar 1814 die noch nicht siebzehnjährige Jungfrau und zwar, wie dem stets kühl blickenden Geschäftsmann nachgesagt ward, mit wegen ihres für damals recht erheblichen Vermögens, das er dann auch, theilweise durch Ankauf des später als „die Gesenei“ stadtbekannt gewordenen Hauses Große Ulrichstraße Nr. 12, gewinnbringend [680] angelegt hat. Hier hat er bis zuletzt als Koryphäe der Wissenschaft und Familienhaupt residirt, hier wurden auch seine zehn Kinder geboren und aufgezogen: fünf Töchter und ebensoviele Söhne. Von letzteren – über die der ersichtlich aus erster Hand schöpfende F. W. Ebeling witzlos und fragwürdig (S. 35) nur (!) bemerkt: „seine Söhne haben hartnäckig und treu im Sinne des Vaters noch mehrere Jahre nach seinem Tode einige solcher Schulden [nämlich auf bindendes Angelöbnis gestundete Studentenhonorare] eingezogen“ – ist wol nur der ungefähr in der Mitte der Sprößlingsschar stehende Frdr. Wilhelm als Philolog und pädagogischer Vertreter seines Fachs in die Fußstapfen des Vaters getreten, bei dessen ziemlich frühem Tode er noch vor dem endgültigen Entschlusse gestanden hat. Ob er dem sprachgelehrten Vater überhaupt näher gestanden, beispielsweise bei ihm einen entsprechenden Scherznamen wie Mutter („mein altes Testament“) und Schwestern (nach den alten Kirchennamen der fünf Bücher Mosis, so daß die älteste, Caroline, nachmalige Gattin des bekannten Schulmanns und Historikers Karl Peter, auch von Studenten „Fräulein Genesis“ angeredet wurde) getragen hat, läßt sich nicht feststellen.
Schon in seinen Jugendjahren zeichneten ihn ernste Lebensauffassung, mit gesundem Humor verbunden, rastloser Fleiß und wissenschaftliches Interesse vor den Altersgenossen aus. Er absolvirte die Gymnasialbildung auf dem Pädagogium der Francke’schen Stiftungen zu Halle Herbst 1843: ein seltsamer Zufall, daß nach Gesenius’ Tode seine Lehrbücher ein Professor dieser altrenommirten Anstalt unter seine Obhut nehmen sollte. Auf den Universitäten zu Leipzig, Halle, Bonn lag er dann, als Lusate dortselbst, als Rhenane an letzterer einem heiteren Corpsierleben den Tribut zahlend, philologischen, daneben philosophischen Studien ob, erstere seit 1845 immer mehr auf die längst erkorenen neueren Fremdsprachen und Litteratur erstreckend. Deshalb eben auch jedenfalls hatte er sich nach Bonn gewendet, wo in Fr. Diez (seit 1822) und N. Delius (seit 1846) die beiden damals einzigen bedeutenderen akademischen Vertreter der neueren Philologie in Deutschland docirten; auch Loebell, G. Kinkel, Dahlmann, E. M. Arndt, Urlichs, Welcker, Ritschl zählte er dankbar zu seinen Lehrern. Hier schloß er 1847 die Hochschulstudien mit der summa cum laude bestandenen Doctorpromotion ab, auf „De lingua Chauceri. Dissertatio grammatica“, welche laut- und flexionsgeschichtliche Schrift nicht allein zeitlich an der Spitze der riesig umfänglichen monographischen Chaucer-Forschung, insbesondere der über des vortrefflichen mittelalterlichen Erzählers Sprache, lange vor den Schweden Edmann 1861 und Isberg 1872 und vor allem ten Brink’s classischem Specialbuche 1884, marschirt (vgl. z. B. G. Körting, Grundriß d. Gesch. d. engl. Litt.³ S. 164, § 148,7), sondern überhaupt eine der ältesten anglistischen Dissertationen ist. Von den Theses controversae, die G. zu vertheidigen hatte, sind sechs neu-, vier altphilologisch. G. genügte in der Heimathstadt der Militärpflicht und widmete sich dann während der aufregenden 1848er Ereignisse zu Paris unmittelbarer Erlernung des lebenden Französisch. Alsdann übersiedelte er, einer starken Vorliebe für das dazumal um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erst wenig gepflegte Englisch und seine Litteratur folgend, nach England, wo er bald als Lehrer der Söhne des damaligen Premierministers Lord John Russell nicht nur zu sprachlicher Vervollkommnung, sondern auch zur Anknüpfung werthvoller Beziehungen mit hervorragenden Gelehrten und Künstlern die beste Gelegenheit fand. Beinahe hätte ihn ein ehrenvoller Ruf als Professor an die Königl. Militärakademie in Woolwich dem Vaterlande für immer entzogen. Im J. 1853 in dies mit Begeisterung für anglobritische Cultur und deren [681] genauester Kenntniß zurückgekehrt, wirkte er zunächst in Stettin als Lehrer der englischen Sprache an der Friedrich-Wilhelm-Schule (Realgymnasium). Er heirathete 1856 Ida Hahn und aus dieser überaus glücklichen Ehe entsprangen ein Sohn (s. u.) und zwei Töchter, die es sämmtlich zu ehrenvollster gesellschaftlicher Stellung gebracht haben. Im J. 1857 gründete er die „Geseniussche höhere Mädchenschule“, die sich durch sein großes Lehrtalent und die warme Liebe zur Jugend im Laufe der drei Decennien bis zu seinem Tode in neun Classen bis auf über 200 Schülerinnen entwickeln sollte und jetzt, anderthalb Jahrzehnte nach des Gründers und Leiters Hintritt, noch höherer Blüthe zustrebt. Im J. 1887 erkrankte er an einem Halsleiden, welches sich bald dermaßen verschlimmerte, daß er Anfang 1888 beim Ausbruch eines directen Lungenleidens ein milderes Klima in San Remo aufsuchen mußte; dort starb er am 11. März 1888, wurde jedoch in seinem vieljährigen Wohnsitze Stettin beigesetzt.
Die Wirksamkeit dieses Mannes als Schulmann zieht uns durch deren litterarischen Niederschlag mehr an als durch seine praktisch-pädagogische Thätigkeit als Vorsteher der eigenen weiblichen Lehranstalt. G. kommt ein außerordentliches Verdienst zu in der Erweckung, Befestigung und Erhaltung der hohen Position, die sich das schulmäßige Erlernen der englischen Sprache in Deutschland seit einem reichlichen Vierteljahrhunderte erobert hat. Wie seines Vaters „Hebräische Grammatik“ 1902, 60 Jahre nach des Verfassers Tode, noch die 26. Auflage erlebt hat, so steht der Sohn nun schon in der zweiten Generation zahllosen Jüngern der englischen Sprache als eine Art Orakel da. 1864 ist die Basis der ganzen Hülfsmittel-Serie, das „Elementarbuch der englischen Sprache nebst Lese- und Uebungsstücken“, zuerst hervorgetreten, und seitdem haben Tausende von Schülern Grundlage und Vertiefung ihrer englischen Kenntnisse daraus gesogen. Berechtigte Aufmerksamkeit erregt schon die Thatsache, daß in unserem neuerungssüchtigen Menschenalter, da Philologie wie Pädagogik, also erst recht wie hier die beiden im Bunde, nimmer mit den augenblicklichen Leistungen zufrieden sind, ein sprachliches Lehrbuch in seinen verschiedenen Theilen und Stufen jetzt vier Jahrzehnte hindurch Auflage auf Auflage erlebt, nun an tausend Schulen eingeführt und in weit über einer halben Million Exemplaren verbreitet ist, auch ihrem Verleger, Hermann G. zu Halle, einem Neffen des Autors, in erster Linie die große amtliche Ehrenmedaille der Chicagoer Weltausstellung von 1893 eingetragen hat. Ein lehrreiches Factum, das für die Bedeutung der Gesenius’schen Originalarbeit besonders ins Gewicht fällt, ist die Anerkennung, welche Wortführer der sogen. gemäßigten Reform im neusprachlichen Unterricht eben Gesenius’ eigener Arbeit im Vergleiche mit deren Modernisirung zollen (s. M. Kaluza’s Notiz i. d. „Zeitschr. f. franz. u. engl. Unterricht“ II, 1903, S. 447). Während nämlich ein Mann der alten Schule, der Hallenser Universitätslector Dr. C. E. Aue, in seiner Revision des „Lehrbuchs der englischen Sprache“ (jenes „Elementarbuch“ war dessen erste Hälfte) die bisherige vielerorts liebgewordene Gestalt wahrte, nahm Professor Dr. E. Regel eine durchgreifende Umschmelzung gemäß den Anforderungen der sog. (preuß.) neuen Lehrpläne vor. Daher ist man im heutigen Sturm und Drang des Schulbetriebes der modernen Fremdsprachen nur noch beim französischen „Ploetz“ wie bei diesen beiden jetzt parallel laufenden Bearbeitungen im Stande, die zwei um die Herrschaft ringenden Hauptrichtungen des neusprachlichen Unterrichts greifbar zu vergleichen. Vernünftige Beschränkung und übersichtliche, mit Klarheit des Ausdrucks gepaarte Gestaltung des weitschichtigen englischen Sprachstoffs, Geschick in dessen Durchkreuzen mit wohlgewählten, weil ohne weiteres einleuchtenden Satzbeispielen, die Faßlichkeit der [682] Regeln und die Beihülfe übersichtlicher Rectionstabellen haben den Gesenius’schen Lehrbüchern im weitesten Umkreise deutscher Zunge die Vorliebe der Lehrer und den Kopf der Schüler erworben. Der bei weitem verbreitetsten, sieghaftesten und zähesten aller Weltsprachen ist in diesem sichern Mentor eine überaus feste Stütze erwachsen. So kommt ihm nicht bloß eine erhebliche pädagogische, sondern auch gleichsam eine culturell-historische Bedeutung zu.
Der ganzen Serie Gesenius’scher Lehr-Hülfsmittel gehören an: „Lehrbuch der Englischen Sprache“ (I. Theil: Elementarbuch, 1864, 26. Aufl. 1903; II. Theil: Grammatik, 1871, 17. Aufl. 1903), daneben Separatabdruck, daraus „Uebungsstücke“ (1904), „English Syntax“ (Uebersetzung aus dem 2. Theile, 1880, 3. Aufl. 1903), „Grammaire élémentaire anglaise. Adoptée à l’usage des Français par Chr. Vogel“ (1886); „Englische Sprachlehre. Ausgaben A u. B. Völlig neu bearbeitet von E. Regel“ – der auch „Lesestücke und Uebungen zur englischen Syntax im Anschluß an Gesenius-Regel“ (1901) daran anlehnte – nach Unter- und Oberstufe wie auch für Knaben- und Mädchenschulen getrennt (8. bezw. 2. u. 4. Aufl. 1903–04), kurzgefaßt 1901; „Englisches Uebungsbuch“, 1885, 2. Auflage nach den Aufzeichnungen des Verfassers revidirt und bearbeitet von Chr. Vogel (1894). Dies sind die längst erprobten Grammatik- und Lern-Handbücher, die gegenüber dem alten buchstabenmäßigen Einpauken einer-, dem reinen Laut- und Parlierdrill andererseits einen vermittelnden Standpunkt vertreten, jedoch auch stofflich den Ansprüchen der neuesten Zeit befriedigend entgegenkommen. Nach den einfachsten Themen aus Haus, Schule, Natur führt die Formenlehre Großbritanniens Geographie, die Syntax englische Geschichte vor, an geeignete Originalien angelehnt. Und was die conservative Ausgabe A den actuellen Materialien vorbildlicher englischer Litteratur entnimmt, das steigert die Ausgabe B mit ihren zwei Stufen noch, indem sie Zustände und Vorgänge der Gegenwart in rationell spracherzieherischer Folge behandelt und spiegelt. Es tritt in ersterer Hinsicht ergänzend daneben „A book of English poetry for the use of schools. Containing 102 poems with explanatory notes and biographical sketches of th authors“, 1879, 3. Auflage besorgt (1900) von Fritz Kriete, der auch als Seitenstück zu Gesenius’ „beliebtem Schulbuche“ eine ähnlich angelegte und erläuterte „Sammlung französischer Gedichte“ veranstaltet hat, so daß hier G. Schule gemacht hat wie in einem zweiten neuartigen Supplement aus anderer Feder: „English dialogues. Hilfsbuch zur Einführung in die englische Konversation im Anschluß an die Lesestücke des Elementarbuchs der englischen Sprache von F. W. Gesenius. Bearbeitet von W. Warntjen“ (1894). Allüberall in Nord und Süd des Vaterlandes bewahren diese ineinander greifenden Hülfsbücher ihren festen Posten, und wie z. B. in der Schweiz und Linz, so lernen in Neapel, Rosario (Argentinien), Sydney deutsche, in Genf und anderwärts französische Kinder an Gesenius’ Hand Albion’s weltumspannendes Idiom. Ein dauernder Triumph deutscher Wissenschaft und des deutschen Schulmeisters über das Erdenrund: er aber, der alte bescheidene Stettiner Schuldirector mit dem vom Vater ererbten classischen Philologennamen lebt fort in seinen Werken, in tausendfältigen Anregungen im Getriebe des Werkeltags.
In Gesenius’ Doctor-Dissertation folgt nach 87 Seiten grammatikalischen Texts die Vita, die auch alle seine Universitätslehrer aufzählt, was für jene Zeit erst anhebender neuphilologischer Studien nicht uninteressant ist (S. 84 f.), danach (S. 91) die sehr lehrreichen Theses controversae. – Aus der Zahl der vielen wirklich sachkundigen Referate über Gesenius’ Arbeiten sei nur das in der „Bücherschau des Industrie-Anzeigers für Ostasien“ IV (1902/03), Nr. 7, genannt, sowie mein, oben mehrfach ausgeschriebenes eigenes in den [683] „Englischen Studien“ Bd. 33 (1902), S. 315–17. Lebensgeschichtliche Daten hat mir der einzige Sohn, Amtsgerichtsrath in Swinemünde, Personalien und fachliches Material in dankenswerther Weise Gesenius’ Neffe und Verleger, Herr Hermann G. in Halle a. S., der Herausgeber obengenannter Säcularschrift von 1886 geliefert. Vgl. Kürschner’s Litteraturkalender X (1888), II 120a (authentisch).
[679] *) Zu S. 322.