ADB:Brink, Bernhard ten
*): Bernhard ten B., englischer Philolog, wurde am 12. Jan. 1841 zu Amsterdam von katholischen Eltern geboren. Der Vater war Redacteur einer größeren Zeitung, und schon in dem an litterarischen und künstlerischen Anregungen reichen Elternhause erschloß sich dem Knaben der Zugang zur Weltlitteratur. Nach dem Tode des Gatten siedelte die Wittwe mit den Kindern nach Deutschland über. In Düsseldorf sollte ten B. die Gymnasialstudien zum Abschluß bringen; aber er widmete litterarischen Neigungen und besonders dem früherwachten Cultus Shakspere’s[WS 1] mehr Zeit, als für die Schulfächer gut war, und wandte sich diesen erst mit rechtem Eifer zu, als er nach einem peinlichen Mißerfolg das Düsseldorfer Gymnasium mit dem Essener vertauscht hatte: hier hat er dann im August 1861 die Abiturientenprüfung mit Auszeichnung bestanden. Nachdem er sich von den Anstrengungen der letzten Schulzeit leidlich erholt hatte, bezog er als Student der Philologie die Akademie Münster, die er aber schon nach einem Semester mit der Universität Bonn vertauschte. Keine andere Universität hätte damals seinen von früh an in die Breite gehenden Interessen das bieten, ihm jene Vielseitigkeit der philologisch-historischen Ausbildung gewähren können, wie die rheinische Hochschule, an der neben O. Jahn und Ritschl Diez und Delius wirkten. ten B. vernachlässigte über der neuen Philologie die alte nicht, hörte daneben germanistische Vorlesungen bei Simrock, Geschichte und Kunstgeschichte bei Kampschulte und Springer und erwarb sich eine gründliche philosophische Bildung. Die Thesen, mit deren Vertheidigung er am 4. August [786] 1865 seine Promotion abschloß, gelten u. a. Shakspere und Walther v. d. Vogelweide, Dante und Spinoza. Die Dissertation selbst („Coniectanea in historiam rei metricae franco-gallicae“) behandelte zwei wichtige Capitel der altromanischen Verslehre und hat in der Discussion über diese Fragen lange nachgewirkt.
ten BrinkDas lebhafte Zureden seiner Lehrer veranlaßte ten B., die akademische Laufbahn einzuschlagen; er habilitirte sich in Münster für neue Sprachen, erhielt alsbald einen Lehrauftrag und schon 1868 eine außerordentliche Professur. Im Herbst 1870 vertauschte er sie mit einer ordentlichen in Marburg, und hier erreichte ihn nach kaum zwei Jahren die Berufung als o. ö. Professor der englischen Philologie an die neugegründete Universität Straßburg. Ostern 1873 ist er dorthin übergesiedelt, auch er getragen von patriotischem Stolze, hier für das neue Reich zu wirken, an das er sich mit voller Hingabe angeschlossen hatte, dessen großen Begründern er eine mit den Jahren stets wachsende Bewunderung zollte. Er ist der Straßburger Hochschule erhalten geblieben, obwol der Gedanke an eine Uebersiedelung nach Preußen mehrmals an ihn herantrat und ihn nicht immer gleichgültig ließ. Das 50. Lebensjahr sah ihn als Rector magnificus der Kaiser Wilhelms-Universität (1890/91) und gab ihm Gelegenheit, in einer formvollendeten Antrittsrede sein wissenschaftliches Glaubensbekenntniß mit einer Fülle feinsinniger Bemerkungen über Aufgaben und Methode der Philologie auszustatten („Ueber die Aufgabe der Litteraturgeschichte“, Straßburg 1891). – Ein glücklicher und beglückender Familienvater rüstete er eben der einzigen Tochter das Hochzeitsfest, als ihn am 29. Januar 1892 eine jäh verlaufende Blinddarmentzündung dem Kreise der Seinen und der Hochschule entriß, zu deren ersten und glänzendsten Zierden er gehört hat.
ten B. hat nach dem Abschluß seiner Universitätsstudien alsbald mit Entschiedenheit die Geschichte der englischen Sprache und Litteratur in den Vordergrund seiner wissenschaftlichen Thätigkeit gezogen, ohne dabei den Gesammtumfang seiner Interessen jemals einzuschränken. Hatte die Lectüre Shakspere’s schon den regen Enthusiasmus des Knaben entzündet, so war ihm durch Nic. Delius das Verständniß der historischen Probleme, auch über Shakspere hinaus, aufgegangen. Jahre hindurch drehten sich seine Studien, freilich oft weite Kreise ziehend, um die glänzende und beziehungsreiche Gestalt Geoffroy Chaucer’s, und eben hier war ihm Gelegenheit gegeben, die staunenswerthe Vielseitigkeit seiner Lectüre wie die volle Beherrschung aller Forschungs- und Beobachtungszweige: Ueberlieferung, Grammatik und Metrik, Quellen und litterarische Beziehungen, zu bekunden. Sein erstes, Delius gewidmetes Buch: „Chaucer. Studien zur Geschichte seiner Entwicklung und zur Chronologie seiner Schriften. l. Theil“ (Münster 1870) behandelte vorzugsweise die romantischen Dichtungen, welche den Canterbury-Geschichten vorausliegen. Es ist nur äußerlich ein Torso geblieben, denn in Aufsätzen und Kritiken der spätern Jahre, vor allem aber im zweiten Bande seiner „Geschichte der englischen Litteratur“ (I. Theil 1889) hat ten B. seine Behandlung dieses mittelalterlichen Classikers zu vollendetem Abschluß gebracht. Für die weiterbauende Detailarbeit aber hat er in seinem Buche über „Chaucer’s Sprache und Verskunst“ (Leipzig 1884) eine zugleich feste und fruchtbare Grundlage geschaffen.
Ein lebendiger geistiger Austausch verband ihn in den ersten Straßburger Jahren mit seinem Collegen Wilh. Scherer: beide vereint begründeten 1874 die „Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker“, in denen auch eine Reihe von Arbeiten aus ten Brink’s Schule gedruckt sind. Er selbst hat dem Andenken des Freundes mit einer herzlichen Widmung das 60. Heft dieser Sammlung geweiht, seine Untersuchungen über den „Beowulf“ (Straßburg 1888), die die alte Liedertheorie durch eine neue „Variantentheorie“ [787] zu überwinden streben und mit denen die Kritik und vor allem die Geschichte des germanischen Volksepos zweifellos in eine neue Epoche getreten ist, vergleichbar derjenigen, welche für die homerische Frage mit A. Kirchhoff’s Forschungen über die Entstehung der Odyssee einsetzt. Vorerst freilich hat der eindringende Scharfsinn und der weite historische Blick, mit dem hier große Probleme in Angriff genommen werden, wenig Verständniß, ja was schlimmer ist, wenig Aufmerksamkeit gefunden, und wenn ten B. in den letzten Jahren lebhafter als früher im Colleg und in Briefen über das zunehmende Banausenthum klagte und vor dessen Begünstigung an den Universitäten warnte, so hatte nicht wenig daran die Gleichgültigkeit Schuld, mit der man seinem tiefbohrenden und tiefernsten Buche über den Beowulf begegnet war.
In einem leider Fragment gebliebenen Beitrag zu Paul’s Grundriß der germanischen Philologie (Bd. II, 1, S. 510–550 Altenglische Litteratur) schickte er der Besprechung der einzelnen Denkmäler Erörterungen über die Kernfragen frühmittelalterlicher Litteraturgeschichte und Poetik: über Production und Reproduction der Volksdichtung, Versform und Composition, Rhetorik, Stilistik und Syntax des Epos voraus, alles feinfühlig und weitblickend, eine ernste Mahnung an die Jugend – und nicht nur an sie! – die mit billigem Skepticismus und thörichter Ueberschätzung ihrer Kärrnerarbeit sich von höherem Streben und von höheren Zielen unserer Disciplin fernhält.
ten B. besaß eine umfassende, unter den Neuphilologen lange einzig dastehende, sprachwissenschaftliche Bildung, dazu für Fragen der Grammatik wie der Metrik reges Interesse und unleugbare Begabung. Seine Vorlesungen boten auch auf diesem Gebiete neben selbständiger Kritik eine Fülle eigener Beobachtung, von der verhältnißmäßig nur weniges, aber meist in mustergültiger Abrundung, ans Licht getreten ist. An der Debatte über einen Cardinalpunkt der romanischen Grammatik betheiligte er sich noch 1879 mit der Schrift „Dauer und Klang“. Aber so rege hier seine bald selbst fördernde, bald anspornende Theilnahme war, so lebhaft er tüchtige grammatische und etymologische Leistungen anzuerkennen vermochte, als die Krönung der philologischen Wissenschaft ist ihm allezeit die Litteraturgeschichte erschienen. Und den Gipfeln der einzelnen Epochen, den classischen Erscheinungen war seine Sympathie stets zugewandt, galt seine eindringendste Arbeit. Nachdem er für das Heldengedicht der Angelsachsen und für den größten Dichter des romanisirten englischen Mittelalters das Beste gethan hatte, durfte man von ihm einschneidende Untersuchungen über Shakspere und seine Vorgänger erwarten. Sie sind es wohl in erster Linie gewesen, die die Fortsetzung seines Lebenswerkes hinausgeschoben haben, dessen Vollendung dann der Tod unmöglich machte. Dies Werk ist die „Geschichte der englischen Litteratur“, von der 1877 Bd. 1, 1889 die erste Hälfte von Bd. 2 erschien; den Schluß des zweiten Bandes hat im wesentlichen nach ten Brink’s Manuscript Professor Al. Brandl 1893 herausgegeben: er reicht bis in die Reformationszeit, vor die Schwelle des Zeitalters der Elisabeth. Keines der westeuropäischen Culturvölker kann sich einer Darstellung seines mittelalterlichen Schriftthums rühmen, wie sie England dem deutschen Gelehrten verdankt. Unter der anmuthigen Hülle einer flüssigen Darstellung birgt sich eine von dem Laien kaum zu ahnende Fülle eindringender Specialuntersuchungen. Alle Factoren der politischen, wirthschaftlichen und geistigen Entwickelung sind kundig erwogen und mit feinem historischem Tact berücksichtigt, aber dabei bleibt stets die Geschichte der Dichtkunst im Vordergrunde, in der die sittlichen Ideale der Epochen sich am klarsten enthüllen. Nichts Charakteristisches ist übergangen, aber auch nichts Originelles effectvoll aufgebauscht. Der vornehmen Ruhe des Geschichtsschreibers gesellt sich die schlichte, ungesuchte Anmuth eines darstellenden Künstlers, der mit einladendem [788] Behagen verweilt, wo Stoff und Form in reifer Durchbildung sich gatten. Die vielfach eingestreuten Uebersetzungsproben zeigen den Meister im Nachempfinden auch als einen Meister der poetischen Form. Die Gliederung und Gruppirung des weitschichtigen Stoffes läßt den intimen Zusammenhang der englischen Litteratur mit der politischen Entwickelung des Inselvolks auch äußerlich scharf hervortreten.
Wie ten Brink’s wissenschaftliche, so fand auch seine Lehrthätigkeit ihren Schwerpunkt mehr und mehr in der englischen Philologie, obwol sie noch in den ersten 6 Straßburger Jahren die romanischen Litteraturen und das Niederländische mit umfaßte. Den Begriff der Philologie faßte ten B. so hoch und weit wie Wilhelm v. Humboldt: als Wissenschaft vom Nationalen. Er war unermüdlich auf Ausgestaltung seiner Vorlesungen bedacht und arbeitete noch 1886 ein neues Einleitungscolleg aus, das auf breitester Basis Natur, Geschichte und Volkscharakter Englands behandelte. Schlicht wie seine ganze Persönlichkeit war die Art seines Vortrags. Auf stoffliche Abrundung und Glätte der Form strebte er erst in spätern Jahren hin: ein Musterbeispiel davon sind seine aus dem Nachlaß herausgegebenen Frankfurter Vorlesungen über „Shakspere“ (Straßburg 1893). Stets ließ er seine Studenten Antheil nehmen an der eigenen wissenschaftlichen Arbeit, gab ihnen Einblick in die Schatzkammern wie in die Werkstätte seines Geistes und führte sie von entsagungsvoller philologischer Arbeit und aus den Urwäldern der mittelalterlichen Ueberlieferung immer wieder empor zu den klaren Höhen der Weltlitteratur, auf denen feiernd zu athmen den Philologen Freiheit und Würde wahrt. Seine Einwirkung auf die Zuhörer darf nicht an der äußern Zahl der unter seiner Leitung entstandenen Dissertationen gemessen werden: er bestritt den Kärrnern und Handlangern die Nothwendigkeit nicht nur, sondern die Berechtigung der Existenz, mochten sie mit Eifer oder mit Stumpfsinn ihrer kümmerlichen Arbeit fröhnen, und ließ selbst zur wissenschaftlichen Mitarbeit keinen zu, dem nicht der Zusammenhang der eigenen Leistung mit den großen Zielen der Wissenschaft klar bewußt und alle Mittelglieder vertraut waren.
Es ist schwer zu sagen, ob nicht unter seinen Vorlesungen die über Grammatik und Sprachgeschichte noch den Vorzug vor den litterar-historischen verdienten. Auch ein Meister der Interpretation war er, und auf keinem deutschen Katheder ist besser vorgelesen worden. Galt es Shakspere oder Dante, Chaucer oder Molière, dem altenglischen oder dem altfranzösischen Heldengedicht, französischen Volksliedern oder der altflandrischen Dichtung von Reinaert dem Fuchse – diesem Vorleser und seiner Auslegung zu lauschen war reinster Genuß für uns Zuhörer, welche die anschmiegsame Sprache und das ausdrucksvolle Auge des Meisters wie im Zauberbann hielt. Hinter einem glänzenden Philologenharnisch schlug hier ein echtes Poetenherz.
[785] *) Zu S. 562.