Zum Inhalt springen

ADB:Götzinger, Ernst

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Götzinger, Ernst“ von Johannes Dierauer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 494–497, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:G%C3%B6tzinger,_Ernst&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 18:21 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Götze, Zacharias
Band 49 (1904), S. 494–497 (Quelle).
Ernst Götzinger bei Wikisource
Ernst Götzinger in der Wikipedia
Ernst Götzinger in Wikidata
GND-Nummer 116745061
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|49|494|497|Götzinger, Ernst|Johannes Dierauer|ADB:Götzinger, Ernst}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116745061}}    

Götzinger: Ernst G., Germanist und Historiker, geboren am 23. September 1837 in Schaffhausen, † am 10. August 1896 in St. Gallen. G. war ein Sohn des aus Sachsen stammenden Grammatikers und Litterarhistorikers Max Wilhelm G. († 1856), der von 1827–1850 die Lehrstelle der deutschen Sprache und Litteratur am Gymnasium in Schaffhausen innehatte. Der strenge, an Kant geschulte Vater gab ihm die wissenschaftliche Richtung und das Formtalent; von der feinsinnigen Mutter, einer geb. Kirchhofer, erbte er die heitere Grundstimmung seines Wesens und die tiefe Anlage des Gemüths. Am [495] Gymnasium führte ihn der tüchtige Philologe Robert Adolf Morstadt in die classischen Sprachen und der Rechtshistoriker Karl Knies in die Geschichte ein. Mit dem Entschlusse, Sprachwissenschaften zu studiren, bezog er im Frühjahr 1856 die Universität. In Basel erhielt er wissenschaftlich bestimmende Anregungen durch Karl Steffensen, Karl Ludwig Roth und Wilhelm Wackernagel; in Bonn hörte er Ritschl, Jahn, Welcker und Diez; in Göttingen schloß er sich besonders an Leo Meyer und Wilhelm Müller an. Dort wurde er am 10. März 1860 mit einer Dissertation über den angelsächsischen Dichter Caedmon zum Doctor promovirt. Noch im gleichen Frühjahr erhielt er die Stelle eines Professors der deutschen Sprache an der Kantonsschule (Gymnasium und Industrieschule) in St. Gallen. Er versah sie 36 Jahre lang, bis an das Ende seines Lebens. Anfangs hatte der aus dem akademischen Hörsaal in das Classenzimmer versetzte junge Mann einige Mühe, sich an methodische Schulführung zu gewöhnen. Bei zunehmender pädagogischer Erfahrung und freier Stoffbeherrschung wurde er aber ein vortrefflicher Lehrer, der auf Generationen von Schülern einen nachhaltigen Einfluß ausübte. Er weihte die oberen Classen an der Hand der Nibelungen und der Lieder Walther’s von der Vogelweide in die Sprache und die Culturformen des Mittelalters ein, erschloß ihnen das Verständniß der neuhochdeutschen Sprache und wußte die reifsten Schüler vor allem für die Dichtung Goethe’s, deren mächtigen Gehalt er in angestrengtem Studium erfaßt hatte, zu begeistern. Durch ein Menschenalter erschien er als der wahrhaft berufene Verwalter und Uebermittler des centralen Gutes der allgemeinen Bildung an der St. Gallischen Kantonsschule. Darin lag seine Bedeutung als Lehrer.

Neben der Schule entfaltete G. eine ausgebreitete wissenschaftliche Thätigkeit. Sofort nach seiner Ankunft in St. Gallen wurde er Mitglied des 1859 von seinem Studienfreunde Dr. Herm. Wartmann gegründeten Historischen Vereins. Indem er sich der Gesellschaft mit den Ergebnissen seiner Studien zur Verfügung stellte, bot sie ihm umgekehrt eine schätzbare Stütze für seine Publicationen. Er wandte sich den zum großen Theil noch ungehobenen handschriftlichen Schätzen der Stadtbibliothek (Vadiana) aus der Reformationszeit zu. Nach einigen kleineren Stücken (Kopp’scher und Murner’scher Kalender vom Jahre 1527, Vita Vadiani) gab er 1866–1868 in den wissenschaftlichen „Mittheilungen“ des Vereins die „Sabbata“ Johannes Keßler’s heraus, jene anmuthige Hauschronik, die nun zum ersten Male als eine wichtige Quelle für die schweizerische und süddeutsche Reformationsgeschichte in ihrem vollen Werth erkannt wurde (s. A. D. B. XV, 657). Etwa zehn Jahre später, 1875–1879, konnte er auf Veranstaltung des Historischen Vereins und mit Unterstützung des Kaufmännischen Directoriums die deutschen historischen Schriften Vadian’s in drei stattlichen Bänden dem Drucke übergeben. Der St. Gallische Humanist, Reformator und Geschichtschreiber blieb fortan seine Lieblingsgestalt, und noch kurz vor seinem Tode war es ihm vergönnt, theils in dieser Sammlung (s. A. D. B. XLI, 239), theils in den „Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte“ (Nr. 50) das Leben und Wirken Vadian’s für weitere Kreise darzustellen. Für die „Mittheilungen“ des Historischen Vereins bearbeitete er ferner die ebenfalls der Reformationszeit angehörenden Chroniken des Bischofzeller Klerikers Fridolin Sicher (Bd. 20, 1885) und des Toggenburgers Hermann Miles (nach Götzinger’s Tode herausgegeben von T. Schieß in Bd. 28, 1902), dem er bereits im 14. Bande der „Mittheilungen“ (1872) eine eingehende Untersuchung gewidmet hatte. Von Hause aus mit dem feinsten Sprachgefühl begabt, lebte sich G. während dieser Editionsthätigkeit vollkommen in die Formen des [496] 16. Jahrhunderts ein, und es machte ihm Vergnügen, in kleinen Gelegenheitsschriften den treuherzigen Chronikstil seiner Vorbilder nachzuahmen. Die weiteste Verbreitung fand seine „Warhafftige nuwe zittung des jungst vergangnen tutschen kriegs“, die er nach der Herstellung des Friedens im Frühjahr 1871 niederschrieb. Das scheinbar leicht hingeworfene Büchlein war ein Meisterwerk, dem sprachliche Kunst und köstlicher Humor einen ungewöhnlichen Reiz verliehen. Eben die Freude an dem kernhaften Sprachgut der Reformationsepoche veranlaßte ihn auch, des Erasmus „Lob der Thorheit“ in der von Sebastian Frank geprägten deutschen Form wieder aufzuwecken und dieses populärste Werk des großen Humanisten in neuem Gewande, mit instructiver Einleitung und sprachlich-sachlichem Commentar, in die Welt zu schicken (Leipzig 1884). So neigte sich der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit andauernd dem 16. Jahrhundert zu. Aber mit derselben Lust und Kraft versenkte er sich auch in die neuern Perioden der deutschen Litteratur. Er besorgte neue Auflagen des „Dichtersaals“ und der „Deutschen Dichter“ seines Vaters. Er beschäftigte sich immer gründlicher mit Goethe. Er erforschte die „Geschichte des evangelischen Kirchengesanges in St. Gallen“ und der schon 1650 gegründeten „Singgesellschaft zum Antlitz“ (beide Arbeiten gedruckt in seinen „Litteraturbeiträgen aus St. Gallen“, 1870) und veranstaltete eine neue Ausgabe der Gedichte Joh. Peter Hebel’s, für die er als Einleitung eine Geschichte der alemannischen Mundart schrieb (Aarau 1873). In den achtziger Jahren erreichte G. die Höhezeit seiner Schaffenskraft. 1880 verfaßte er eine „Deutsche Grammatik“, in der er, abweichend von der seiner Zeit sehr geschätzten „Deutschen Sprachlehre“ seines Vaters (10. Aufl. Aarau 1869), die sprachlichen Erscheinungen in genetischer Darstellung vorführte. Dann übernahm er nach dem Auftrag eines Leipziger Verlegers die Ausarbeitung eines umfangreichen „Reallexikons der deutschen Alterthümer“, das 1881 in erster, 1885 in zweiter, wesentlich erweiterter und verbesserter Auflage erschien. Das etwas hastig hergestellte Buch erhob nicht den Anspruch, den gelehrten Germanisten zu dienen; es wandte sich einfach an „Freunde und Liebhaber des deutschen Alterthums, welche ohne besondere Studien dieser Art zu pflegen, einen in seiner Art ausgiebigen Rathgeber gerne zur Seite haben“. Und den Bedürfnissen dieser Kreise in und außerhalb der Schule leistete es vollauf Genüge. Dazwischen schrieb G. für verschiedene Zeitschriften eine Reihe kleinerer Abhandlungen über sprachliche, litterarische und historische Gegenstände. Sie bezeugten, wie vortrefflich er es verstand, „das Lokale an das Allgemeine zu knüpfen, den Beziehungen nachzugehen, in denen das Kleine zum Großen, das Besondere zum Allgemeinen gestanden hat“. In dem schönen Buche: „Altes und Neues“ (St. Gallen 1891) ist eine Auswahl dieser Aufsätze zusammengestellt. Endlich veröffentlichte G. eine ganze Serie von Arbeiten in den „Neujahrsblättern“, jenen allgemein verständlichen Darstellungen, mit welchen sich der St. Galler Historische Verein seit 1861 jeweilen an ein größeres Publicum zu wenden pflegt. Er begann mit den Minnesängern Ulrich von Singenberg und Konrad von Landegg (1866), wählte dann einige Stoffe aus der Reformationszeit (so 1873 Vadian als Geschichtschreiber) und reihte hieran die Geschichte der Herrschaft Bürglen im Thurgau (1884), der Familie Zollikofer (1887), des „armen Mannes im Toggenburg“ (1889) und des „Barden von Riva“ (1890). Mit besonders warmer Theilnahme schrieb er die beiden letzteren Stücke: die Lebensbilder des von der schwärmerischen Gefühlsrichtung der Sturm- und Drangperiode erfaßten Toggenburgers Ulrich Bräker (1735 bis 1798) und des originellen Walenstadters Franz Jos. Benedict Bernold [497] (1765–1841), dessen bedeutsamste Dichtungen und Briefe er an anderer Stelle („Mittheilungen“ 24, St. Gallen 1891) herausgab.

G. lebte in freundlichen Familienverhältnissen. Der Tod einer in Palermo weilenden Tochter traf ihn schwer. Aber er überwand rasch den herben Schlag. Noch beim Antritt des neunundfünfzigsten Lebensjahres erschien er kerngesund: eine breitschultrige, hochgewachsene Gestalt, mit hellen, lebhaften Augen, heiter, gesprächig, arbeitsfreudig. Da plötzlich, im Frühjahr 1896, zeigten sich Symptome einer Gehirnkrankheit, der er nach wenigen Monaten erlag. Die zweite, große Ausgabe der „Sabbata“ (St. Gallen 1902), die er nicht mehr besorgen konnte, hat Hermann Wartmann seinem Andenken gewidmet.

Vergl. Ernst Götzinger. Ein Lebensbild von Johannes Dierauer. St. Gallen 1897 (mit Porträt in Heliogravüre und einer chronologischen Uebersicht der litterarischen Arbeiten Götzinger’s). Dazu die biographischen Artikel in der Schweizerischen pädagogischen Zeitschrift, 6. Jahrg., Zürich 1896, S. 193–204 und im Biographischen Jahrbuch I (Berlin 1897), S. 231–235.