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ADB:Carrière, Moriz

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Artikel „Carriere, Moriz“ von Wilhelm von Christ in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 452–459, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Carri%C3%A8re,_Moriz&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:19 Uhr UTC)
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Carriere: Moriz C. war geboren am 5. März 1817 zu Griedel, einem Dorfe des Großherzogthums Hessen, als Sohn eines Rentamtmanns des Fürsten von Solms-Braunfels. Er entstammte, wie schon der Name erkennen läßt, einer französischen Familie, welche um ihres Glaubens willen aus Frankreich vertrieben, in Deutschland an der Dill und Lahn eine neue [453] Heimath gefunden hatte. Seine Gymnasialstudien machte er an dem preußischen Gymnasium in Wetzlar, dessen feingebildeten Rector Axt er in seiner Doctordissertation als „praeceptorem doctissimum, amicum carissimum“ anredet. Nach Absolvirung des Gymnasiums im J. 1835 bezog er zunächst die Universität Gießen, um ohne Wahl eines bestimmten Faches philosophische Studien zu betreiben. Ein Jahr später siedelte er nach Göttingen über, wohin ihn der Ruf des berühmten Litterarhistorikers Gervinus und des großen Archäologen Otfr. Müller zog, wo er aber auch bei den Philosophen Herbart und Krische hörte. Den Abschluß seiner Universitätsstudien fand er in Berlin, wo er sich schon specieller den philosophischen Studien im engeren Sinne zuwandte und von Trendelenburg zu den berühmten philosophischen Uebungen herangezogen wurde. Zum Doctor philosophiae promovirte er am 28. Juli 1838 in Göttingen mit der Abhandlung „Theologiae Aristotelicae lineamenta“,, nachdem er schon ein Jahr zuvor mit der Abhandlung „De Aristotele Platonis amico eiusque doctrinae iusto censore“ (Gott. 1837) die Billigung der Facultät erhalten hatte, aber wegen zu jugendlichen Alters nicht zur Promotion zugelassen worden war. Die beiden Dissertationen behandeln einen Autor des Alterthums und sind in lateinischer Sprache, in überfließendem ciceronischen Stil geschrieben, aber aus ihnen spricht weniger der kritische Philologe, als der werdende Philosoph: die Sätze des Aristoteles sind mit der Lehre Hegel’s combinirt; Humboldt, Dahlmann, Schlosser sind in Betracht gezogen; in den lateinischen Text sind Verse Goethe’s eingelegt; kurzum der junge Doctor fühlte sich nicht wohl in dem abgeschlossenen Kreise des Alterthums, er suchte das Alterthum mit dem frischen Leben der Neuzeit in Verbindung zu bringen, der Erfassung des großen Ganzen zuzustreben.

Nachdem er nach seiner Promotion noch kunsthistorische Reisen in Italien gemacht und in mehreren kleinen Schriften, wie „Die Religion in ihrem Begriff, ihrer weltgeschichtlichen Entwickelung und Vollendung“ (Weilburg 1841), „Schwert und Handschlag für Franz Baader“ (Weilburg 1841), „Achim von Arnim und die Romantik“ (Grünberg 1841), seine lebhafte Theilnahme an religiösen und litterarischen Fragen der Gegenwart bekundet hatte, habilitirte er sich 1842 als Docent der Philosophie in Gießen, wo er auch 1849 zum außerordentlichen Professor vorrückte. Seine Gießener Zeit war reich an Erfolg und mannichfacher Anregung. Seine Vorlesungen, wiewol sie aus dem herkömmlichen Geleise der philosophischen Vorlesungen heraustraten, waren gut besucht; Männer, die später eine hervorragende Rolle in der Litteratur und dem öffentlichen Leben spielten, wie W. Riehl, K. Hofmann, Bamberger, Büchner, zählte er zu seinen Zuhörern. In der Gesellschaft „Sonderbund“, in der sich die jüngeren Geister der Gießener Gelehrtenwelt zusammenfanden, verkehrte C. mit geistreichen Männern verschiedener Richtung, unter denen ihm keiner so lieb in der Einnerung blieb als Gust. Baur, der hochgebildete Theologe, der „auch in der Kunst und in der Natur eine Offenbarung des göttlichen Geistes suchte und fand“. In der Familie des großen Chemikers und Naturforschers Liebig erhielt er neue, die Werkstätte der Natur ihm tiefer erschließende Anregungen, und gewann er als liebgesehener Gast das Herz der ältesten Tochter Agnes, die er später (1853) zum glücklichen, leider früh durch den Tod gelösten Ehebund heimführte.

Seit dem Jahre 1853 finden wir C. in München, nachdem kurz zuvor Liebig von König Maximilian II. zur Neubelebung der wissenschaftlichen Studien dorthin berufen worden war. Anfangs hielt er in freier Stellung an der Universität Vorträge über Aesthetik und allgemeine Litteraturgeschichte; bald bekam er auch eine feste Anstellung als Schriftführer und Professor der [454] Kunstgeschichte an der Akademie der Künste. In dem reichen Leben der großen Stadt, im Verkehr mit Künstlern, Dichtern, Gelehrten erhielt sein dem Schöngeistigen von je besonders zugewandter Geist mannichfache Nahrung, und reiften die großen Werke, die seinen Namen allhin verbreiteten und seiner litterarischen Stellung ein festeres Gepräge gaben. Von der Gnade seines königlichen Herrn wurde er zu den berühmten Symposien in der Residenz zugezogen; in den verschiedenen litterarischen Gesellschaften der Stadt war er ein thätiges, selten fehlendes Mitglied; auch an dem politischen Leben nahm er namentlich zur Zeit der nationalen Erhebung, als die Träume seiner Jugend in den Gestalten des Heldenkaisers Wilhelm I. und seines großen Kanzlers Bismarck sich verkörperten, begeisterten Antheil. Im J. 1887 erreichte er auch nach seiner Enthebung von dem Sekretariat an der Kunstakademie, „was er vor 50 Jahren zu werden gewünscht und lange vergeblich angestrebt hatte, die einfache Stellung eines ordentlichen Universitätsprofessors“. Der bayerischen Akademie der Wissenschaften gehörte er seit 1889 als ordentliches Mitglied an.

In frohem Schaffen und in heiterer Geselligkeit gelangte er so zur Schwelle des Alters. Freilich auch von herben Verlusten und schweren Schicksalsschlägen blieb sein Leben nicht verschont. Nach zehn Jahren glücklichster Ehe ward ihm seine treue Lebensgefährtin entrissen; seine zwei Kinder sah er vor sich in das Grab sinken, das Mädchen Elisabeth in zarter Kindheit, den hoffnungsvollen Sohn Justus in der Blüthe des Mannesalters; seiner eigenen Augen Licht drohte durch den grauen Staar zu erlöschen. Aber von dem Augenleiden brachte ihm die kundige Hand seines Collegen und Freundes Rothmund Heilung, und die Schmerzen, welche ihm der Tod seiner Liebsten bereitete, überwand er mit dem Troste der Weisheit. So setzte er mit ungebrochener geistiger Kraft seine Thätigkeit an der Universität, in der Litteratur und im geselligen Leben ohne Unterbrechung fort, bis am 18. Januar 1895 ein Herzschlag unerwartet und plötzlich seinem Leben ein Ende machte.

Das sind die äußeren Umrisse des Lebens Carriere’s. Der Inhalt desselben war ein ungemein reicher, nicht durch einflußreiche Lebensstellung und ausgedehnte praktische Thätigkeit, sondern durch die Vielseitigkeit seines geistigen Interesses und die Fruchtbarkeit seiner litterarischen Feder. Er hat selbst in seinen letzten Lebensjahren eine Gesammtausgabe seiner Werke in 14 Bänden veranstaltet, aber dieselbe umfaßt lange nicht alles, was er geschrieben; die kleinen Aufsätze und Artikel fehlen ganz, und auch von seinen Jugendschriften vermißt man ungern eine Auswahl.

Von seinen größeren Werken hat er selbst die „Sittliche Weltordnung“ (1877; 1891 = XIII. Bd. d. Ges. W.) als dasjenige Buch bezeichnet, welches die wissenschaftliche Entwicklung seiner Ideen über Kunst, Religion und Geschichte und die langsam gereifte Frucht seiner Studien auf diesem Gebiete enthält, eine in Freude und Leid gewonnene Lebensanschauung. Wenn nun auch nicht allgemein diesem Buche und den damit in Verbindung stehenden zwei akademischen Abhandlungen „Das Wachsthum der Energie in der geistigen und organischen Welt“ (1892), und „Erkennen, Erleben, Erschließen“ (1893) jene centrale Bedeutung zuerkannt wird, so ist es doch die Idee der sittlichen Weltordnung, die alle Schriften und Reden Carriere’s wie ein rother Faden durchzieht. Er fühlte sich eben in erster Linie als Philosoph und Lehrer des Volkes und wollte seine Reden und seine Schriften über Kunst und Litteratur nur als Ausflüsse seiner philosophischen Weltanschauung angesehen wissen. Ausgegangen war er in seiner Philosophie von Hegel, den er schon in einer seiner frühesten Schriften als den Aristoteles unserer Zeit, als das Genie des [455] architektonischen Gedankenbaus preist. Den großen Dialektiker hatte er nicht mehr selbst gehört; denn derselbe war schon vor seinen Universitätsjahren im J. 1833 von der Cholera weggerafft worden. Aber in Berlin hörte er die Schüler des Meisters und schon in Göttingen lag er mit Feuereifer dem Studium seiner Schriften ob. Der Einfluß des bahnbrechenden Denkers zeigt sich auch noch in den späteren Arbeiten Carriere’s, in der Vorliebe für systematische Construction, in der Geringschätzung der vom Ganzen losgelösten Einzelforschung, in dem optimistischen Glauben an eine allmählich sich steigernde Entwicklung auf allen Gebieten des Geistes und der Natur. Thatsächlich aber entfernte er sich mit der Zeit immer mehr von der Grundlage des Hegel’schen Idealismus. Angelpunkt seiner ganzen Betrachtung wurde die sittliche Weltordnung, in der zugleich die schöpferische Freiheit des Willens und die Unabänderlichkeit der Naturgesetze, die Kraft des denkenden Subjectes und die Wahrheit der objectiven Erscheinung zur Geltung kommen sollten. Er bezeichnete diese seine Weltanschauung als Real-Idealismus, indem er dabei von der Forderung der Vernunft ausging, welche ein gemeinsames Princip als Grund und Ziel alles Lebens für unseren erkennenden Geist und die Außenwelt der Erscheinungen verlangt und wonach die Denkformen unseres Verstandes sich mit den Gesetzen und Normen decken, nach denen die Welt unterschieden und geordnet ist. Gestützt sodann auf die auch dem Laien sich aufdrängende Beobachtung eines Bildungstriebes in den Geschöpfen des organischen Lebens findet er auch in der Natur ein Analogon des menschlichen Sittengesetzes, so daß das Streben aufsteigender Lebensentwicklung Natur und Geschichte, das Reich des Bewußten und Unbewußten mit einander verkettet. Und indem er dann schließlich zur Gottesidee aufsteigt, erfaßt er Gott als den das Universum zusammenhaltenden Weltgeist, der als Urgrund der sittlichen Weltordnung in allem stets und überall gegenwärtig sei. Dabei verwahrte er sich aber gegen den Vorwurf einer pantheistischen Gottesanschauung, indem er seinem Gott zugleich bewußten Willen und den Charakter der Persönlichkeit beilegte. Es soll nicht hier an diesen Sätzen Kritik geübt und untersucht werden, ob es wirklich C. gelungen ist, die Begriffe der Persönlichkeit und der Universalität zusammenzuführen, und ob er berechtigt war, aus der Wahrnehmung des Entwicklungstriebes in der organischen Schöpfung auf ein teleologisches Princip in der Weltbewegung zu schließen. Sicherlich hat er selbst unverbrüchlich an jenem Grundsatz der sittlichen Weltordnung festgehalten und in seinen letzten Lebensjahren gegen die Vertreter des Materialismus und der Truglehre blindwirkender Naturgesetze mehr noch als gegen den religiösen Fanatismus und die Beschränktheit eines starren Dogmatismus angekämpft. An das deutsche Volk gewandt rief er aus: „in dem Glauben an die sittliche Weltordnung bist du groß geworden; an ihm halte fest und du wirst menschenwürdig und glücklich leben“.

Unter den verschiedenen Zweigen der Philosophie hat C. zu seiner speciellen Domäne die Aesthetik oder die Idee des Schönen erkoren; sie zog ihn vor allem an, denn im Schönen, so sprach er in schwärmerischer Begeisterung, wird unser ganzes Wesen, Sein und Seele, Herz und Geist zugleich befriedigt und erhoben, in ihm ist das Reale und Ideale in Eins gebildet, es ist das mangellose Sein, ein wiedergeborenes Paradies und ein Himmel auf Erden. Ueber die Kunst hat er zwei große Werke geschrieben, ein philosophisches und ein historisches, eine Aesthetik und eine Kunstgeschichte.

Die „Aesthetik“, die in wiederholten Auflagen erschienen ist (1859¹, 1885³, Bd. I u. II d. Ges.-W.), umfaßt 2 Theile. In dem ersten handelt der Verfasser im allgemeinen von der Idee des Schönen und ihrer Gestaltung [456] im Kosmos und in der Natur, unter den Aufschriften Schönheit, Welt und Phantasie; in dem zweiten legt er dann die Principien und Grenzen des Schönen in den drei Reichen der bildenden Kunst, der Musik und der Poesie dar. Dem letzten Theile, in dem er selbst nicht bloß betrachtend, sondern auch schöpferisch thätig war, widmete er noch ein besonderes Buch „Das Wesen und die Formen der Poesie, ein Beitrag zur Philosophie des Schönen und der Kunst“ (1854¹, 1886² = Bd. III d. Ges. W.). Auf seine „Aesthetik“ legte C. selbst ein großes Gewicht: es war dasjenige Gebiet, das er speciell als Professor an der Universität vertrat, und zu den er durch seine Stellung an der Kunstakademie und im Verkehr mit Künstlern und Dichtern reichste Anregung erhielt. Auch hat er mit seinen Vorlesungen über Aesthetik und besonders über das Wesen und die Formen der Poesie großen Anklang gefunden; aber es fehlte auch nicht an Ausstellungen und abfälligen Urtheilen. Abgesehen von denjenigen, welche überhaupt auf theoretische Erörterungen im Gebiete der schaffenden Kunst keinen Werth legen, wurde auch von Fachmännern die präcise Formulirung der Gedanken und die psychologische Entwicklung vom Empfinden des Schönen vermißt, und Lotze glaubte so weit gehen zu dürfen, in seiner Geschichte der Aesthetik die Leistungen Carriere’s einfach zu ignoriren. Es übte eben hier am meisten bei unserem Freunde die Hegel’sche Begriffssystematik ihren Einfluß zu Ungunsten der Sache: dem beliebten Dreiklang zulieb wird nicht bloß in der bildenden Kunst Architektur, Plastik, Malerei, in der Poesie Epos, Lyrik, Drama unterschieden, sondern auch in der Musik zur Instrumental- und Vocalmusik als Drittes die Verbindung von Instrumental- und Vocalmusik gestellt, und in der Lyrik eine Scheidung in Lyrik des Gefühls, der Anschauung und des Gedankens durchgeführt. Das schmeckt stark nach Hegel’scher Architektonik und entspricht wenig dem historischen Werden und dem inneren Wesen der Sache, noch weniger, wenn der Unterschied von Ode und Elegie statt historisch entwickelt und aus dem Versmaß erklärt zu werden, dahin bestimmt wird, daß die Ode den großen Gehalt des Lebens ergreift, die Elegie hingegen einen sanften, schmelzenden Ton hat.

Das historische Werk über das Schöne trägt den Titel „Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit“ (Bd. IV bis IX d. Ges. W.) und behandelt in 5 Bänden die Anfänge der Cultur und das orientalische Alterthum in Religion, Dichtung und Kunst, Hellas und Rom in Religion und Weisheit, Dichtung und Kunst, das christliche Alterthum und den Islam, das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft, Renaissance und Reformation in Bildung, Kunst und Litteratur, endlich das Weltalter des Geistes im Aufgang, in Litteratur und Kunst im 18. und 19. Jahrhundert. Das Ganze ist eine Philosophie der Geschichte vom Standpunkt der Aesthetik, die man treffend auch eine Geschichte des Idealismus genannt hat. Es ist ein großartig angelegtes, mit staunenswerthem Fleiße durchgeführtes, von tiefen Gedanken erfülltes und in gehobener Sprache geschriebenes Werk. Dem Verfasser kamen hier die Vorzüge seines Geistes und seiner Studienweise ganz besonders zu statten, die warme Begeisterung für das Schöne, die ausgebreitete Lectüre, das treue Gedächtniß, die Leichtigkeit, sich in das Denken und Fühlen verschiedener Zeiten hineinzufinden. Was man an seinen theoretischen Schriften getadelt hat, die Masse der wörtlichen Anführungen, das war in diesem Werk ganz an seinem Platz; man folgt hier gern der Art des Autors, „die einzelnen Männer selbst sich schildern zu lassen und so viel als möglich vom Hauch und Duft des Originals in seine Bearbeitung zu verpflanzen“. Dadurch erhielt das Werk die [457] große Mannichfaltigkeit, die den Leser stets frisch erhält und nach den verschiedensten Seiten anregt. Dazu fügt der Autor jene Unabhängigkeit der geistigen Erfassung und jenen sittlichen Adel der Beurtheilung, die den gebildeten Leser stets in sympathischer Stimmung erhält. So erklärt sich leicht der große Erfolg, den C. mit diesem Werke in den verschiedenen Schichten des deutschen Volkes, bei Männern und bei Frauen, gefunden hat. Der Specialforscher wird ja auf seinem Gebiet lieber zu Büchern greifen, welche ihn direct zu den Originalen und mitten in die Fragen der Forschung hineinführen, aber auch er wird Carriere’s Buch mit Gewinn lesen, um seinen Horizont zu erweitern und vergleichende Gesichtspunkte für die Cultur- und Kunstentwicklung verschiedener Zeiten zu gewinnen. Einem solchen universellen Buch, wie es C. geschrieben hat, die Berechtigung abzusprechen, weil man über das Einzelne in Specialwerken Genaueres und Originelleres finden könne, hieße auch die Weltgeschichte Schlosser’s und den Kosmos Humboldt’s aus der Liste der wissenschaftlichen Werke und lesenswerthen Bücher streichen.

Mit diesem historischen Hauptwerk Carriere’s stehen mehrere andere, welche dasselbe theils vorbereiteten, theils begleiteten, in engem Zusammenhang; insbesondere „Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit (1847), „Vier Gedenkreden auf deutsche Dichter, Lessing, Schiller, Goethe, Jean Paul“ (1862), „Fichte’s Geistesentwicklung in den Reden über die Bestimmung des Gelehrten“ (1894), die Herausgabe von Goethe’s Faust und Schiller’s Tell mit Einleitung und Erläuterung in der Bibliothek der deutschen Nationalliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts.

Die drei Hauptwerke Carriere’s habe ich hiermit aufgeführt und zu charakterisiren versucht; aber damit habe ich noch lange nicht die Schriftstellerei, geschweige denn die Geistesthätigkeit desselben erschöpft. Carriere war kein Buchgelehrter, der sich in seine Studirstube oder sein Laboratorium einschloß, er nahm an dem geistigen, politischen, religiösen Leben um sich regsten Antheil und nicht bloß als empfänglicher Leser und Zuhörer, sondern auch in activer Theilnahme als Redner und Schriftsteller. Zwar von der politischen Arena unserer Volksvertretungen zog er sich nach kurzer Thätigkeit in dem Vorparlament zu Frankfurt im J. 1848 bald wieder zurück, nachdem er selbst zur Erkenntniß gekommen war, daß sein Optimismus und sein Streben nach Aussöhnung der Gegensätze zum Streite der Parteien und zur Hitze des Kampfes wenig passe. Aber auch nach den Jahren der Enttäuschung verfolgte er mit patriotischem Eifer den Aufschwung der Nation, bot selbst in den Kämpfen der Jahre 1870/71 als Samaritaner dem Vaterlande seine Dienste an und stand stets in erster Linie, wenn es galt, die Güter der Freiheit und Vaterlandsliebe zu vertheidigen, das Andenken an die großen Männer und Geistesheroen der Nation zu feiern, das Interesse der Mitbürger für die Culturaufgaben der Zeit durch Wort und Schrift wachzurufen. Den Freunden aber – und er hatte viele in allen Lebensstellungen – wahrte er nicht bloß Treue und Liebe, er setzte vielen auch ein litterarisches Denkmal, theils während ihres Lebens, theils nach ihrem Hinscheiden. So kam es, daß er nicht bloß große Bücher schrieb, sondern auch viele Reden hielt und zahllose Artikel in Zeitungen und Zeitschriften erscheinen ließ. Es entging ihm nicht, daß diese seine Zwitterstellung als Gelehrter und Litterat in zünftigen Kreisen Anstoß erregte, aber weit entfernt dieselbe zu verleugnen, rühmte er sich derselben: „nicht nach deutscher Gelehrtenart“, sagte er in einem offenen Briefe an Renan, „will ich bloß für Gelehrte und Bibliotheken die Ergebnisse der Forschung darstellen, sondern für das Leben und das Volk will ich schreiben“. Und nicht leicht erfreute ihn eine Anerkennung mehr als die aus dem Munde [458] seines ehemaligen Collegen Bursian, als derselbe von ihm bei Gelegenheit der Feier seiner 25jährigen Thätigkeit an der Kunstakademie rühmte: „Der Jubilar hat nicht bloß in großen Büchern seine Ideen niedergelegt, sondern steht auch wie ein lebendiges Gewissen der Nation auf der Warte, um ihr in der Geschichte des Tages mahnende und erhebende Worte über die geistigen Lebensfragen der Menschheit zuzurufen“.

Das Meiste von diesen Reden und Aufsätzen ist zerstreut in den Beilagen der Allgemeinen Zeitung, in Westermann’s Monatsheften, der Deutschen Biographie, dem Deutschen Plutarch, dem Deutschen Museum, der Deutschen Rundschau, den Zeitschriften Gegenwart, Nord und Süd, Aula u. a. Das Beste hat der Verfasser selbst in zwei Sammelbänden vereinigt, in den „Religiösen Reden und Betrachtungen für das deutsche Volk“ (1850¹, 1894³ = XIV. Bd. d. Ges. W.) und in den „Lebensskizzen“ (1890 = XII. Bd. d. Ges. W.). Die erste Sammlung enthält etwa ein Dutzend Reden, dazu kritische Beigaben, zu denen noch die Sonderschrift „Jesus Christus und die Wissenschaft der Gegenwart“ zu stellen ist. Passend wurde das Buch von der Kritik als Erbauungsbuch für Gebildete bezeichnet. C. war für diese Art von Litteratur besonders geschaffen: entsprossen einer Familie, die viele Geistliche zählte und um des Glaubens willen Schweres erduldet hatte, verband er religiöse Weihe mit Einsicht in die Ergebnisse der wissenschaftlichen Kritik. Er bekämpfte wol das zähe Festhalten an erstarrten und überlebten Formen vergangener Jahrhunderte, aber die ewigen Grundwahrheiten des Christenthums hielt er unverbrüchlich fest und scheute selbst nicht den Kampf gegen die zersetzende Kritik von Strauß und die romanhaften Phantasien von Renan. Von dem Gebildeten verlangte er wenigstens den Grad von Religion, daß er nicht alles aus blinden Naturkräften hervorgehen lasse, sondern einen Willen der Liebe, der einsichtsvoll alles schafft und lenkt, anerkenne. Eine gottinnige Humanität, eine in Natur und Geschichte das Walten des Ewigen und die Verwirklichung seiner Ideen anschauende Weisheit hielt er für das höchste Ziel unseres Erkennens und Lebens in der Gegenwart.

Von noch allgemeinerem Interesse dürften die gesammelten „Lebensbilder“ sein. Es findet sich in diesem Buche außer einem längeren Essay über Oliver Cromwell, den Zuchtmeister zur Freiheit, eine Anzahl fein gezeichneter und lebensfrisch entworfener Gedenkblätter auf Bettina v. Arnim, Peter Cornelius, Geibel, Liebig, Johannes Huber, Melchior Meyr u. A. Besonders anziehend und voll sprühenden Künstlerhumors sind die „Dreißig Jahre an der Akademie der Künste in München“. Von dem politischen Optimismus des Verfassers zeugt das ebenda wieder abgedruckte Sendschreiben an Ernst Renan aus dem Jahre 1888 „Deutschlands und Frankreichs gemeinsame Kulturaufgaben“. Daß die dargebotene Hand angenommen und auf den offenen Friedensbrief eine offene Antwort erfolgt sei, davon verlautet freilich nichts.

Endlich darf bei einem Ueberblick über Carriere’s geistiges Schaffen auch seine poetische Muse nicht übersehen werden. Unser Gelehrter hat nicht bloß über die Poesie und ihre Formen tiefe und geistreiche Gedanken aufgestellt, er hat auch selbst gedichtet und in gehaltvollen, leichtfließenden Versen seine Gefühle und Eindrücke ausgesprochen. Die Gesellschaften, in denen er verkehrte, erfreute er mit poetischen Trinksprüchen und weitere Kreise ließ er in anmuthsvollen Blüthensträußen an den Schöpfungen seiner Muse theilnehmen. Schon als Student dichtete er 1837 zusammen mit seinem Freunde Theodor Creizenach für die Säcularfeier der Universität Göttingen einen Kranz von Sonetten. Später ließ er, gewissermaßen als Ergänzung zu seinen religiösen Reden ein „Gesangbuch für Denkende in alten und neuen Dichterworten“ [459] folgen (1838¹, 1862²), das in zweiter Auflage unter dem Titel „Gott, Gemüth und Welt“ auch das früher gesondert erschienene Gedankenmelodrama „Die letzte Nacht der Girondisten“ umfaßt. Aber die eigentlichen Perlen seiner dichterischen Muse enthält das dem Andenken seiner früh verstorbenen Frau gewidmete Büchlein „Agnes, eine Sammlung von Liebesliedern und Gedankendichtungen“ (1883).