Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen/Joachim Christian Nettelbeck
Ein deutscher Mann von ächtem Schrot und Korn,
hervorgegangen aus dem Volke und ein Mann des
Volkes in jenem schönen und edlem Sinne, der das
Volk als den Kern der Nation nimmt, nicht als die
begriffloße Masse; aus dem Volke, das aus ehrenhaften
Bürgern, nicht aus entsittlichtem Plebs besteht.
Nettelbeck’s Geburtsort war Colberg, und diese ostpreußische
Stadt wurde ihm, nachdem er ein vielbewegtes
Abenteurerleben in seinen Jugendjahren geführt, das er
selbst ausführlich und mit vieler Ehrlichkeit und Heiterkeit
in einer Selbstbiographie geschildert hat – zum
Hafen wie zum Schauplatz der ehrenhaftesten Thätigkeit.
Bis zum reiferen Mannesalter, bis in sein 45stes Lebensjahr ward Nettelbeck umgetrieben, mannichfache Fahrten bestehend zu Land und zu Wasser. Seemann mit Vorliebe, hatte er in früher Jugend den beschwerlichen Dienst eines solchen gelernt, hatte den Stürmen und den Wellen muthig gestanden und dem Tod offen in das grauenvolle Antlitz geblickt. Glück und Leid, Lust und Noth fanden ihn stets wacker und unerschrocken auf seinem Posten, mochte er in den Meeren schiffen, die Europa umfluten, oder im glühenden Brand der Sonne des Wendekreises die Küsten Afrikas umfahren Endlich aber lockte doch die Zauberstimme der Heimath allzu unwiderstehlich und es zog ihn, wie den ruhelosen Segler Odysseus zur Heimath, nach Colberg zurück. Dort ergriff Nettelbeck, der unmöglich müssig sein konnte und wollte, den Erwerbszweig eines Destillateurs und zeigte seinen geraden Sinn und seine Rechtschaffenheit den Mitbürgern so unverhüllt, daß ihm von allen Seiten unbegrenztes Vertrauen entgegenkam. Er wurde zum Vertreter der Bürgerschaft und zum Rathsherrn ernannt, und wirkte auch in diesen Ehrenämtern treu und einsichtsvoll, bis ihm Gelegenheit wurde, seinen Patriotismus noch glänzender zu bewähren.
Im Jahre 1807 wurde Colberg von den Franzosen belagert, deren siegreichen Waffen damals eine preußische Festung nach der andern sich erschließen mußte. Nicht so Colberg, Nettelbeck hielt es. Der Festungscommandant Lucadou zagte, sprach von Uebergabe, Nettelbeck verhinderte diese, wandte sich selbst an den König, Lucadou wurde abberufen und der Graf von [Ξ] Gneisenau an seine Stelle beordert. Gneisenau und Nettelbeck, der Graf und der Bürger, ein Dioscurenpaar des ewigen Nachruhms! Vereint retteten sie Colberg, erhielten Stadt und Festung ihrem Könige.
Nettelbeck, kein Jüngling mehr, sondern bereits ein Greis von fast 70 Jahren, durch dessen Adern aber noch Jünglingsfeuer fluthete, stand als Bürgeradjutant dem tapfern Commandanten zur Seite, thätig und hülfreich nach jeder Richtung hin; da Zagende ermuthigend, dort Weinende tröstend, die Kämpfer befeuernd, die Bürger zur Ausdauer und Hoffnung ermahnend. Bald war er auf den Kriegsschiffen, sie geschickt in den Hafen bugsirend, bald bei den Ausfällen, bald beim Löschen der Brände, die des Feindes Bomben in der schwer bedrängten Stadt entzündet, überall der alte Nettelbeck – wie ein hülfreicher Klabautermann der nordischen Küstensagen. Gut und Blut opferte er freudig hin; wenn die Nahrungsmittel ausgingen, Nettelbeck schaffte neue, und wenn den Bürgern der Muth sank, wenn sie unzufrieden mit der langen entsetzlichen Qual einer mit der größten Hartnäckigkeit fortgesetzten Belagerung murrten und zur Uebergabe drängen wollten, da war es immer wieder der alte Nettelbeck, der das Murren zu stillen wußte. Fast aber frommte kein Hoffen mehr, als die Festung selbst in Brand geschossen wurde, und je höher die Flammen stiegen, der Muth um so tiefer sank, dennoch – immer noch keine Uebergabe. Da schlug endlich die Stunde der Erlösung – der Friede zu Tilsit wurde geschlossen, die Waffen ruhten.
Ehre und Anerkennung blieben für den wackern Nettelbeck nicht aus; er empfing zwar keinen Ritterorden, aber doch eine goldene Verdienstmedaille und durfte die Uniform eines königlichen Flotten-Admirals tragen; auch wurde ihm, doch erst von 1817 an – da sein, ohnehin zum größten Theil dem Vaterlande geopfertes Vermögen schwand, ein Gnadengehalt von jährlich 200 – schreibe nur zweihundert Thaler, zu Theil. Königshand und -Huld hätte wol noch eine Null ansetzen dürfen, denn Nettelbeck hatte mehr gethan, als mancher Geheimerath in Berlin. Nettelbeck starb im 86. Lebensjahre und sein Andenken lebt noch heute in dankbarer Erinnerung seiner Vaterstadt und des deutschen Volkes.