Zwei Stunden aus der Zeit der Petersburger Trauerfeierlichkeiten
[255] Zwei Stunden aus der Zeit der Petersburger Trauerfeierlichkeiten. Die Petersburger Festungskirche, diese große Grabstätte der russischen Herrscherfamilie seit Peter dem Großen, bot, so lange die kaiserliche Leiche noch auf dem Paradebette lag, für den Beschauer einen eigenthümlichen Gegensatz irdischer Herrlichkeit und irdischer Hinfälligkeit; sie zeigte uns Scenen äußeren Glanzes, wenn der gesammte Hofstaat zur Seelenmesse für den gemordeten Kaiser versammelt war, aber sie entrollte ein Bild anspruchsloser Einfachheit, verbunden mit inniger, tief zu Herzen gehender Trauer, wenn in der späten Nachtstunde das niedere russische Volk sich dem Kaisersarge näherte, um dem, der sie aus Sclaven zu freien Menschen gemacht, die letzte Ehre zu erweisen. Diese beiden Gegensätze möchte ich versuchen, Ihren Lesern vor die Augen zu führen.
Auf höchsten Befehl war bekanntlich für jeden Mittag 12 Uhr Seelenmesse für den todten Kaiser Alexander den Zweiten angesagt, und bereits um 11 Uhr sah man die elegantesten Equipagen und Schlitten, Kutscher und Diener in tiefer Trauerlivrée, die an den Wagen befindlichen Wappen und Laternen mit schwarzem Tuch verhangen, sich über die zugefrorene Newa nach der Festungskirche hinüberbewegen. Aus den zahlreichen Fuhrwerken stiegen, am Thor der Kirche angelangt, ihre Insassen aus, hochgestellte Generäle und Minister, die glänzenden Uniformen in Flor gehüllt, auf der Brust ein Meer von Sternen, Staats- und Hofdamen im langen schwarzen Trauergewande, genau nach der vorgeschriebenen Form, und zwar je höher der Rang, je länger die Schleppe, Garde-Officiere aller Waffengattungen, Kammerherrn und Kammerjunker, kurzum Alles, was irgendwie in näherer Beziehung zum Kaiserhofe steht. Sie traten in die Kirche und schlugen der Gewohnheit gemäß das Kreuzeszeichen. Hier und da bildeten sich Gruppen, welche in selbstverständlich leise geführtem Gespräch – der richtige Hofmann kennt ja kaum ein anderes – die Ankunft der kaiserlichen Familie erwarteten.
In der Mitte der Kirche auf hohem Postament, zu welchem breite Stufen hinaufführen, stand der prachtvolle goldene Sarg, der die sterbliche Hülle desjenigen trug, auf dessen Wink die jetzt im Gotteshaus Versammelten erhöht oder erniedrigt wurden. Ueber der letzten Behausung des Herrschers, der das größte Reich der Erde regierte, breitete sich der kaiserliche Hermelin-Baldachin, geschmückt mit der Kaiserkrone, aus. Den Sarg umgaben die Ehrenposten, Generale, Garde-Officiere, Vertreter anderer Truppentheile, Träger der höchsten Hofchargen, alle in mit Trauer verhüllter Gala-Uniform. Nahe an hundert Orden und Medaillen des hohen Verstorbenen lagen auf goldenen Tabourets zu Füßen des Sarges, zu Häupten desselben die neun Kronen, welche dereinst sein Haupt schmückten, die kostbaren Reichsinsignien, Fahne, Scepter und Reichsschwert. Tausende von Wachskerzen erleuchteten den Raum taghell; denn die Bogenfenster der Kirche waren mit schwarzem Tuch verhängt.
Eben naht sich die gesammte hohe Geistlichkeit in ihren von Gold und Edelsteinen strotzenden Gewändern, und kaum haben die drei höchsten Kirchenfürsten, die Metropoliten von Petersburg, Moskau und Kiew neben dem Sarge Aufstellung genommen, so öffnen sich auch schon die Flügelthüren der Kirche; Herolde treten ein, in altdeutsche Tracht gekleidet, das schwarze Sammetwamms reich mit Silber gestickt; das ebenfalls [256] schwarze Barett mit den weißen Straußenfedern in der Hand, verkünden sie das Nahen des kaiserlichen Zuges, welchen Alexander der Dritte, seine Gemahlin am Arme, eröffnet. Diese Trauer zeigt sich auf dem ernsten Antlitze des Kaisers. Ihm folgt der endlose Zug einheimischer und fremder Fürstlichkeiten, unter welch Letzteren die hohe Gestalt des deutschen Kronprinzen hervorragt, der neben seinem Schwager, dem künftigen Könige von England und Kaiser von Indien, einherschreitet.
Nun beginnt der Gottesdienst mit seinen so mannigfaltigen, für den Laien völlig unverständlichen religiösen Ceremonien; ihn begleitet der Gesang der kaiserlichen Hofsänger, ein Sängerchor, wie solchen wohl kein anderer Staat der Welt besitzt. Endlich ertönen die Sterbelieder, und während derselben fallen alle Anwesenden auf die Kniee. In diesem Moment tritt der Kaiser an den Sarg seines Vaters heran, kniet dort nieder und küßt hierauf die erkaltete Stirn und Hand des Verstorbenen; sämmtliche Fürstlichkeiten folgen seinem Beispiel, und sobald dies vorüber, verläßt der kaiserliche Zug die Kirche in derselben Ordnung, in welcher er eingetreten, und ihm nach schreiten die übrigen Anwesenden. Eine Zeit lang hört man noch die Rufe der Lakaien: „Wagen Seiner Excellenz des Generaladjutanten A.!“ oder des „Ministers B.!“ – doch auch diese Rufe verstummen nach und nach. Die Betreffenden haben in ihrem Wagen Platz genommen und rollen nach Hause in ihre Palais. Die Kirche liegt so stumm da, wie zwei Stunden vorher.
So feiert die hohe und höchste Gesellschaft von St. Petersburg den todten Kaiser.
Und das Volk der trauernden Hauptstadt? Wie ehrt es seinen Befreier im Tode?
Es ist Abend geworden; die Nacht ist hereingebrochen, und auf dem hohen Thurme der Festungskirche, von dem herab die lange schwarze Trauerfahne weht, verkündet der eherne Glockenmund die Mitternachtsstunde. Wir betreten die Festungskirche, nachdem wir uns durch eine lange Reihe von Polizisten und Gensd’armen durchgewunden und unsere polizeiliche Legitimationskarte wohl ein Dutzend Mal vorgezeigt haben.
Im Gotteshaus herrscht tiefe Stille. Nur die eintönige Stimme eines Priesters, welcher an einem zu Häupten des Sarges befindlichen Betpulte aus der aufgeschlagenen Bibel die Evangelien liest, tönt durch den weiten Raum, der nur durch einige in der Nähe der Leiche brennende Kerzen erhellt ist. Aus der Dämmerung der Kirche leuchten düster die weißen Marmorsarkophage über den letzten Ruhestätten der Romanows. Ueber manchem derselben brennt unter dem Heiligenbild eine kleine Oellampe, deren matter Schimmer uns die Dunkelheit nur noch mehr empfinden läßt. Allmählich gewöhnt sich aber unser Auge an das schwache Licht, und nun erblicken wir die stummen Ehrenposten, welche selbst in der Nachtzeit den Sarg umstehen. Unser Auge hängt an dem kaiserlichen Todten selbst; mit einem leichten Gazeschleier ist das erhöhte Haupt der Leiche bedeckt, und manchmal glauben wir bei dem flackernden Lichtschein die vornehmen Züge Alexander’s des Zweiten zu erkennen.
Und jetzt – dunkle Gestalten, je zwei und zwei neben einander, nahen sich langsamen Schrittes; sie schreiten von beiden Seiten auf den Sarg zu. Das ist das russische Volk, das Volk in Trauer. Um diese Stunde ist es ihm gestattet, noch einmal – zum letzten Mal! – seinen Herrscher zu schauen, und auf diesen Augenblick haben die Tausende da draußen stundenlang, trotz der bitteren Kälte, geduldig gewartet. Bauern in ihren langen, dunklen Gewändern oft ehrwürdige Gestalten mit lang herabfallendem Vollbart, einfache Handwerker und Arbeiter in ihren häufig zerrissenen Pelzen, alte Mütterchen, die sich mühsam dahinschleppen, weinende Frauen, ihre kleinen Kinder an der Hand, haben den Weg nicht gescheut; sie tragen keine Trauerkleider, aber auf ihrem Antlitz prägt sich tiefe Trauer und bitterer Schmerz aus. Lautlos treten sie an den Sarg heran – Alle knieen nieder; innige Gebete steigen von ihren Lippen zum Himmel auf. Nun richten sie sich auf, führen unter Bekreuzigungen das auf der Leiche befindliche Heiligenbild an ihre Lippen, werfen noch einen letzten Blick auf den bleichen Czar und treten dann traurig und stumm den Rückweg an, stumm und traurig, wie sie gekommen. Und so geht es Stunde für Stunde, Nacht für Nacht, bis zum heranbrechenden Morgen. – –
Das war, so lange Alexander, der Befreier, noch auf dem Paradebette lag, die Petersburger Festungskirche um die Mittagsstunde und um Mitternacht.
Petersburg, im März 1881.