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Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben

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Textdaten
Autor: Oscar Wilde
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Titel: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1907
Verlag: Insel-Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Originaltitel: Intentions
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Quelle: Commons = Cornell-USA*
Kurzbeschreibung:
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OSCAR WILDE


ZWEI GESPRÄCHE VON DER KUNST UND VOM LEBEN



ERSCHIENEN IM INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG 1907
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VORBEMERKUNG DER ÜBERSETZER

Oscar Wilde hat seine Essays, die er zu verschiedenen Zeiten, nicht in einem Zusammenhang, geschrieben und veröffentlicht hat, einmal gesammelt und unter dem Titel „Intentions“ herausgegeben, den er offenbar im Anschluß an die alte scholastische Bedeutung des lateinischen Intentio wählte, die man noch bei Giordano Bruno findet: Behauptung, Aufstellung, Propositio, Satz. „Sätze“ wäre denn auch die richtige Verdeutschung des Gesamttitels, und der Dichter, der seinen Ernst, seine Hingerissenheit und Erschütterung und geradezu seine Melancholie oft genug hinter der Maske des Witzes und der Schnödigkeit verbarg, hätte wohl kaum etwas gegen den Doppelsinn eingewandt, den das Wort im Deutschen hergibt. Unser Unternehmen, aus dieser Sammlung die beiden Dialoge, die nicht bloß die gleiche Form mehr miteinander als mit den anderen Aufsätzen verbindet, herauszunehmen und in einem besonderen Buch zu vereinen, soll sich durch sich selbst, durch die Wirkung, die es tun kann, rechtfertigen.

HEDWIG LACHMANN
GUSTAV LANDAUER


[1]

DER VERFALL DES LÜGENS
EINE FESTSTELLUNG

[2]

DIE PERSONEN DES DIALOGES: CYRILL UND VIVIAN.
SZENE: DAS BÜCHERZIMMER EINES LANDHAUSES IN NOTTINGHAMSHIRE.

[3] CYRILL (DURCH DIE OFFENE TÜR von der Terrasse her eintretend): Liebster Vivian, vergrab dich nicht den ganzen Tag unter den Büchern. Es ist ein entzückender Nachmittag. Die Luft ist herrlich. Auf den Wäldern liegt ein Duft wie der Purpurhauch auf einer Pflaume. Wir wollen hinausgehen und uns ins Gras legen und Zigaretten rauchen und die Natur genießen.

Vivian: Die Natur genießen! Ich darf mit Vergnügen sagen, daß ich dieses Talent völlig verloren habe. Man erzählt uns, die Kunst befähige uns, die Natur mehr als zuvor zu lieben; sie enthülle uns die Geheimnisse der Natur, und nach einem tiefen Erfassen Corots und Constables sähen wir Dinge in der Natur, die wir früher nicht gewahrten. Meine Erfahrung ist, daß wir, je mehr wir uns der Kunst hingeben, uns um so weniger aus der Natur machen. Was uns die Kunst in Wahrheit enthüllt, ist die Planlosigkeit der Natur, ihre seltsamen Roheiten, ihre außergewöhnliche Einförmigkeit, ihre komplette Unfertigkeit. Die Natur hat natürlich gute Absichten, aber, wie der alte Aristoteles sagte, sie kann sie nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte, sehe ich unwillkürlich alle ihre Mängel. Es ist jedoch ein Glück für uns, daß die Natur so unvollkommen ist, weil wir sonst überhaupt zu keiner Kunst gekommen wären. Die Kunst ist unser feuriger Protest, unser tapferer Versuch, der Natur ihr Ziel zu weisen. Und die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur, das ist die reine Legende. In der Natur selbst ist nichts davon zu finden. Diese Mannigfaltigkeit wohnt in der Idee oder in der Phantasie oder der durch Bildung erlangten Blindheit des Menschen, der die Natur ansieht.

[4] Cyrill: Nun, du brauchst ja die Landschaft nicht anzusehen. Du kannst im Gras liegen und rauchen und plaudern.

Vivian: Aber die Natur ist so unbequem. Das Gras ist hart und klobig und feucht und wimmelt von schrecklichen schwarzen Insekten. Wahrhaftig, der armseligste Arbeiter von Morris kann dir eine bequemere Sitzgelegenheit schaffen als die ganze Natur. Die Natur wird besiegt von den Möbeln aus „der Straße, die von Oxford den Namen genommen“, wie der Dichter, den du so liebst, einmal höchst schnöde gesagt hat. Ich beklage mich nicht darüber. Wäre die Natur bequem gewesen, die Menschheit wäre nie zur Baukunst gekommen, und ich habe Häuser lieber als die freie Luft. Im Hause fühlen wir alles in seinem rechten Verhältnis. Alles ist uns untergeordnet, für unsern Gebrauch und unser Vergnügen gebaut. Ja, der Egoismus, der für das rechte Gefühl von Menschenwürde so notwendig ist, kommt ganz und gar vom Leben innerhalb der vier Wände. Draußen wird man abstrakt und unpersönlich. Die Individualität verläßt uns völlig. Und dann ist die Natur so gleichmachend und gleichgültig, so geringschätzig und ohne Sinn für Unterschiede. Jedesmal, wenn ich durch den Park gehe, habe ich das Gefühl, daß ich für sie nicht mehr bin als die Kühe, die auf der Böschung weiden, oder die Klette, die im Graben blüht. Nichts ist so sicher, wie daß die Natur einen Haß auf den Geist hat. Denken ist die ungesundeste Sache in der Welt, und die Menschen sterben genau so daran wie an einer andern Krankheit. Zum Glück ist, wenigstens in England, das Denken nicht ansteckend. Unsere glänzende Volksgesundheit kommt ganz und gar von unserer Nationaldummheit. Ich will nur hoffen, wir können dieses große historische Bollwerk unseres [5] Gedeihens noch viele künftige Jahre erhalten; aber ich fürchte, wir fangen an, überbildet zu werden; wenigstens hat sich jeder, der nichts lernen kann, daran gemacht zu lehren – so weit ist wahrhaftig unsere Erziehungsbegeisterung jetzt gekommen. Jedenfalls übrigens tätest du besser, zu deiner lästigen unbequemen Natur zurückzukehren und mich meine Korrektur lesen zu lassen.

Cyrill: Sieh da, du schreibst einen Artikel. Nach dem, was du eben gesagt hast, ist das nicht sehr konsequent.

Vivian: Wer braucht konsequent zu sein? Der Dummkopf und der Doktrinär, die widerwärtigen Menschen, die ihre Prinzipien zum bittern Ende der Ausführung bringen, zur reductio ad absurdum der Praxis. Aber nicht ich. Wie Emerson bringe ich über der Tür meines Arbeitszimmers das Schild an: „Zur Laune“. Außerdem aber ist mein Artikel eine sehr heilsame und wertvolle Warnung. Wenn man sie befolgt, kann die Kunst eine neue Renaissance erleben.

Cyrill: Wovon handelt er?

Vivian: Ich denke ihm den Titel zu geben: „Der Verfall des Lügens. Ein Protest.“

Cyrill: Lügen! Ich hätte gedacht, unsere Politiker nehmen sich dieses Brauchs an.

Vivian: Ich versichere dich, sie tun es nicht. Sie kommen nie über die Schwelle der Entstellung hinaus, und sie sinken in Wahrheit bis zu Beweisen, Diskussionen, Gründen. Wie anders ist der Charakter des richtigen Lügners, mit seinen freimütigen furchtlosen Feststellungen, seiner himmlischen Unverantwortlichkeit, seiner gesunden, natürlichen Verachtung jeder Art Beweisführung! Was ist denn überhaupt eine gute Lüge? Einfach, was sich von selbst versteht. Wenn ein Mann so phantasielos ist, daß er zur Unterstützung einer Lüge Beweise herbeibringt, [6] hätte er ebensogut gleich die Wahrheit sagen können. Nein, mit den Politikern ist nichts los. Einiges könnte man vielleicht zugunsten der Advokaten vorbringen. Ihre Schultern tragen jetzt den Sophistenmantel. Ihr gemachtes Pathos und ihre unwahre Rhetorik sind entzückend. Sie können die schlechtere Sache als die bessere erscheinen lassen, als ob sie frisch aus einer Sophistenschule gekommen wären, und sie haben gezeigt, daß sie widerstrebenden Geschworenen glänzende Freisprechungen für ihre Klienten entpressen können, selbst wenn diese Klienten, wie es oft vorkommt, offenbar und unverkennbar unschuldig sind. Aber die Prosa ihres Handwerks macht sie klein und sie schämen sich nicht, Präzedenzfälle anzuführen. Trotz ihren Bemühungen kommt die Wahrheit an den Tag. Selbst die Zeitungen sind entartet. Man kann sich jetzt völlig auf sie verlassen. Man fühlt es, wenn man durch ihre Spalten watet. Was einem aufstößt, ist immer die Unlesbarkeit. Ich fürchte, zugunsten des Anwalts oder der Journalisten wird nicht viel vorzubringen sein. Übrigens, wofür ich eintrete, ist das Lügen in der Kunst. Soll ich dir vorlesen, was ich geschrieben habe? Du könntest viel Nutzen davon haben.

Cyrill: Gern, wenn du mir eine Zigarette gibst. Danke. Nebenbei, in welcher Zeitschrift wird er erscheinen?

Vivian: In der Retrospektiven Rundschau. Ich sagte dir wohl, daß die Mitglieder sie wieder ins Leben gerufen haben.

Cyrill: Was meinst du mit den „Mitgliedern?“

Vivian: Oh, die blasierten Hedonisten natürlich. Das ist ein Klub, dem ich angehöre. Man behauptet von uns, wir trügen bei unsern Zusammenkünften verwelkte Rosen im Knopfloch und trieben eine Art Kultus mit [7] Domitian. Ich fürchte, du bist nicht wählbar. Du bist zu sehr schlichten Freuden zugetan.

Cyrill: Vermutlich würde man meine Aufnahme wegen meiner animalischen Triebe ablehnen?

Vivian: Wahrscheinlich. Außerdem bist du ein wenig zu alt. Wer das übliche Alter hat, wird nicht aufgenommen.

Cyrill: Ich denke mir, ihr langweilt euch beträchtlich zusammen.

Vivian: Richtig. Das gehört zu den Zwecken des Klubs. Nun also, wenn du versprichst, mich nicht zu oft zu unterbrechen, will ich dir meinen Artikel vorlesen.

Cyrill: Ich bin sehr begierig.

Vivian (mit einer sehr hellen, wohllautenden Stimme vorlesend): „Der Verfall des Lügens: Ein Protest. – Eine der Hauptursachen, die man für den seltsam ordinären Charakter fast aller Literatur unserer Zeit anführen kann, ist unzweifelhaft der Verfall des Lügens als Kunst, als Wissenschaft und als gesellige Unterhaltung. Die alten Geschichtsschreiber gaben uns reizende Dichtung in der Form der Tatsache; der moderne Romanschreiber beschert uns öde Tatsachen in der Verkleidung der Dichtung. Das Blaubuch wird mehr und mehr sein Ideal für das Verfahren und die Darstellung. Er hat sein widerwärtiges „document humain“, seinen ärmlichen kleinen „coin de la création“, in den er mit seinem Mikroskop hineinstiert. Man findet ihn in der Bibliothèque Nationale oder im British Museum, wo er schamlos seinen Stoff studiert. Ja, er hat noch nicht einmal den Mut zu andrer Leute Ideen, sondern besteht darauf, alles aus dem Leben haben zu wollen, und so arbeitet er zwischen Nachschlagewerken und persönlicher Erfahrung, nimmt seine Gestalten aus dem Familienkreis oder von der Waschfrau, und hat eine Menge nützliche Information [8] erlangt, von der er sich nie, selbst in seinen gedankenvollsten Augenblicken, völlig frei machen kann.

Der Verlust, den unsere Literatur im allgemeinen durch dieses falsche Ideal unserer Zeit erleidet, kann kaum überschätzt werden. Die Menschen reden so obenhin von einem „geborenen Lügner“, gerade wie sie von einem „geborenen Dichter“ sprechen. Aber in beiden Fällen haben sie unrecht. Lügen und Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato sagt, nicht ohne Beziehungen zueinander sind – und erfordern den eindringlichsten Fleiß, die uneigennützigste Hingebung. In der Tat haben sie ihre Technik, gerade wie die materielleren Künste der Malerei und Skulptur, ihre subtilen Geheimnisse der Form und Farbengebung, ihre überlegten künstlerischen Methoden. Wie man den Dichter an der Schönheit seines Musikalischen erkennt, so wird der Lügner nach dem Reichtum seiner rhythmischen Abstufungen beurteilt, und in beiden Fällen kann keinerlei Inspiration des Augenblicks eine zufriedenstellende Leistung schaffen. Hier wie überall muß die Übung der Vollendung vorhergehen. Aber in unsern Tagen ist zwar die Gewohnheit des Dichtens nur allzu gemein geworden und sollte, wenn möglich, zurückgedrängt werden, jedoch die Gewohnheit des Lügens ist fast um alles Ansehen gekommen. Mancher Jüngling tritt mit einer natürlichen Begabung für Übertreibung ins Leben, die nur der Pflege und Ausbildung in einer geistig verwandten und mitfühlenden Sphäre bedürfte, oder des Lernens an den besten Vorbildern, um sich zu etwas wirklich Großem und Wunderbarem auszuwachsen. Aber in der Regel bringt er es zu nichts. Er nimmt entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an –“

Cyrill: Lieber Freund!

[9] Vivian: Bitte, unterbrich mich nicht mitten im Satz. „Er nimmt entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an, oder findet Gefallen an der Gesellschaft älterer und wohlunterrichteter Leute. Beides wird seiner Phantasie in gleicher Weise verhängnisvoll, wie es fürwahr der Phantasie eines jeden verhängnisvoll wäre, und binnen kurzem zeigt er eine dekadente und krankhafte Gabe, die Wahrheit zu sagen, fängt an, alles was in seiner Gegenwart behauptet wird, auf seine Richtigkeit zu untersuchen, trägt kein Bedenken, Personen, die viel jünger als er sind, zu widersprechen und endet oft damit, Romane zu schreiben, die dem Leben so ähnlich sind, daß kein Mensch irgend an ihre Wahrscheinlichkeit glauben kann. Was wir hier geben, ist kein vereinzeltes Beispiel. Es ist lediglich ein Fall für viele; und wenn es kein Mittel gibt, unserem entsetzlichen Tatsachenkultus Einhalt zu tun oder ihn wenigstens zu mildern, so wird die Kunst veröden und die Schönheit unser Land fliehen.

Selbst Robert Louis Stevenson, dieser entzückende Meister ausgesuchter phantastischer Prosa, ist von diesem Laster unserer Zeit befleckt, denn wir haben in der Tat keinen andern Namen dafür. Es ist ein Mittel, einer Erzählung ihre Wirklichkeit zu nehmen, wenn man versucht, sie zu wahr zu machen, und „The Black Arrow“ ist ein so unkünstlerisches Buch, daß es nicht den kleinsten Anachronismus, dessen es sich rühmen könnte, enthält, und die Verwandlung des Dr. Jekyll liest sich bedrohlich ähnlich wie ein Bericht über ein Experiment in der Medizinischen Wochenschrift. Was Rider Haggard angeht, der in der Tat das Zeug zu einem vollkommen großartigen Lügner hat oder einmal hatte, so ist er jetzt so ängstlich, man könne ihn verdächtigen, ein Genie zu [10] sein, daß er, wenn er uns irgend etwas Wunderbares erzählt, sich verpflichtet fühlt, eine persönliche Erinnerung zu erfinden und sie in einer Anmerkung als eine Art feige Bekräftigung beizubringen. Und unsere andern Romanschriftsteller sind nicht viel besser. Henry James schreibt Belletristik, als ob er eine schmerzliche Pflicht erfüllte, und mit niedriger Motivierung und winziglichen „Gesichtspunkten“ verdirbt er seinen saubern und literarischen Stil, seine erfreulichen Einfälle, seine schlagfertige und beißende Satire. Hall Caine strebt allerdings nach dem Grandiosen, aber er schreibt dann aus vollem Halse. Er ist so laut, daß man nicht hören kann, was er sagt. James Payn ist in die Kunst eingeweiht, das geheim zu halten, was das Finden nicht lohnt. Mit dem Feuereifer eines kurzsichtigen Detektivs hetzt er die Trivialitäten zu Tode. Wenn man seine Bücher durchblättert, wird das Bangen des Verfassers fast unerträglich. Die Pferde an William Blacks Phaeton steigen nicht zur Sonne auf. Sie scheuchen nur das Abendgewölk in grelle Farbendruckeffekte hinein. Wenn die Bauern sie herannahen sehen, flüchten sie sich in den Dialekt. Frau Oliphant plappert vergnüglich von jungen Pfarrern, Lawn Tennis-Partien, Häuslichkeit und andern tristen Dingen. Marion Crawford hat sich auf dem Altar des Lokalkolorits geopfert. Er ist wie die Dame in dem französischen Lustspiel, die dabei bleibt, vom „beau ciel d’Italie“ zu reden. Außerdem hat er die schlechte Gewohnheit angenommen, platte Moral zu reden. Er erzählt uns immer, daß es gut ist, gut zu sein, und daß es schlecht ist, böse zu sein. Manchmal ist er beinahe erbaulich. „Robert Elsmere“ natürlich ist ein Meisterwerk – ein Meisterwerk des genre ennuyeux, der einzigen Literaturgattung, die dem englischen Publikum völligen Genuß gewährt. [11] Ein nachdenklicher junger Freund sagte uns einmal, das Buch erinnere ihn an die Sorte Gespräche, die an einem Teeabend im Hause einer ernsthaften Quäkerfamilie gepflogen werden, und wir glauben es gern. In der Tat konnte so ein Buch nur in England geschrieben werden. England ist das Land der stehen gelassenen Ideen. Was die große und täglich wachsende Schule der Romanschreiber angeht, denen die Sonne immer im Ostend aufgeht, so kann nur eins über sie gesagt werden: sie finden das Leben greulich und lassen es scheußlich.

In Frankreich ist zwar nichts so ausgesucht Ledernes wie „Robert Elsmere“ geschrieben worden, aber viel besser steht es nicht. Guy de Maupassant reißt mit seiner bitteren, brennenden Ironie und seinem festen, lebendigen Stil dem Leben die paar armen Lappen, die es noch bedecken, ab und zeigt uns faule Geschwüre und eiternde Wunden. Er schreibt unheimliche kleine Tragödien, in denen alle zum Lachen sind; bittere Komödien, über die man vor Tränen nicht lachen kann. Zola befolgt das stolze Prinzip, das er in einem seiner Literaturpronunziamentos niedergelegt hat: L’homme de génie n’a jamais d’esprit und ist entschlossen zu zeigen, daß er, wenn er schon kein Genie aufzuweisen hat, doch wenigstens trostlos sein kann. Und wie es ihm gelingt! Er ist nicht ohne Kraft. Es ist wirklich manchmal, zum Beispiel in „Germinal“, etwas fast Episches in seinen Büchern. Aber sein Schaffen ist völlig schlecht von Anfang bis zu Ende, und ist schlecht nicht auf Grund der Moral, sondern auf Grund der Kunst. Von jedem ethischen Standpunkt aus ist es gerade, was es sein soll. Der Schriftsteller ist völlig wahrhaft und beschreibt die Dinge genau so, wie sie geschehen. Was kann der Moralist mehr verlangen? [12] Wir haben nicht die geringste Sympathie mit der moralischen Entrüstung unserer Zeit gegen Zola. Das ist lediglich die Entrüstung des entlarvten Tartuffe. Aber was kann vom Standpunkt der Kunst zugunsten des Verfassers von „L’Assommoir“, „Nana“ und „Pot-Bouille“ gesagt werden? Nichts. Ruskin sagte einst von den Charakteren in George Eliots Romanen, sie seien wie der Kehricht aus einem Vorstadtomnibus, aber Zolas Charaktere sind viel schlimmer. Sie haben ihre öden Laster und ihre öderen Tugenden. Der Bericht über ihr Leben ist völlig ohne Interesse. Wer kümmert sich darum, was ihnen geschieht? In der Literatur verlangen wir Erlesenheit, Anmut, Schönheit und schöpferische Phantasie. Wir wollen nicht von Berichten über das Treiben der niederen Stände gemartert und angewidert sein. Daudet ist besser. Er hat Witz, eine leichte Hand und eine vergnügliche Art zu schreiben. Aber er hat vor kurzem literarischen Selbstmord begangen. Niemand kann noch künftighin an seinem „Delobelle“ mit seinem „Il faut lutter pour l’art“ Anteil nehmen oder an „Valmajour“ mit seinem ewigen Refrain von der Nachtigall, oder an dem Dichter in „Jack“ mit seinen „mots cruels“, nachdem wir jetzt aus „Vingt ans de ma vie littéraire“ ersehen, daß diese Gestalten unmittelbar dem Leben entnommen sind. Uns scheinen sie plötzlich all ihre Lebendigkeit, alle spärlichen Qualitäten, die sie je besessen haben, verloren zu haben. Die einzigen wirklichen Menschen sind die Menschen, die nie gelebt haben; und wenn ein Romanschreiber so arm ist, daß er das Leben aufsucht, um seine Personen zu finden, sollte er mindestens vorgeben, sie seien Erfindungen, und nicht damit prahlen, daß sie Kopien sind. Die Rechtfertigung einer Romangestalt ist nicht, daß andere [13] Personen sind, was sie sind, sondern daß der Dichter ist, was er ist. Sonst ist der Roman kein Kunstwerk. Paul Bourget ferner, der Meister des roman psychologique, begeht den Irrtum, daß er sich einbildet, die Männer und Frauen des Lebens unserer Zeit seien geeignet, in einer unzähligen Reihe von Kapiteln unaufhörlich analysiert zu werden. In Wahrheit ist das, was an den Menschen der guten Gesellschaft – und Bourget verläßt das Faubourg St. Germain höchstens, um nach London zu gehen – interessant ist, die Maske, die sie alle tragen, nicht die Wirklichkeit hinter der Maske. Das ist ein demütigendes Bekenntnis, aber wir alle miteinander sind aus demselben Stoff gemacht. In Falstaff ist etwas von Hamlet, und in Hamlet nicht wenig von Falstaff. Der dicke Ritter hat seine Anwandlungen von Melancholie, und der junge Prinz seine Augenblicke derben Humors. Lediglich in Zufälligem unterscheiden wir uns voneinander: in Kleidung, Manieren, Klang der Stimme, religiösen Meinungen, individuellem Aussehen, eigentümlichen Gewohnheiten und dergleichen. Je mehr man Menschen analysiert, um so mehr verschwinden alle Gründe zur Analyse. Früher oder später langt man bei der schrecklichen allgemeinen Sache an, die Menschennatur heißt. Wahrhaftig – jeder, der einmal unter der Armenbevölkerung tätig war, weiß es nur zu gut – die Brüderschaft der Menschen ist nicht ein bloßer Poetentraum, sondern eine sehr bedrückende und demütigende Wirklichkeit; und wenn ein Schriftsteller dabei bleibt, die oberen Klassen zu analysieren, könnte er ebensowohl gleich von Streichholzverkäuferinnen und Marktweibern schreiben!“ Jedoch, lieber Cyrill, ich will dich mit dieser Auseinandersetzung nicht länger aufhalten. Ich gebe völlig zu, daß die [14] modernen Romane viele gute Seiten haben. Ich behaupte nur, daß sie als Gattung ganz ungenießbar sind.

Cyrill: Das ist wahrhaftig eine sehr ernste Beurteilung, aber ich muß sagen, ich glaube, in einigen deiner Glossen bist du ziemlich unbillig. Ich liebe „The Deemster“ und „The Daughter of Heth“ und „Le Disciple“ und „Mr. Isaacs“, und „Robert Elsmere“ verehre ich geradezu. Nicht als ob ich ihn als ernsthaftes Buch betrachten könnte. Als Darlegung der Probleme, vor die sich der ernste Christ gestellt sieht, ist er lächerlich und veraltet. Er ist lediglich Arnolds „Literatur und Dogma“, aber ohne Literatur. Er bleibt ebensoweit hinter der Zeit zurück wie Paleys „Evidences“ oder Colensos Methode der Bibelexegese. Auch kann nichts eindrucksloser sein als der unglückselige Held, der feierlich das Anbrechen einer Zeit verkündet, die längst heraufgekommen ist, und ihre wahre Bedeutung so völlig verkennt, daß er sich vornimmt, das Geschäft der alten Firma unter einem neuen Namen fortzuführen. Andrerseits enthält das Buch einige gute Karikaturen und eine Masse schöne Zitate, und Greens Philosophie versüßt die bittere Pille des Romans, den die Verfasserin dazu gegeben hat, sehr angenehm. Ferner muß ich meinem Erstaunen Ausdruck geben, daß du nichts über die zwei Romanschreiber gesagt hast, in denen du immer liest, Balzac und George Meredith. Sie sind doch sicher alle beide Realisten?

Vivian: Ah! Meredith! Wer kann ihn auf eine Formel bringen? Sein Stil ist durch Blitze erleuchtetes Chaos. Als Schriftsteller hat er alles gemeistert außer der Sprache: als Romanschreiber kann er alles, nur keine Geschichte erzählen: als Künstler ist er alles, nur nicht deutlich. Jemand bei Shakespeare – Touchstone, glaube [15] ich – erzählt von einem, der immer über seinen eigenen Witz stolpert, und es scheint mir, davon könnte die Kritik der Methode Merediths ausgehen. Aber was er auch sonst ist, ein Realist ist er nicht. Oder noch eher möchte ich sagen, daß er ein Kind des Realismus ist, das sich aber mit seinem Vater überworfen hat. Aus freiem Entschluß hat er sich zum Romantiker gemacht. Er hat es abgelehnt, vor Baal die Kniee zu beugen, und überhaupt, selbst wenn der feine Geist des Mannes sich nicht gegen die lärmenden Behauptungen des Realismus aufgelehnt hätte, sein Stil an sich wäre schon genug gewesen, das Leben in respektvoller Entfernung zu halten. Vermittelst dieses Stils hat er um seinen Garten eine Hecke gepflanzt, voller Dornen und wunderschöner roter Rosen. Und was Balzac angeht, so war er eine sehr bemerkenswerte Verbindung künstlerischen Temperamentes und Wissenschaftsgeistes. Den letztern hinterließ er seinen Jüngern: das erstere war ganz und gar sein eigen. Der Unterschied zwischen so einem Buch wie Zolas „L’Assommoir“ und Balzacs „Illusions Perdues“ ist der Unterschied zwischen phantasielosem Realismus und phantastischer Wirklichkeit. „Alle Charaktere Balzacs,“ sagte Baudelaire, „atmen dasselbe glühende Leben, das ihn selbst beseelte. Seine Erzählungen sind alle wie Träume, tief in Farbe getaucht. Jeder Geist, den er darstellt, ist wie eine Kanone, die bis zur Mündung mit Willen geladen ist. Selbst die Scheuermägde haben Genie.“ Ständiger Umgang mit Balzac macht aus unsern wirklichen Freunden Schatten und aus unsern Bekannten Schatten von Schatten. Seine Charaktere haben eine Art glühend feuerfarbenes Dasein. Sie nehmen Besitz von uns und trotzen aller Skepsis. Eine der größten Tragödien meines Lebens ist der Tod [16] Lucians von Rubempré. Das ist ein Kummer, der nie ganz in mir erstorben ist. Wenn ich mich dem Vergnügen hingeben will, stellt er sich mir in den Weg. Er fällt mir ein, wenn ich lache. Balzac aber ist in keiner andern Weise Realist als es Holbein war. Er schuf Leben, er schrieb es nicht ab. Ich gebe jedoch zu, daß er einen viel zu hohen Wert auf die Modernität der Form legte, und daß es daher kein Buch von ihm gibt, das sich der künstlerischen Meisterschaft nach in eine Reihe mit „Salambô“ oder „Esmond“ oder „The Cloister“ and „The Hearth“ oder dem „Vicomte de Bragelonne“ stellen könnte.

Cyrill: Du hast also etwas gegen die Modernität der Form?

Vivian: Ja. Es ist dabei ein ungeheurer Preis für ein sehr armseliges Ergebnis zu zahlen. Die reine Modernität der Form bringt immer etwas Gewöhnliches mit sich. Es kann nicht anders sein. Das Publikum bildet sich ein, weil es sich für seine unmittelbare Umgebung interessiert, müsse es die Kunst auch tun und sie als Gegenstand nehmen. Aber die bloße Tatsache, daß das Publikum sich für diese Dinge interessiert, macht sie zu Gegenständen, die für die Kunst ungeeignet sind. Die einzigen schönen Dinge, hat einmal jemand gesagt, sind die Dinge, die uns nichts angehen. Solange etwas nützlich oder nötig für uns ist oder uns irgendwie berührt, mit Lust oder mit Unlust, oder zu unserm Gefühl spricht, oder ein in Betracht kommender Teil der Umgebung ist, in der wir leben, stellt es sich außerhalb der eigentlichen Sphäre der Kunst. Dem Gegenstand der Kunst gegenüber sollen wir uns mehr oder weniger uninteressiert verhalten. Wir sollten jedenfalls keine Vorliebe haben, kein Vorurteil, kein Parteigefühl irgend [17] einer Art. Gerade weil Hekuba uns nichts bedeutet, bildet ihr Schmerz so ein vorzügliches Motiv für eine Tragödie. Ich kenne in der ganzen Geschichte der Literatur nichts Traurigeres als die künstlerische Laufbahn Charles Reades. Ein wunderschönes Buch hat er geschrieben, „The Cloister and The Hearth“, das so hoch über „Romola“ steht, wie „Romola“ über „Daniel Deronda“, und den Rest seines Lebens vergeudete er in dem törichten Streben, modern zu sein, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Zustände in unsern Strafgefängnissen und die Verwaltung unserer Privatirrenanstalten zu lenken. Charles Dickens war wahrhaftig deprimierend genug, als er versuchte, unser Mitleid für die Opfer der Armenbehörden zu erwecken; aber wenn Charles Reade, ein Künstler, ein Gelehrter, ein Mann mit wahrem Schönheitssinn über die Mißbräuche im Leben unserer Zeit wie ein gewöhnlicher Pamphletist oder ein Sensationsjournalist wütet und tobt, das ist wahrhaftig ein Anblick zum Steinerbarmen. Glaube mir, lieber Cyrill, Modernität der Form wie des Gegenstandes sind ganz und völlig von Übel. Wir haben irrig die gemeine Livree des Zeitalters für das Gewand der Musen genommen, und verbringen unsere Tage in den schmutzigen Straßen und häßlichen Vierteln unserer verruchten Städte, während wir auf den Höhen bei Apollo sein sollten. Gewiß, wir sind ein verkommenes Geschlecht und haben unsere Erstgeburt für ein Gericht Tatsachen verkauft.

Cyrill: An dem, was du sagst, ist etwas, und darüber ist kein Zweifel, wir mögen an der Lektüre eines lediglich modernen Romans noch so viel Vergnügen finden, wenn wir ihn wieder lesen, haben wir so gut wie keinen künstlerischen Genuß. Und das ist vielleicht [18] das einfachste Mittel, um festzustellen, was Literatur ist und was nicht. Wenn man nicht Freude daran haben kann, ein Buch wieder und immer wieder zu lesen, dann hat es keinen Wert, es überhaupt zu lesen. Aber was sagst du zur Rückkehr zu Leben und Natur? Das ist das Allheilmittel, das uns immer angepriesen wird.

Vivian: Ich kann dir vorlesen, was ich darüber sage. Die Stelle kommt in dem Artikel erst später, aber ich kann sie dir ebenso gut jetzt mitteilen:

„Der beliebte Ruf unserer Zeit ist: ‚Kehren wir zu Leben und Natur zurück; sie werden uns die Kunst wieder zur Erquickung machen und das rote Blut wieder durch ihre Adern kreisen lassen; sie werden ihre Füße beschwingt und ihre Hand stark machen.‘ Aber ach! wir irren uns in unsern freundwilligen und wohlgemeinten Bemühungen. Die Natur bleibt immer hinter der Zeit zurück. Und das Leben, das ist der Gläubiger, der die Kunst bankerott macht, der Feind, der ihr Haus zerstört.“

Cyrill: Was meinst du damit, die Natur bleibe immer hinter der Zeit zurück?

Vivian: Das ist freilich etwas dunkel gesagt. Ich meine aber folgendes: Wenn wir Natur in dem Sinne nehmen, daß wir natürlichen einfachen Trieb im Gegensatz zur Kultur, die sich ihrer selbst bewußt ist, darunter verstehen, so wird ein Werk, das in dieser Meinung hervorgebracht wird, immer altmodisch, antiquiert und unzeitgemäß sein. Ein Schuß Natur kann die ganze Welt verwandt und uns zugehörig machen, aber schon zwei werden jedes Kunstwerk vernichten. Wenn wir andrerseits Natur als die Summe äußerer Erscheinungen im Gegensatz zum Menschen auffassen, so entdecken [19] die Menschen in ihr nur, was sie in sie hineintragen. Sie hat keine eigene Bedeutung. Wordsworth ging zu den Seen, aber er war keineswegs ein Seedichter. Er fand in den Steinen die Reden, die er in sie getan hatte. Er ging moralisierend im Seengebiet herum, aber seine schöne Arbeit tat er, als er zurückkehrte, nicht zur Natur, sondern zur Poesie. Die Poesie schenkte ihm „Laodamia“ und die schönen Sonette und die große Ode, so wie sie ist. Die Natur gab ihm „Martha Ray“ und „Peter Bell“ und den Sang auf den Spaten des Herrn Wilkinson.

Cyrill: Diesen Standpunkt halte ich für fragwürdig. Ich möchte denn doch an den „begeisternden Frühlingswald“ glauben, obwohl natürlich der künstlerische Wert eines solchen begeisternden Spornes ganz und gar von der Individualität abhängt, die ihn empfängt, so daß die Rückkehr zur Natur darauf hinausliefe, einfach die Förderung einer großen Persönlichkeit zu bedeuten. Ich meine, dem könntest du zustimmen. Jedoch lies deinen Artikel weiter vor.

Vivian (liest): „Die Kunst beginnt als abstrakte Zierkunst, sie bleibt im Bereich des Phantastischen und Spielerischen und beschäftigt sich mit dem Unwirklichen und Nichtseienden. Dies ist das erste Stadium. Dann wird das Leben von diesem neuen Wunder zauberisch angezogen und bittet, in dies geheimnisvoll schöne Gebiet zugelassen zu werden. Die Kunst nimmt das Leben als ein Stück ihres Rohmaterials, schafft es neu und stellt es in frischen Formen wieder her, kümmert sich gar nichts um Tatsachen, erfindet, phantasiert, träumt und errichtet zwischen sich und der Wirklichkeit die unübersteigbare Schranke des schönen Stils, der dekorativen oder idealen Behandlung. Das dritte [20] Stadium tritt ein, wenn das Leben die Oberhand bekommt und die Kunst heimatlos macht und in die Wildnis treibt. Dies ist die wahre Dekadenz, und das ist es, worunter wir jetzt leiden.

Nehmen wir zum Beispiel das englische Drama. Zuerst, in den Händen der Mönche, war die dramatische Kunst abstrakt, dekorativ, mythologisch. Dann nahm sie das Leben in ihren Dienst auf und unter Benutzung einiger äußerer Formen des Lebens schuf sie eine völlig neue Gattung lebender Wesen, deren Schmerzen schrecklicher waren als irgend ein Schmerz, den je ein Mensch empfunden hat, deren Lust stärker war als die Lust eines Liebenden, die den Zorn der Titanen und die Rache der Götter hatten, ungeheuerliche und prachtvolle Sünden, ungeheuerliche und prachtvolle Tugenden. Diesen Gestalten gab sie eine Sprache, die anders war als die des Alltags, eine Sprache voll tönender Musik und süßem Rhythmus, majestätisch in feierlichem Tonfall oder zart und weich in phantastischen Reimen, mit dem Geschmeide wunderschöner Worte und reich in stolzem Strom der Rede. Sie kleidete ihre Kinder in seltsame Gewandung und gab ihnen Masken, und auf ihr Gebot stieg die Welt der Antike aus ihrer marmornen Gruft empor. Ein neuer Cäsar schritt durch die Straßen des auferstandenen Rom, und mit purpurnen Segeln, im Takte der Flöten gerudert, fuhr eine neue Kleopatra über den Strom nach Antiochia. Aller Mythos und Traum und Legende nahm Stoff und Gestalt an. Die Geschichte ward völlig umgeschrieben, und es gab kaum einen einzigen unter den Dramatikern, der nicht erkannt hätte, daß der Gegenstand der Kunst nicht einfache Wahrheit, sondern vielfältige Schönheit ist. Darin waren sie völlig im Recht. [21] Die Kunst ist in der Tat eine Form der Übertreibung; und die Auslese, die der wahre Geist der Kunst ist, ist nichts anderes als eine besondere Form der Überspannung.

Aber das Leben zersprengte bald die Vollkommenheit der Form. Schon bei Shakespeare können wir den Anfang vom Ende gewahren. Er zeigt sich in der immer stärker werdenden Unterbrechung des Blankverses in den späteren Stücken, in der Vorherrschaft, die der Prosa eingeräumt, und in der übergroßen Wichtigkeit, die der Charakteristik beigelegt wurde. An den Stellen bei Shakespeare – und ihrer sind viele –, wo die Sprache ungehobelt, gewöhnlich, übertrieben, grillenhaft, selbst anstößig ist, trägt ganz und gar das Leben die Schuld, das nach einem Echo seiner eigenen Stimme begehrt und sich gegen das Dazwischentreten des schönen Stils wehrt, durch den allein dem Leben verstattet sein sollte, Ausdruck zu finden. Shakespeare ist in keinem Wege ein makelloser Künstler. Er liebt es zu sehr, unmittelbar ins Leben zu steigen, und die natürliche Ausdrucksweise des Lebens zu entlehnen. Er vergißt, daß die Kunst, wenn sie aufhört, durch das Medium der Phantasie zu scheinen, mit dem Schein auch das Sein verliert. Goethe sagt irgendwo: ,In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister‘, und die Beschränkung, wahrhaft die Bedingung jeder Kunst ist der Stil. Wir brauchen indessen nicht länger bei Shakespeares Realismus zu verweilen. „Der Sturm“ ist seine Dichtung des Widerrufs, die vollendetste aller Palinodien. Wir wollten mit alledem nur ausführen, daß das großartige Werk der Künstler aus der Zeit der Elisabeth und Jakobs in sich selbst den Keim seiner eigenen Auflösung enthielt und daß es zwar einige Stärke aus der Benutzung des Lebens [22] als Rohmaterial nahm, daß es aber seine ganze Schwäche aus der Benutzung des Lebens für die künstlerische Darstellung erhielt. Als unausbleibliches Ergebnis dieses Ersatzes eines schöpferischen Mittels durch ein nachahmendes, dieses Aufgebens einer Phantasieform, haben wir das moderne englische Melodrama. Die Charaktere in diesen Stücken reden auf der Bühne genau so wie sie hinter der Bühne reden würden; ihre Gesinnung ist so gemein wie ihre Sprache; sie verwechseln gegenseitig ihre Niedertracht und Mir und Mich; sie sind direkt aus dem Leben genommen und wiederholen seine Gewöhnlichkeit bis ins kleinste; sie stellen den schweren Gang, die Manieren, die Kleidung, den Tonfall wirklichen Pöbels dar; ohne aufzufallen, können sie vierter Klasse fahren. Und wie öde sind doch diese Stücke! Es gelingt ihnen nicht einmal, den Eindruck der Wirklichkeit hervorzubringen, nach dem sie streben und der der einzige Grund ihres Daseins ist. Als Darstellungsform ist der Realismus völlig gescheitert.

Das nämliche, was vom Drama und dem Roman gesagt wurde, gilt von den sogenannten dekorativen Künsten. Die ganze Geschichte dieser Künste in Europa ist ein Bericht über den Kampf zwischen dem Orientalismus, mit seiner unverhohlenen Ablehnung der Nachahmung, seiner Liebe zur künstlerischen Konvention, seinem Widerwillen gegen die Wirklichkeitsdarstellung irgend eines Naturgegenstandes, und unserm eigenen Geiste der Nachahmung. Überall, wo orientalischer Geist die Oberhand hatte, wie in Byzanz, Sizilien und Spanien durch direkte Berührung oder im übrigen Europa unter dem Einfluß der Kreuzzüge, hatten wir schöne und phantastische Kunst, in der die sichtbaren Dinge des Lebens in künstlerische Konventionen verwandelt sind, [23] und die Dinge, die das Leben nicht hat, zu seinem Ergötzen erfunden und umgeformt sind. Aber überall, wo wir zum Leben und zur Natur zurückgekehrt sind, ist unsere Kunst gemein, gewöhnlich und uninteressant geworden. Die modernen Tapeten und Teppiche mit ihren Lufteffekten, ihrer durchgeführten Perspektive, ihren ausgedehnten Wolkenhimmeln, ihrem getreuen und ins einzelne gehenden Realismus, haben nicht die geringste Schönheit. Die Glasmalerei Deutschlands ist völlig abscheulich. Wir fangen in England an, Teppiche zu weben, die möglich sind, aber nur weil wir zum Verfahren und Geist des Ostens zurückgekehrt sind. Unsere Decken und Teppiche vor zwanzig Jahren, mit ihren feierlichen, schwermütigen Wahrheiten, ihrem faden Naturkultus, ihrer gemeinen Wiedergabe von Dingen der sichtbaren Welt, sind selbst für den Philister zum Lachen geworden. Ein gebildeter Mohammedaner sagte einmal zu uns: „Ihr Christen habt so viel damit zu tun, das vierte Gebot zu mißdeuten, daß ihr nie daran gedacht habt, einen künstlerischen Gebrauch vom zweiten zu machen.“ Er hatte völlig recht, und der wahre Sachverhalt ist: Die rechte Schule für die Kunst ist nicht das Leben, sondern die Kunst.“

Und jetzt möchte ich dir eine Stelle vorlesen, die mir die Frage sehr vollständig zu erledigen scheint:

„Es war nicht immer so bestellt. Wir brauchen über die Dichter nichts zu sagen, denn mit Ausnahme des unglücklichen Wordsworth sind sie immer ihrer hohen Aufgabe treu geblieben, und allgemein wird ihre völlige Unzuverlässigkeit anerkannt. Aber in den Schriften des Herodot, der trotz den seichten und schnöden Versuchen moderner Halbwisser, die Wahrheit seiner Geschichte festzustellen, mit Recht der Vater der Lügen heißen darf; in den Veröffentlichungen [24] der Reden Ciceros und den Biographien des Sueton; in Tacitus, wo er auf der Höhe ist; in Plinius’ Naturgeschichte; in Hannos Periplus; in all den Chroniken aus früheren Jahrhunderten; in den Leben der Heiligen; bei Froissart und Sir Thomas Mallory; in den Reisen des Marco Polo; bei Olaus Magnus und Aldrovandus und Conrad Lycosthenes mit seinem prächtigen Prodigiorum et Ostentorum Chronicon; in der Selbstbiographie Benvenuto Cellinis; in den Memoiren Casanovas, in Defoes Geschichte der Pest; in Boswells Leben von Johnson; in Napoleons Depeschen und in den Werken unseres Carlyle, dessen „Französische Revolution“ zu den spannendsten historischen Romanen gehört, die je geschrieben wurden: überall spielen die Tatsachen, wie es ihnen zukommt, eine untergeordnete Rolle, oder sie werden um ihrer Langweiligkeit willen ganz ausgeschaltet. Jetzt ist alles anders geworden. Die Tatsachen haben nicht bloß ihren festen Platz in der Geschichte, sie verheeren auch das Gebiet der Phantasie, und haben das Reich der Romantik überfallen. Sie sind überall eingedrungen und verbreiten überall Kälte. Sie machen die Menschheit gemein. Seinen rohen, materialistischen Handelsgeist, seine Gleichgültigkeit gegen die poetische Seite der Dinge und seinen Mangel an Phantasie und hohen unerreichbaren Idealen verdankt Amerika ganz und gar dem Umstand, daß es zu seinem Nationalhelden einen Mann gemacht hat, der nach seinem eigenen Geständnis unfähig war, eine Lüge zu sagen, und es ist nicht zu viel gesagt, daß die Geschichte von George Washington und dem Kirschbaum mehr Schaden und in einem kürzeren Zeitraum getan hat, als irgend eine andere moralische Geschichte in der ganzen Literatur.“

Cyrill: Aber Bester!

[25] Vivian: Ich versichere dich, es ist so, und das lustige an der ganzen Sache ist, daß die Geschichte von dem Kirschbaum völlig erfunden ist. Jedoch darfst du nicht glauben, daß ich über die künstlerische Zukunft Amerikas oder unseres eigenen Landes ganz verzweifelt bin. Höre weiter:

„Daß eine Wandlung eintreten wird, bevor das neunzehnte Jahrhundert zu Ende ist, bezweifeln wir in keiner Weise. Die Gesellschaft, die die langweilige und fördernde Unterhaltung derer müde ist, die weder Witz zur Übertreibung noch Genie zur Romantik haben; die des gescheiten Menschen überdrüssig ist, dessen Reminiszenzen sich immer aufs Gedächtnis stützen, dessen Behauptungen unweigerlich von der Möglichkeit beschränkt sind, und der jederzeit gewärtig sein muß, von einem gewöhnlichen Philister, der gerade da ist, in seiner Meinung bestärkt zu werden, die Gesellschaft muß früher oder später zu ihrem Führer, den sie verloren hat, dem kultivierten und spannenden Lügner zurückkehren. Wer der erste war, der ohne im geringsten auf der rauhen Jagd gewesen zu sein, den erstaunt aufhorchenden Höhlengenossen bei Sonnenuntergang erzählte, wie er das Megatherium aus der purpurnen Finsternis seiner Jaspishöhle herausgeschleift oder das Mammut im Einzelkampf erlegt und seine vergoldeten Stoßzähne heimgebracht habe, wissen wir nicht, und kein einziger unserer modernen Anthropologen, trotz all ihrer vielgepriesenen Wissenschaft, hat den gehörigen Mut gehabt, es uns zu berichten. Wie er auch geheißen und welchem Stamme er angehört hat, er war fürwahr der Gründer des geselligen Verkehrs. Denn das Ziel des Lügners ist lediglich zu gefallen, zu amüsieren, zu erfreuen. Er ist die wahre Stütze der gebildeten [26] Gesellschaft, und ohne ihn ist ein geselliges Zusammensein, selbst in den Palästen der Großen, so fade wie eine Vorlesung in der Akademie oder eine Debatte im Verein zum Schutz der Autorenrechte oder ein moderner Schwank.

Aber nicht die Gesellschaft allein wird ihn willkommen heißen. Die Kunst, die dem Kerker des Realismus entronnen ist, wird herbeieilen, ihn zu grüßen und wird seine schönen, falschen Lippen küssen, denn sie weiß: er allein ist im Besitz des großen Geheimnisses all ihrer Offenbarungen, des Geheimnisses, daß die Wahrheit ganz und gar eine Sache des Stils ist; das Leben aber, das arme, wahrscheinliche, uninteressante Menschenleben, das genug davon hat, sich Herrn Herbert Spencer oder wissenschaftlichen Historikern und all den Kärrnern der Statistik zu Gefallen zu wiederholen, wird demütig hinter ihm hergehen und wird versuchen, in seiner eigenen einfachen und unfertigen Manier etliche von den Wundern, von denen er spricht, nachzumachen.

Gewiß, es wird immer Kritiker geben, die wie ein gewisser Rezensent im „Saturday Review“ einen Märchenerzähler ernsthaft wegen seiner mangelhaften naturwissenschaftlichen Kenntnisse tadeln, die Werke der Phantasie an ihrer eigenen gänzlichen Phantasielosigkeit messen und ihre tintenfleckigen Hände entsetzt zum Himmel heben, wenn ein Ehrenmann, der nie über die Eiben in seinem Garten hinausgekommen ist, ein spannendes Reisewerk schreibt wie Sir John Mandeville, oder wie der große Raleigh eine ganze Weltgeschichte verfaßt, ohne das geringste von der Vergangenheit zu wissen. Zu ihrer Rechtfertigung versuchen sie, sich unter dem Schild des Mannes zu bergen, der den Zauberer Prospero geschaffen und ihm [27] Caliban und Ariel zu Dienern gegeben hat, der die Tritonen vernahm, wie sie um die Korallenriffe der Zauberinsel ihre Hörner erschallen ließen, und die Feen, die in einem Walde bei Athen ihren Wechselgesang anstimmten, der die Gespensterkönige in düsterem Zuge durch den Nebel der schottischen Heide wallen und Hekate mit den Schicksalsschwestern in einer Höhle hausen ließ. Sie wollen sich auf Shakespeare berufen – sie tun es immer – und zitieren die abgedroschene Stelle von der Kunst, die der Natur den Spiegel vorhält, und vergessen dabei, daß dieser unglückliche Spruch von Hamlet absichtlich gesagt wird, um die Zuhörer von seinem völligen Wahnsinn in Kunstdingen zu überzeugen.“

Cyrill: Hm! Noch eine Zigarette, bitte.

Vivian: Lieber Junge, du kannst sagen, was du willst, es ist lediglich eine Äußerung, die zur Handlung des Dramas gehört und gibt Shakespeares wirkliche Meinung über die Kunst nicht mehr wieder als die Reden Jagos seine wirkliche Meinung über die Moral. Aber laß mich den Absatz zu Ende lesen:

„Die Kunst findet ihre eigene Vollendung in sich selbst und nicht draußen. Sie kann nicht mit irgend einem äußerlichen Maßstab der Ähnlichkeit beurteilt werden. Sie ist eher ein Schleier als ein Spiegel. Sie birgt Blumen, von denen die Natur nichts weiß, Vögel, die in keinen Waldungen nisten. Welten macht sie und macht sie zunichte, und kann den Mond an einem scharlachenen Band vom Himmel ziehen. Sie hat ‚Formen, die wirklicher sind als das Menschenkind‘, und sie hat die großen Urtypen, von denen die konkreten Dinge bloß unvollendete Kopien sind. Die Natur hat in ihren Augen keine Gesetze, keine [28] bedingungslose Unveränderlichkeit. Sie kann nach Laune Wunder schaffen, und wenn sie Ungeheuer aus den Grüften ruft, kommen sie herauf. Auf ihr Geheiß blüht der Mandelbaum mitten im Winter und der Schnee rieselt aufs gelb wogende Kornfeld herab. Sie befiehlt, und die Kälte legt ihre silbernen Finger auf die brennenden Lippen des Juni, und die geflügelten Löwen entsteigen den Höhlen der lydischen Berge. Die Dryaden lugen aus dem Dickicht, wenn sie vorübergeht, und die gebräunten Faune lächeln ihr seltsam zu, wenn sie ihnen nahe kommt. Götter mit Raubvogelgesichtern dienen ihr in Verehrung, und die Kentauren sprengen ihr kühn zur Seite.“

Cyrill: Das gefällt mir. Ich sehe es vor mir. Ist das der Schluß?

Vivian: Nein. Es folgt noch ein Absatz, der aber nur die Nutzanwendung gibt. Er weist nur auf etliche Mittel hin, durch die wir die verlorene Kunst des Lügens wieder beleben können.

Cyrill: Dann hätte ich den Wunsch, bevor du fertig liest, dir eine Frage zu stellen. Was meinst du damit, daß du sagst, das Leben, „das arme, wahrscheinliche, uninteressante Menschenleben“, werde versuchen, die Wunder der Kunst nachzubilden? Daß du dich dagegen auflehnst, daß die Kunst als Spiegel betrachtet wird, kann ich völlig verstehen. Du meinst, das Genie werde dadurch zu einer zerplatzten Spiegelscheibe herabgewürdigt. Aber du wirst doch gewiß nicht behaupten wollen, das Leben ahme die Kunst nach, das Leben sei tatsächlich der Spiegel und die Kunst die Wirklichkeit?

Vivian: O ja, das behaupte ich allerdings. So paradox es scheinen mag – und es ist immer etwas Gefährliches um Paradoxien – es ist nichtsdestoweniger wahr, [29] daß das Leben die Kunst viel mehr nachahmt als die Kunst das Leben. Wir haben es alle in unsern Tagen in England erlebt, wie ein gewisser seltsamer und bezaubernder Schönheitstypus, den zwei phantasievolle Maler erfunden und auf die Spitze getrieben haben, das Leben derart beeinflußt hat, daß man bei jeder Veranstaltung und im Publikum jedes Kunstsalons hier die mystischen Augen aus dem Traum Rossettis sieht, den langen Elfenbeinhals, den seltsamen viereckigen Schnitt des Kinns, das wallende finstere Haar, das er so leidenschaftlich liebte, dort die süße Mädchenhaftigkeit der „Goldenen Stiege“, den blütengleichen Mund und die müde Anmut des „Laus Amoris“, das wildblasse Antlitz der Andromeda, die dünnen Hände und die gertengleiche Schönheit der Viviane aus „Merlins Traum“. Und immer ist es so gewesen. Ein großer Künstler erfindet einen Typus, und das Leben versucht ihn zu kopieren, in populärer Form herauszugeben, wie es ein unternehmender Verleger tut. Weder Holbein noch van Dyck haben in England gefunden, was sie uns gaben. Sie haben ihre Typen mitgebracht, und das Leben mit einer eifrigen Nachahmungsgabe unternahm es, dem Meister Modelle zu liefern. Die Griechen verstanden dies in ihrem lebhaften künstlerischen Instinkt und stellten die Statue des Hermes oder des Apollon in das Brautgemach, auf daß die junge Frau Kinder gebäre, die so schön seien wie die Kunstwerke, die sie in ihrer Verzückung oder ihren Schmerzen gewahrte. Sie wußten, daß das Leben durch die Kunst nicht nur zu Geistigkeit, zu tiefen Gedanken und Gefühlen, zu Seelenaufruhr und Seelenfrieden kommt, sondern daß es sich auch völlig nach den Linien und Farben der Kunst formieren, die Strenge des Pheidias und die Grazie des Praxiteles nachbilden [30] kann. Daher kam ihre Verurteilung des Realismus. Sie mißbilligten ihn rein aus sozialen Gründen. Sie fühlten, daß er unweigerlich das Volk verhäßlicht, und sie waren völlig im Recht. Wir versuchen, die Beschaffenheit des Volkes vermittelst guter Luft, vieler Sonne, gesunden Wassers und häßlicher kahler Gebäude für die bessere Behausung der unteren Klassen zu verbessern. Aber diese Dinge schaffen nur Gesundheit, sie schaffen nicht Schönheit. Dazu ist Kunst nötig, und die wahren Jünger des großen Künstlers sind nicht seine Ateliernachahmer, sondern die, die wie seine Gestalten werden, seien es Werke der Skulptur wie in den Tagen der Griechen, oder der Malerei wie in unserer Zeit: mit einem Wort, das Leben ist der beste, ist der einzige Schüler der Kunst.

Und wie mit den sichtbaren Künsten ist es mit der Literatur. Am deutlichsten und häufigsten zeigt sich das an den törichten kleinen Burschen, die die Abenteuer von Jack Sheppard oder Dick Turpin gelesen haben und dann hingehen, die Stände armer Apfelfrauen plündern, bei Nacht in Konditoreien einbrechen und alte Herren in Angst jagen, denen sie auf entlegenen Straßen mit schwarzen Masken und ungeladenen Revolvern entgegenspringen. Diese interessante Erscheinung, die sich immer nach dem Erscheinen einer neuen Auflage solcher Bücher zeigt, wird gewöhnlich auf den Einfluß der Literatur auf die Phantasie zurückgeführt. Das ist aber ein Irrtum. Die Phantasie ist in ihrem Wesen schöpferisch und sucht immer nach einer neuen Form. Der Räuberknabe ist lediglich das unvermeidliche Ergebnis aus dem Nachahmungstrieb des Lebens. Er ist die Tatsache, die – wie die Tatsachen meistens – mit dem Versuch beschäftigt ist, die Dichtung nachzubilden, und [31] was wir an diesem Knaben gewahren, wird in ausgedehntem Maße durch das ganze Leben hindurch wiederholt. Schopenhauer hat den Pessimismus, der für das Denken unserer Zeit bezeichnend ist, in ein wissenschaftliches System gebracht, aber Hamlet hat ihn erfunden. Die Welt ist schwermütig geworden, weil einstmals eine Puppe melancholisch war. Der Nihilist, dieser seltsame Märtyrer, der keinen Glauben hat und ohne Begeisterung zum Richtplatz geht und für etwas stirbt, woran er nicht glaubt, ist ein rein literarisches Produkt. Turgenjew hat ihn erfunden und Dostojewsky fertig gemacht. Robespierre entsprang den Büchern Rousseaus so gewiß wie das Volkshaus in London, The People’s Palace, aus den Überresten eines Romans hervorging. Die Literatur nimmt immer das Leben voraus. Sie ahmt es nicht nach, sondern sie modelt es im Gegenteil nach ihren Zwecken. Das neunzehnte Jahrhundert, wie wir es kennen, ist zu großem Teil eine Erfindung Balzacs. Unsere Lucians de Rubempré, unsere Rastignacs und de Marsays treten zuerst auf der Bühne der Comédie Humaine auf. Wir führen nur mit Anmerkungen und überflüssigen Zusätzen die Laune oder Phantasie oder schöpferische Vision eines großen Romanschreibers weiter aus. Ich fragte einmal eine Dame, die Thackeray nahe gestanden hatte, ob er für „Becky Sharp“ irgend ein Modell gehabt hätte. Sie erzählte mir, „Becky“ sei ein Produkt der Erfindung, jedoch sei die Anlage des Charakters zum Teil von einer Gouvernante genommen, die in der Nähe von Kensington Square als Gesellschafterin einer sehr selbstsüchtigen reichen alten Frau lebte. Ich erkundigte mich, was aus der Gouvernante geworden sei, und erfuhr, daß sie absonderlicherweise einige Jahre, nachdem „Vanity Fair“ erschienen war, mit dem Neffen [32] der Dame, bei der sie lebte, durchgebrannt sei und für kurze Zeit in der Gesellschaft eine große Rolle gespielt hätte, ganz in der Manier von Mrs. Rawdon Crawley und völlig mit den selben Mitteln. Schließlich hatte sie Pech, verschwand nach dem Kontinent und tauchte manchmal in Monte Carlo und andern Spielplätzen auf. Der Edelmann, nach dem der nämliche große Sentimentalist „Colonel Newcome“ entworfen hatte, starb einige Monate nach dem Erscheinen der vierten Auflage der „Newcomes“, mit dem Wort: „Adsum“ auf den Lippen. Kurz nachdem Stevenson seine sonderbare psychologische Verwandlungsgeschichte „Dr. Jekyll“ veröffentlicht hatte, war einer meiner Freunde, ein gewisser Herr Hyde, im Norden Londons. Er hatte Eile, zu einem Bahnhof zu kommen, wollte abschneiden, verirrte sich und kam in ein Gewirre verdächtiger Gassen hinein. Er wurde etwas ängstlich und fing äußerst schnell zu gehen an, da rannte plötzlich aus einem Hausflur ein Kind zwischen seine Beine. Es fiel aufs Pflaster, er stolperte und trat auf das Kind. Natürlich erschrak es sehr, es tat ihm auch wehe, es fing zu schreien an, und in ein paar Sekunden war die ganze Straße voll gefährlichen Gesindels, das wie Ameisen aus den Häusern hervorkam. Sie umringten ihn und wollten seinen Namen wissen. Gerade war er dabei ihn zu nennen, als ihm der Anfang in Stevensons Geschichte einfiel. Da erfaßte ihn ein solches Entsetzen, daß er in eigener Person diese schreckliche, vorzüglich erfundene Szene gespielt habe, und daß er zwar durch ein Versehen, aber tatsächlich getan habe, was der Herr Hyde der Erzählung absichtlich tat, daß er, so schnell er konnte, fortrannte. Er wurde indessen sehr scharf verfolgt und flüchtete schließlich in das Haus eines Wundarztes, dessen Tür zufällig [33] offen stand, und berichtete einem jungen Assistenten, den er da fand, ausführlich, was ihm zugestoßen war. Der süße Pöbel wurde durch etwas Geld, das er ihnen gab, dazu gebracht, auseinanderzugehen, und sowie die Luft rein war, ging er weg. Als er das Haus verließ, fiel sein Auge auf das Messingschild des Arztes. Da stand der Name „Jekyll“. Wenigstens hätte er da stehen sollen.

Hier war die Nachahmung, soweit sie ging, natürlich zufällig. In dem folgenden Fall handelt es sich um bewußte Nachahmung. Im Jahre 1879, ich hatte eben Oxford verlassen, traf ich bei einem Empfang im Hause eines auswärtigen Botschafters eine Frau von sehr seltsamer exotischer Schönheit. Wir wurden sehr befreundet und waren viel zusammen. Jedoch nicht ihre Schönheit zog mich am meisten an, sondern ihr Charakter, die völlige Zerflossenheit ihres Charakters. Sie schien überhaupt keine Persönlichkeit zu haben, sondern nur die Möglichkeit zu vielerlei Typen. Manchmal gab sie sich völlig der Kunst hin, verwandelte ihren Salon in ein Atelier und verbrachte zwei oder drei Tage in der Woche in Gemäldegalerien und Museen. Dann besuchte sie wieder Wettrennen, trug Reitkleider und redete nur noch von Wetten. Sie vertauschte die Religion mit dem Mesmerismus, den Mesmerismus mit der Politik, und die Politik mit dem melodramatischen Reizmittel der Wohltätigkeit. In der Tat war sie eine Art Proteus und litt mit all ihren Verwandlungen ebenso Schiffbruch wie der wunderbare Meergott, als Odysseus ihn festhielt. Eines Tags begann ein Fortsetzungsroman in einer französischen Zeitschrift. Damals las ich Fortsetzungsgeschichten, und ich erinnere mich noch an das heftige Erstaunen, das mich befiel, als ich zur Schilderung der [34] Heldin kam. Sie glich meiner Freundin so sehr, daß ich ihr das Blatt brachte, und sie erkannte sich sofort in der Gestalt und war von der Ähnlichkeit entzückt. Nebenbei muß ich bemerken, daß die Erzählung aus dem Russischen übersetzt war, und daß der verstorbene Verfasser meine Freundin nicht zum Modell genommen haben konnte. Nun, um es kurz zu machen, ein paar Monate später war ich in Venedig, fand die Zeitschrift im Lesezimmer des Hotels und las einmal darin, um zu sehen, was aus der Heldin geworden sei. Es war eine sehr klägliche Geschichte, denn das Ende des Mädchens war, daß sie mit einem Manne durchging, der nicht nur in sozialer Stellung, sondern auch im Charakter und Intellekt tief unter ihr stand. Ich schrieb an diesem Abend an meine Freundin, teilte ihr meine Ansichten über Giovanni Bellini und das köstliche Gefrorene bei Florio und die künstlerische Bedeutung der Gondeln mit, fügte aber eine Nachschrift des Inhalts hinzu, ihre Doppelgängerin in der Geschichte habe sich höchst töricht benommen. Ich weiß nicht, weshalb ich das anfügte, aber ich erinnere mich, es beherrschte mich eine Art Angst, sie könnte das nämliche tun. Noch ehe mein Brief in ihre Hände gekommen war, war sie mit einem Mann durchgebrannt, der sie nach einem halben Jahr verließ. Ich sah sie im Jahre 1884 in Paris, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und ich fragte sie, ob die Erzählung irgend etwas mit ihrem Tun zu schaffen gehabt hätte. Sie antwortete mir, sie hätte ein unwiderstehliches Verlangen gehabt, der Heldin Schritt für Schritt auf ihrem seltsamen und verhängnisvollen Pfade zu folgen, und mit einem Gefühl wahrhaften Entsetzens habe sie die letzten paar Kapitel der Erzählung erwartet. Als sie erschienen, empfand sie, daß sie sie im Leben [35] nachbilden müßte, und sie tat es. Es war ein offenbarer Fall dieses Nachahmungstriebes, von dem ich gesprochen habe, und ein äußerst tragischer.

Indessen will ich nicht länger bei solchen einzelnen Beispielen verweilen. Persönliche Erfahrung ist ein sehr fehlerhaftes und begrenztes Material. Ich will nur das allgemeine Prinzip feststellen: das Leben ahmt die Kunst weitaus mehr nach als die Kunst das Leben, und ich bin sicher, wenn du ernsthaft darüber nachdenkst, wirst du finden, daß das Wahrheit ist. Das Leben hält der Kunst den Spiegel vor, und bildet entweder sonderbare Typen nach, die eines Malers oder Bildhauers Phantasie gestaltet hat, oder verwirklicht im Tun, was die Dichtung erträumt hat. Wissenschaftlich zu sprechen: die Grundlage des Lebens – die Entelechie des Lebens, wie Aristoteles gesagt hätte – ist lediglich das Streben nach Ausdruck, und die Kunst bietet immer mannigfache Formen dar, durch die dieser Ausdruck erreicht werden kann. Das Leben greift danach und macht sie sich zu nutze, selbst wenn sie zu seinem eigenen Schaden dienen. Jünglinge haben Selbstmord begangen, weil Rolla es tat, sind von eigener Hand gestorben, weil Werther so starb. Denk daran, was wir der Imitatio Christi, was wir der Nachfolge Cäsars verdanken.

Cyrill: Das ist gewiß eine sehr absonderliche Theorie, aber, wenn du sie vollständig machen willst, mußt du zeigen, daß die Natur ebenso wie das Leben eine Nachahmung der Kunst ist. Bist du bereit, das zu beweisen?

Vivian: Mein Lieber, ich bin bereit, alles zu beweisen.

Cyrill: Also folgt die Natur dem Landschaftsmaler und nimmt von ihm ihre Wirkungen?

Vivian: Ganz gewiß. Woher sonst als von den Impressionisten [36] bekommen wir diese prachtvollen braunen Nebel, die sich über unsere Straßen lagern, die Gasflammen verlöschen und die Häuser in gespenstische Schatten verwandeln? Wem verdanken wir, wenn nicht ihnen und ihrem Meister, die lieblichen Silberdünste, die über unserm Flusse schweben und die Bogenbrücke und die schwankenden Boote zu verhauchten Formen verblichener Grazie machen? Die außerordentliche Veränderung, die das Klima Londons in den letzten zehn Jahren aufweist, ist gänzlich dieser besonderen Richtung in der Kunst zu verdanken. Du lächelst. Betrachte die Sache vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkt, und du wirst sehen, daß ich recht habe. Was ist denn die Natur? Sie ist nicht eine große Mutter, die uns geboren hat. Sie ist unsere Schöpfung. In unserm Hirn erwacht sie zum Leben. Es gibt Dinge, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir es sehen, hängt von den Künsten ab, unter deren Einfluß wir gestanden haben. Auf ein Ding blicken, ist noch lange nicht dasselbe, wie ein Ding sehen. Kein Ding sieht man, ehe man seine Schönheit sieht. Da, und allein da, erlangt es ein Sein. Jetzt sehen die Menschen Nebel, nicht weil Nebel da sind, sondern weil Dichter und Maler sie die geheimnisvolle Schönheit solcher Stimmungseffekte gelehrt haben. Es mag in London seit Jahrhunderten Nebel gegeben haben. Ich darf wohl sagen, daß sie da waren. Aber niemand sah sie, und so wissen wir gar nichts von ihnen. Sie hatten kein Sein, bis die Kunst sie erfunden hatte. Jetzt, muß man zugeben, gibt es Nebel zum Überdruß. Sie sind die leidige Manier einer Clique geworden, und vom übertriebenen Realismus ihrer Technik holen sich beschränkte Menschen eine Bronchitis. Wo sich die Gebildeten ästhetisch erwärmt fühlen, erkälten sich die [37] Ungebildeten in Wirklichkeit. Und so wollen wir human sein und die Kunst bitten, ihre schönen Augen wo andershin zu wenden. Das hat sie denn auch in der Tat schon getan. Das weiße zitternde Sonnenlicht, das man jetzt in Frankreich sieht, mit seinen seltsamen lila Klecksen und seinen ruhlosen violetten Schatten, ist das neueste Gebilde ihrer Phantasie, und im ganzen formt es die Natur sehr vorzüglich nach. Wo sie früher Corots und Daubignys gab, gibt sie uns jetzt feine Monets und hinreißende Pissaros. Es gibt in der Tat Augenblicke, freilich seltene, aber doch von Zeit zu Zeit wahrnehmbare, wo die Natur völlig modern wird. Natürlich ist sie nicht immer verläßlich. Die Sache ist die, sie ist in einer unglücklichen Lage. Die Kunst schafft einen unvergleichlichen, einzigen Effekt, und, wenn sie damit fertig ist, wendet sie sich andern Dingen zu. Die Natur dagegen denkt nicht daran, daß die Nachahmung die empfindlichste Form der Beleidigung werden kann, und bleibt dabei, diesen Effekt zu wiederholen, bis wir alle seiner ganz und gar überdrüssig sind. Kein wirklich Gebildeter zum Beispiel redet heutzutage je von der Schönheit des Sonnenuntergangs. Sonnenuntergänge sind ganz altmodisch. Sie gehören der Zeit an, wo Turner das neueste in der Kunst war. Sie zu bewundern, ist ein sicheres Zeichen von Provinzempfindung. Anderseits dagegen gibt es immer weiter Sonnenuntergänge. Erst gestern abend beschwor mich Frau Arundel, ich müsse ans Fenster gehen und den prachtvollen Himmel ansehen, wie sie es ausdrückte. Natürlich mußte ich es tun. Sie gehört zu den unsinnig hübschen Philisterweibchen, denen man nichts abschlagen kann. Und was sah ich? Nichts als einen sehr mäßigen Turner zweiten Ranges, einen Turner aus seiner schwachen [38] Zeit, mit all den schlimmsten noch gesteigerten und auf die Spitze getriebenen Fehlern des Künstlers. Natürlich räume ich sehr gerne ein, daß das Leben sehr oft denselben Fehler begeht. Es bringt seine falschen Renés und unechten Vautrins hervor, ebenso wie die Natur uns an einem Tag einen zweifelhaften Cuyp und an einem andern einen mehr als fraglichen Rousseau beschert. Die Natur jedoch ärgert uns mehr, wenn sie etwas derart tut. Es scheint so dumm, so trivial, so überflüssig. Ein falscher Vautrin könnte entzückend sein. Ein zweifelhafter Cuyp ist unerträglich. Jedoch möchte ich nicht zu streng mit der Natur ins Gericht gehen. Ich hätte den Wunsch, der Kanal, besonders bei Hastings, möchte nicht ganz so oft wie Henry Moore aussehen, graue Perle mit gelben Lichtern, aber wenn erst die Kunst abwechslungsreicher geworden ist, wird es ohne jeden Zweifel die Natur auch werden. Daß sie die Kunst nachahmt, wird, denke ich, ihr schlimmster Feind jetzt nicht mehr leugnen. Es ist das einzige, daß sie einem zivilisierten Menschen noch etwas nahe bringt. Nun, habe ich meine These zu deinem Gefallen bewiesen?

Cyrill: Du hast sie zu meinem Mißfallen bewiesen, was besser ist. Aber selbst diesen seltsamen Nachahmungstrieb in Leben und Natur zugegeben, das wirst du doch gewiß anerkennen, daß die Kunst dem Jahrhundert den Abdruck seiner Gestalt zeigt, den Geist ihrer Zeit ausdrückt, die moralischen und sozialen Bedingungen, die es umgeben und unter deren Einfluß sie zustande kam.

Vivian: Gewißlich nicht! Die Kunst drückt nie etwas anderes aus als sich selbst. Das ist der Fundamentalsatz meiner neuen Ästhetik; und das ist es, mehr als [39] die innige Untrennbarkeit von Form und Stoff, die Walter Pater hervorhebt, was die Musik zum höchsten Typus aller Künste macht. Natürlich stehen die Völker und Individuen infolge der gesunden natürlichen Eitelkeit, die das Geheimnis des Seins ist, immer unter dem Eindruck, daß die Musen von ihnen reden; immer suchen sie in der ruhigen Würde der phantasiegeborenen Kunst irgendwie ein Abbild ihrer eigenen gärenden Leidenschaften, immer vergessen sie, daß der Sänger des Lebens nicht Apollon ist, sondern Marsyas. Die Kunst aber steht weit weg von der Wirklichkeit da, hat ihre Augen abgewandt von den Schatten der Höhle und offenbart ihre eigene Vollkommenheit, während die verwunderte Menge, die zusieht, wie die wundervolle, vielblättrige Rose sich öffnet, sich einbildet, ihre eigene Geschichte werde ihr berichtet, ihr eigener Geist finde in neuer Gestalt seinen Ausdruck. Aber es ist nicht an dem. Die höchste Kunst wirft die Last des menschlichen Geistes ab und holt mehr Gewinn aus einem neuen Mittel oder einem frischen Material als aus irgendwelcher Kunstbegeisterung oder irgendeiner hochstrebenden Leidenschaft oder irgendeinem großen Aufschwung des menschlichen Bewußtseins. Sie entwickelt sich rein auf ihren eigenen Bahnen. Sie ist kein Abbild irgendeines Zeitalters. Die Zeitalter vielmehr sind ihr Abbild.

Selbst wer der Meinung ist, die Kunst repräsentiere Zeit und Ort und Volk, muß zugeben, daß eine Kunst, je mehr sie imitativ ist, uns um so weniger den Geist ihrer Zeit repräsentiert. Die römischen Kaiser mit ihrem bösen Gesicht blicken aus dem schmutzfarbenen Porphyr und dem gesprenkelten Jaspis, in dem die realistischen Künstler der Zeit so gern arbeiteten, auf uns, und [40] wir bilden uns ein, in diesen grausamen Lippen und wollüstigen Kinnbacken fänden wir das Geheimnis des Untergangs des römischen Reiches. Aber das war es nicht. Die Laster des Tiberius konnten diese höchste Zivilisation nicht zerstören, so wenig wie die Tugenden der Antonine sie retten konnten. Das Reich versank aus andern, weniger interessanten Gründen. Die Sibyllen und Propheten der Sistina können in der Tat dem oder jenem dienlich sein, die Wiedergeburt des freigewordenen Geistes zu versinnlichen, die wir Renaissance nennen; aber was künden uns die betrunkenen Lümmel und brüllenden Bauern der holländischen Kunst von der großen Seele der Niederländer? Je abstrakter, je idealer eine Kunst ist, um so mehr enthüllt sie uns den Zustand ihrer Zeit. Wenn wir ein Volk mittelst seiner Kunst verstehen wollen, müssen wir seine Architektur oder seine Musik ins Auge fassen.

Cyrill: Da stimme ich dir völlig zu. Der Geist einer Zeit kann am besten in den abstrakten, idealen Künsten seinen Ausdruck finden, denn der Geist ist selber abstrakt und ideal. Andrerseits müssen wir natürlich, wenn wir die Sichtbarkeit einer Zeit, ihre Erscheinung, wie man wohl sagt, uns vergegenwärtigen wollen, uns an die imitativen Künste wenden.

Vivian: Ich denke nicht so. Was uns die imitativen Künste überhaupt geben, sind in Wirklichkeit bloß die verschiedenen Stile der einzelnen Künstler oder gewisser Schulen. Gewiß bildest du dir nicht ein, die Menschen des Mittelalters hätten die geringste Ähnlichkeit gehabt mit all den Gestalten auf mittelalterlichen Glasgemälden oder in der mittelalterlichen Stein- und Holzbildhauerei, oder mit den Bildnissen aus Metall oder auf Stickereien oder in illuminierten Manuskripten. Es waren wahrscheinlich [41] sehr gewöhnlich aussehende Menschen, mit nichts Groteskem oder Besonderem oder Ekstatischem in ihrer Erscheinung. Das Mittelalter, wie wir es in der Kunst kennen, ist einfach eine bestimmte Stilform, und es gibt nicht den geringsten Grund, warum ein Künstler mit diesem Stil nicht im neunzehnten Jahrhundert geboren werden sollte. Kein großer Künstler sieht die Dinge je, wie sie wirklich sind. Wenn er es täte, hörte er auf, ein Künstler zu sein. Nimm ein Beispiel aus unsrer eigenen Zeit. Ich weiß, du liebst die japanischen Sachen. Nun, bildest du dir wirklich ein, die japanischen Menschen, wie sie uns in der Kunst dargestellt werden, haben die geringste Wirklichkeit? Wenn du das meinst, hast du die japanische Kunst überhaupt nie verstanden. Die japanischen Menschen sind die überlegte, bewußte Schöpfung gewisser individueller Künstler. Wenn du ein Bild von Hokusai oder Hokkei oder irgend einem der großen Künstler des Landes neben einen wirklichen Herrn oder eine wirkliche Dame aus Japan stellst, wirst du sehen, daß es zwischen ihnen nicht die geringste Ähnlichkeit[WS 1] gibt. Die wirklichen Menschen, die in Japan leben, sind dem allgemeinen Schlag englischer Menschen nicht unähnlich; das heißt, sie sind völlige Dutzendmenschen und haben nichts Absonderliches oder Außerordentliches an sich. In der Tat ist das ganze Japan eine pure Erfindung. Es gibt kein solches Land, es gibt keine solchen Menschen. Einer unsrer reizvollsten Maler reiste vor kurzem in das Land der Chrysanthemen und hoffte törichterweise, die Japaner zu sehen. Er sah nichts weiter und konnte nichts weiter malen als ein paar Stocklaternen und etliche Fächer. Er war ganz und gar nicht imstande, die Einwohner zu entdecken, wie seine köstliche Ausstellung in der Galerie [42] der Herren Dowdeswell nur zu gut zeigte. Er wußte nicht, daß die japanischen Menschen nur, wie gesagt, eine Stilart sind, ein phantastisch erlesenes Gebilde der Kunst. Und so wirst du, wenn du eine japanische Stimmung sehen willst, nicht den Reisenden spielen und nach Tokio fahren. Du wirst im Gegenteil zu Hause bleiben und dich in die Werke bestimmter japanischer Künstler versenken, und wenn du dann den Geist ihres Stils in dich aufgenommen und ihre bestimmte Phantasieform des Lebens erfaßt hast, wirst du dich eines Nachmittags in den Hydepark setzen oder nach Piccadilly schlendern, und wenn du da nicht eine absolut japanische Stimmung gewahren wirst, wirst du sie nirgendwo finden. Oder kehren wir wieder bei der Vergangenheit ein und nehmen als ein anderes Beispiel die alten Griechen. Meinst du, die griechische Kunst sagt uns im mindesten, wie die griechischen Menschen ausgesehen haben? Glaubst du, die Frauen in Athen hätten den erhabenen, majestätischen Gestalten vom Parthenonfries ähnlich gesehen oder den wunderherrlichen Göttinnen, die in den dreieckigen Giebelfeldern eben des Parthenons saßen? Wenn du nach der Kunst urteilst, waren sie ohne Frage so. Aber lies einen Kundigen wie zum Beispiel Aristophanes. Da findest du, daß die Frauen Athens sich fest schnürten, Schuhe mit hohen Absätzen trugen, ihr Haar gelb färbten, ihr Gesicht bemalten und schminkten und ganz genau jedem beliebigen albernen Mode- oder Straßenweib unserer Tage glichen. Die Sache ist die, daß wir auf die vergangenen Zeiten ganz und gar durch das Medium der Kunst zurückblicken, und die Kunst hat uns, Preis und Dank sei ihr, noch niemals die Wahrheit gesagt.

Cyrill: Aber die modernen Porträts englischer Maler, [43] was sagst du zu denen? Gewiß gleichen sie doch den Menschen, die sie wiedergeben wollen.

Vivian: Ganz recht. Sie gleichen ihnen so sehr, daß nach hundert Jahren kein Mensch an sie glauben wird. Die einzigen Porträts, an die man glaubt, sind die, in denen sehr wenig von dem Porträtierten und sehr viel von dem Künstler zu finden ist. Holbeins Bilder von den Männern und Frauen seiner Zeit rufen in uns den Eindruck ihrer völligen Wirklichkeit hervor. Aber das kommt nur daher, daß Holbein das Leben zwang, sich seinen Bedingungen zu fügen, sich innerhalb seiner Beschränkung zu halten, seinen Typus wiederzugeben und so zu erscheinen, wie er es wollte. Der Stil ist es, der uns an eine Sache glauben läßt – nichts als der Stil. Unsere meisten modernen Bildnismaler sind dazu bestimmt, völlig vergessen zu werden. Sie malen nie, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und das Publikum sieht nie etwas.

Cyrill: Schön. Nun wäre es mir recht, den Schluß deines Artikels zu hören.

Vivian: Mit Vergnügen. Ob er irgend etwas nützen wird, kann ich wirklich nicht sagen. Unser Jahrhundert ist wirklich von allen das trübseligste und prosaischste. Wahrhaftig, sogar der Schlaf hat sein Antlitz vertauscht und hat die Elfenbeintore verschlossen und die Tore aus Horn geöffnet. Die Träume der großen Mittelklassen in England sind, wie aus den zwei umfangreichen Bänden des Herrn Myers über den Gegenstand und den Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft hervorgeht, das tristeste, wovon ich je gelesen habe. Nicht einmal ein anständiger Alpdruck findet sich darunter. Es sind Dutzendträume, voller Häßlichkeit und Langerweile. Was die Kirche angeht, so kann ich mir für die Kultur [44] eines Landes nichts Besseres denken als das Vorhandensein einer Körperschaft von Männern, deren Beruf es ist, an das Übernatürliche zu glauben, täglich Wunder zu tun und die mythenschaffende Fähigkeit lebendig zu halten, die für die Phantasie so wesentlich ist. Aber in unserer Kirche hat ein Mann nicht durch seine Fähigkeit zu glauben Erfolg, sondern trotz seiner Fähigkeit zum Unglauben. Wir haben die einzige Kirche, wo der Skeptiker am Altar steht und wo St. Thomas als Idealapostel betrachtet wird. Manch würdiger Geistlicher, der sein Leben in schönen Werken hilfreicher Barmherzigkeit verbringt, lebt und stirbt unbeachtet und unbekannt; aber es braucht nur ein seichter, unerzogener Laffe von irgend einer Universität zu kommen, auf seine Kanzel zu steigen und seine Zweifel an Noahs Arche oder Bileams Esel oder Jonas und den Walfisch auszusprechen, damit halb London zusammenströmt, um ihn zu hören und mit offenem Munde in heller Begeisterung über seinen mächtigen Geist dazusitzen. Das Heraufkommen des gesunden Menschenverstandes in unserer Kirche ist eine tief bedauerliche Erscheinung. Es ist in der Tat ein beschämendes Zugeständnis an eine niedrige Art Realismus. Es ist auch dumm. Es entspringt einer völligen Unkenntnis der Psychologie. Der Mensch kann das Unmögliche glauben, aber niemals das Unwahrscheinliche. Indessen genug davon; du sollst den Schluß des Artikels hören:

„Was wir zu tun haben, was in jedem Fall die Pflicht von uns fordert, das ist die Wiederbelebung der alten Kunst des Lügens. Vieles natürlich zur Erziehung des Publikums kann von Dilettanten im häuslichen Kreise, etwa bei einem literarischen Frühstück oder beim Nachmittagstee getan werden. Aber das ist bloß die leichte [45] und heitere Seite des Lügens, so wie man es etwa bei den Gesellschaften der Kretenser übte. Es gibt viele andere Formen. Das Lügen zum Zweck des unmittelbaren persönlichen Vorteils, zum Beispiel Lügen aus moralischer Absicht, wie man es wohl nennt, war, wenn es schon in letzter Zeit geringschätzig betrachtet wird, in der antiken Welt äußerst populär. Athene lacht, wie Odysseus ihr „seine listig erdachten Worte“ sagt (wie William Morris es ausdrückt), und der Glorienschein der Verlogenheit leuchtet von der blassen Stirne des untadeligen Helden der Euripideischen Tragödie und versetzt die junge Frau aus einer der entzückendsten Oden des Horaz unter die Zahl der edlen Frauen der Vorzeit. Später wurde, was zuerst nur ein natürlicher Instinkt gewesen war, auf die Höhe bewußter Wissenschaft gehoben. Man verfaßte ausführliche Regeln zur Lenkung des Menschen, und ein wichtiger Literaturzweig nahm sich des Gegenstands an. Wenn man fürwahr an die treffliche philosophische Abhandlung des Sanchez über die ganze Frage denkt, muß man wirklich bedauern, daß noch niemand daran gedacht hat, eine billige Ausgabe der ausgewählten Werke dieses großen Kasuisten zu veranstalten. Ein kurzes Elementarbuch „Wann und wie gelogen werden soll“ würde ohne Zweifel, wenn es in anziehender Form und nicht zu teuer herausgegeben würde, viel gekauft werden, und würde für viele ernste und nachdenkende Menschen von großem praktischen Werte sein. Lügen um der Aufklärung der Jugend willen bildet die Grundlage der häuslichen Erziehung und ist daher noch lebendig unter uns; seine Vorzüge sind überdies in den ersten Büchern von Platos Republik so trefflich beleuchtet worden, daß es unnötig ist, hier dabei zu verweilen. Es ist eine Art des Lügens, zu der [46] alle guten Mütter besondere Begabung haben, aber sie ist noch weiterer Entwickelung fähig und ist bisher von der obersten Schulbehörde in bedauerlicher Weise unbeachtet gelassen worden. Lügen zum Zwecke eines Monatsgehaltes ist natürlich in Fleet Street wohlbekannt, und der Beruf eines Leitartiklers hat seine Vorteile. Aber es soll eine etwas triste Beschäftigung sein, und sicherlich führt sie zu nicht viel mehr als einer Art prahlerischer Obskurität. Die einzige Form des Lügens, die ganz über jeden Vorwurf erhaben ist, ist das Lügen um seiner selbst willen, und die höchste Stufe davon ist, wie wir bereits ausführten, das Lügen in der Kunst. Gerade wie die, die nicht Plato mehr als die Wahrheit lieben, nicht über die Schwelle der Akademie kommen können, so lernen die, die die Schönheit nicht mehr als die Wahrheit lieben, nie das innerste Gemach der Kunst kennen. Der solide stupide britische Intellekt liegt gleich der Sphinx in Flauberts prächtiger Erzählung im Wüstensand, und die Phantasie, La Chimère, tanzt um ihn und lockt ihn mit ihrer falschen, flötenden Stimme. Er kann sie jetzt nicht hören, aber der Tag wird kommen, wo wir alle von den öden modernen Romanen zu Tode gelangweilt sind, und dann wird er ihr lauschen und den Versuch machen, sich ihrer Schwingen zu bedienen.

Und wenn dieser Tag graut oder der Abend sich herabsenkt, wie froh werden wir alle sein! Tatsachen werden für schimpflich gehalten werden, die Wahrheit wird in ihren Fesseln trauern, und die Romantik in all ihrem Wunder wird wieder ins Land kommen. Die ganze Welt wird sich vor unsern überraschten Blicken verwandeln. Aus dem Meer werden Behemoth und Leviathan emporsteigen und werden um die hochgetürmten Galeeren schwimmen, [47] wie sie es auf den prächtigen Karten tun, die noch aus Zeiten stammen, wo Geographiebücher tatsächlich lesbar waren. Drachen werden an öden Orten hausen, und der Phönix wird aus seinem Feuernest in die Lüfte steigen. Wir werden den Basilisk mit Händen greifen, und den Rubin im Kopf der Kröte sehen. Der Hippogryph wird in unserm Stall stehen und seinen goldenen Hafer malmen, und über unsern Häuptern wird der blaue Vogel schweben und von herrlichen, unmöglichen Dingen singen, von Dingen, die schön sind und nie geschehen, von Dingen, die nicht sind und die sein sollten. Aber bevor es soweit kommen kann, müssen wir die verloren gegangene Kunst des Lügens pflegen.“

Cyrill: Wir müssen also gleich damit beginnen, sie zu pflegen. Aber damit ich keinen Irrtum begehe, fasse mir die Lehren der neuen Ästhetik[WS 2], bitte, kurz zusammen.

Vivian: In Kürze also lauten sie so. Die Kunst drückt nie etwas anderes aus als sich selbst. Sie hat ein Leben für sich, gerade wie das Denken, und entfaltet sich rein und völlig auf eigenen Bahnen. Sie braucht in einer Zeit des Realismus nicht realistisch, in einer Zeit des Glaubens nicht spiritualistisch zu sein. Sie ist keineswegs das Geschöpf ihrer Zeit, steht im Gegenteil gewöhnlich in direktem Widerspruch zu ihr, und die einzige Geschichte, die in ihr liegt, ist die Geschichte ihres eigenen Werdegangs. Manchmal geht sie ihren Weg wieder zurück und belebt eine antike Form, wie es in der archaistischen Strömung der spätgriechischen Kunst und in der präraphaelitischen Bewegung unserer Tage geschah. Zu anderen Zeiten geht sie ihrer Zeit völlig voraus und schafft in einem Jahrhundert Werke, deren Verständnis, Würdigung und Genuß einem [48] andern Jahrhundert vorbehalten ist. In keinem Fall bildet sie ihre eigene Zeit nach. Von der Kunst einer Zeit auf die Zeit selbst zu schließen, ist der große Fehler, den alle Historiker begehen.

Die zweite Lehre lautet: Alle schlechte Kunst kommt von der Rückkehr zu Leben und Natur und davon, daß diese zwei zu Idealen erhoben werden. Leben und Natur mögen manchmal als Teile des Rohmaterials der Kunst benutzt werden, aber ehe sie der Kunst irgend wirklichen Dienst tun können, müssen sie in künstlerische Konvention verwandelt werden. In dem Augenblick, wo die Kunst ihr Medium der Phantasie aufgibt, gibt sie alles auf. Als Methode hat der Realismus völlig Schiffbruch gelitten, und zwei Dinge müßte jeder Künstler vermeiden: moderne Form und modernen Stoff. Für uns, die im neunzehnten Jahrhundert leben, ist jedes Jahrhundert ein passender Vorwurf für die Kunst außer unserm eigenen. Die einzigen schönen Dinge sind die Dinge, die uns nichts angehen. Gerade weil – mit Vergnügen zitiere ich mich selbst – Hekuba uns nichts bedeutet, ist ihr Schmerz ein so schönes Motiv für eine Tragödie. Außerdem gibt es nur eines, was je aus der Mode kommen kann: das Moderne. Zola setzt sich hin, um uns eine Schilderung vom zweiten Kaiserreich zu geben. Wer kümmert sich jetzt um das zweite Kaiserreich? Es ist veraltet. Das Leben geht schneller voran als der Realismus, aber die Romantik geht immer dem Leben voraus.

Die dritte Lehre heißt: Das Leben ahmt die Kunst weitaus mehr nach als die Kunst das Leben. Das ergibt sich nicht nur aus dem Nachahmungstrieb des Lebens, sondern vor allem aus der Tatsache, daß es das bewußte Ziel des Lebens ist, Ausdruck zu finden, und daß die [49] Kunst ihm bestimmte schöne Formen bietet, durch die es diesen Drang erfüllen kann. Diese Theorie ist niemals zuvor aufgestellt worden, aber sie ist äußerst fruchtbar und wirft ein völlig neues Licht auf die Kunstgeschichte.

Als dazugehöriger Folgesatz ergibt sich die Anmerkung, daß die äußere Natur ebenfalls die Kunst nachahmt. Das einzige Wirkungsvolle, was sie uns zeigen kann, ist das, was wir bereits vermittelst der Poesie oder in Gemälden gesehen haben. Dies ist das Geheimnis der Schönheit der Natur, aber auch die Erklärung ihrer Schwäche.

Die schließliche Enthüllung ist, daß das Lügen, schöne unwahre Dinge zu sagen, das eigentliche Ziel der Kunst ist. Aber davon habe ich, denke ich, lange genug gesprochen. Und jetzt wollen wir auf die Terrasse hinausgehen, wo „milchweiß und geisterhaft der Pfau in Dämmerung verschwebt“ und der Abendstern „das Abendgraun in Silber wäscht“. Im Zwielicht wird die Natur ein wunderschöner, eindringlicher Stimmungseffekt und ist nicht ohne Lieblichkeit, obwohl ihr Hauptwert vielleicht darin besteht, Zitate der Dichter zu illustrieren.

Komm! Wir haben lange genug geredet.


[51]

KRITIK EINE KUNST
NEBST EINIGEN BEMERKUNGEN, WIE WICHTIG ES SEI‚ ALLES ZU DISKUTIREN
ERSTER TEIL

[52]

DIE PERSONEN DES DIALOGES: GILBERT UND ERNST.
SZENE: BÜCHERZIMMER IN EINEM HAUSE IN PICCADILLY MIT AUSSICHT AUF DEN PARK.

[53] GILBERT (AM KLAVIER): NUN, lieber Ernst, worüber lachst du?

Ernst (blickt auf): Über eine prächtige Geschichte, die ich hier in dem Memoirenwerk gefunden habe, das hier auf deinem Tische lag.

Gilbert: Was für ein Buch? Aha! Ich habe es noch nicht gelesen. Ist es gut?

Ernst: Immerhin habe ich, während du gespielt hast, mit ziemlichem Vergnügen darin geblättert, obwohl mir sonst gewöhnlich moderne Memoiren mißfallen. Im allgemeinen sind sie von Leuten geschrieben, die entweder völlig das Gedächtnis verloren haben, oder die nie etwas Denkwürdiges getan haben, was indessen ohne Zweifel die wahre Erklärung ihres Erfolgs ist, da es unserem Publikum immer völlig behaglich zumute wird, wenn eine Mittelmäßigkeit zu ihm spricht.

Gilbert: Ja, das Publikum ist herrlich tolerant. Es ist nachsichtig gegen alles, außer der Genialität. Aber ich muß gestehen, ich liebe alle Memoiren. Und zwar um ihrer Form ebenso wie um ihres Inhalts willen. In der Literatur ist der reine Egoismus entzückend. Er fesselt uns in den Briefen von Menschen, die so verschieden sind wie Cicero und Balzac, Flaubert und Berlioz, Byron und Madame de Sévigné. Überall, wo wir auf ihn stoßen, und das ist sonderbarerweise ziemlich selten, ist er uns erfreulich und unvergeßlich. Die Menschheit wird immer Rousseau dafür lieben, daß er seine Sünden nicht einem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat, und die liegenden Nymphen, die Cellini für das Schloß Königs Franz in Bronze goß, der grün und goldene Perseus sogar, der in der offenen Loggia in Florenz dem Mond den tödlichen Schrecken zeigt, der einst [54] Leben in Stein gewandelt hat, sie haben der Menschheit nicht mehr Freude gemacht als jene Selbstbiographie, in der der prächtigste Halunke der Renaissance die Geschichte seiner Herrlichkeit und seiner Schande erzählt. Die Meinungen, der Charakter, die Leistungen eines Mannes tun sehr wenig zur Sache. Er kann ein Skeptiker sein wie der edle Sieur de Montaigne, oder ein Heiliger, wie der strenge Sohn der Monika; wenn er uns seine eigenen Geheimnisse erzählt, wird er immer unsere Ohren zum Lauschen und unsere Lippen zum Schweigen bringen. Die Denkart, die Kardinal Newman repräsentiert – wenn eine Denkart heißen kann, was geistige Fragen dadurch zu lösen sucht, daß der Intellekt ausgeschaltet wird – wird, glaube ich, kein langes Leben haben, kann es nicht haben. Aber die Welt wird nie aufhören, diese gepeinigte Seele auf ihrem Gang von Dunkelheit zu Dunkelheit mit Spannung zu begleiten. Die einsame Kirche in Littlemore, wo der „feuchte Hauch des Morgens weilt und wenig Andächtige“, wird der Welt immer geheiligt sein, und jederzeit, wenn die Menschen auf der Mauer von Trinity gelbes Löwenmaul blühen sehen, werden sie an das fromme Studentlein denken, das in der sicheren Wiederkehr der Blumen eine Prophezeiung erblickte, daß er immer ein Kämpfer für die gnadenreiche Mutter seines Lebens bleiben werde – eine Prophezeiung, die der Glaube in seiner Weisheit oder Torheit nicht zur Erfüllung kommen ließ.

Ja, es liegt etwas Unwiderstehliches in der Selbstbiographie. Der armselige, harmlose, selbstgefällige Sekretär Pepys hat sich in die Gesellschaft der Unsterblichen hineingeschwatzt, und im Bewußtsein, daß die Indiskretion der bessere Teil der Tapferkeit ist, läuft er geschäftig [55] und vergnügt unter ihnen herum, angetan mit dem „rauhen Purpurmantel mit Goldknöpfen und Spitzenschleifen“, den er uns so gern beschreibt, und plaudert zu seinem eigenen und unserem großen Ergötzen von dem indischblauen Unterrock, den er seiner Frau kaufte, von dem „guten Schweinsgeschlinge“ und dem „famosen französischen Kalbsfrikassee“, die er so gerne aß, von seinem Kugelspielen mit Will Joyce und seinem „Flanieren hinter schönen Damen“, seiner Rezitation des Hamlet an einem Sonntag und seinem Bratschenspiel an Wochentagen, und andern leichtfertigen oder gewöhnlichen Dingen. Selbst im wirklichen Leben ist der Egoismus nicht ohne Reiz. Wenn die Menschen über andere Leute zu uns reden, sind sie gewöhnlich langweilig. Wenn sie von sich selbst reden, sind sie fast immer interessant, und wenn man sie so leicht zuklappen könnte, wenn sie ermüdend werden, wie man ein Buch schließen kann, wenn man genug davon hat, wären sie ganz vollkommen.

Ernst: Das ist ein wackeres Wenn, wie Touchstone sagte. Aber ist es im Ernst dein Wunsch, daß jeder sein eigener Biograph werden soll? Was würde da aus unsern eifrigen Biographienschreibern werden?

Gilbert: Was ist aus ihnen geworden? Sie sind die Pest des Jahrhunderts, nicht mehr und nicht weniger. Jeder große Mann hat heutzutage seine Jünger, und es ist immer Judas, der die Biographie schreibt.

Ernst: Mein Lieber!

Gilbert: Leider ist es wahr. Früher haben wir unsere Helden heilig gesprochen. Jetzt ist es üblich, sie platt zu reden. Billige Ausgaben großer Bücher können ganz willkommen sein, aber billige Ausgaben großer Männer sind ganz niederträchtig.

Ernst: Darf ich fragen, Gilbert, auf wen du anspielst?

[56] Gilbert: O, auf all unsere Literaten aus zweiter Hand. Eine Menge Leute liegen uns auf dem Halse, die immer, wenn ein Dichter oder Maler dahingegangen ist, wie der Beerdigungsagent ins Haus stürmen und dabei vergessen, daß ihr einziges Amt wäre, den stummen Leichenbitter zu spielen. Aber reden wir nicht von ihnen. Sie sind die Leichenschänder der Literatur. Der Staub gehört dem einen und die Asche einem andern, und die Seele ist außer ihrem Bereich. Soll ich dir jetzt Chopin spielen oder Dvorák? Soll ich dir eine Phantasie von Dvorák spielen? Er schreibt leidenschaftliche, seltsamfarbige Sachen.

Ernst: Nein; jetzt gerade brauche ich keine Musik. Sie ist viel zu vage. Außerdem führte ich gestern abend die Baronin Bernstein zu Tisch, und so reizend sie in jeder andern Hinsicht ist, bestand sie darauf, so über Musik zu reden, als ob sie tatsächlich deutsch geschrieben wäre. Nun, die Musik mag so oder so klingen, aber ich sage mit Vergnügen, nicht im mindesten klingt sie wie deutsch. Es gibt wirklich Formen des Patriotismus, die ganz erniedrigend sind.

Nein, Gilbert, spiele nicht mehr. Komm her und plaudere mit mir. Plaudere mit mir, bis der weißgehörnte Tag durch die Scheiben blickt. Es ist etwas so Schönes in deiner Stimme.

Gilbert (steht vom Klavier auf): Ich bin heute abend nicht zum Plaudern aufgelegt. Wie häßlich von dir, zu lächeln! Wirklich nicht. Wo sind die Zigaretten? Danke. Wie herrlich die Narzissen sind! Sie sehen aus wie aus Bernstein und kühlem Elfenbein gemacht. Sie sind wie Kunstwerke aus der besten griechischen Zeit. Was für eine Geschichte in den Bekenntnissen des reuigen Akademikers hat dich zum Lachen gebracht? Erzähle sie [57] mir. Wenn ich Chopin gespielt habe, ist mir zumute, als hätte ich über Sünden geweint, die ich nie begangen habe, und über Tragödien Leid gehabt, die nicht meine eigenen sind. Die Musik scheint auf mich immer diese Wirkung auszuüben. Sie schafft mit eins eine Vergangenheit, die man nicht gekannt hat, und erfüllt einen mit einem Sinn für Schmerzen, die den eigenen Tränen vorher verborgen waren. Ich kann mir einen Menschen denken, der ein völlig gewöhnliches Leben geführt hat, der dann zufällig ein tief seltsames Musikstück hört und nun auf einmal entdeckt, daß seine Seele, ohne daß er es gewahr wurde, furchtbare Prüfungen durchgemacht hat und entsetzliche Genüsse oder wild romantisches Liebesleben oder große Entsagung erlebt hat. Also, erzähle mir die Geschichte, Ernst. Ich brauche Aufheiterung.

Ernst: O, sie wird wohl gar keine Bedeutung haben. Aber für mich war sie ein vorzügliches Beispiel für den tatsächlichen Wert der gewöhnlichen Kunstkritik. Eine Dame scheint den reuigen Akademiker, wie du ihn nennst, einmal im Ernst gefragt zu haben, ob sein berühmtes Bild „Ein Frühlingstag im Warenhaus Whiteley“ oder „In Erwartung des letzten Omnibus“ oder so ein ähnliches Bild ganz mit der Hand gemalt sei?

Gilbert: Und war es der Fall?

Ernst: Du bist doch unverbesserlich. Aber ernsthaft zu reden, was hat die Kunstkritik für einen Nutzen? Warum kann nicht der Künstler allein gelassen werden, auf daß er eine neue Welt schaffe, wenn er das will, oder, wenn nicht, die Welt, die wir bereits kennen, darstelle, deren wir alle, denke ich, längst müde wären, wenn die Kunst nicht mit ihrem schönen Geist der Komposition und ihrem ungemein sicheren Sinn für [58] Auswahl sie für uns reiner machte und ihr eine momentane Vollendung gäbe. Mir scheint, die Phantasie zieht einen Kreis der Einsamkeit um sich, oder sollte es wenigstens tun, und arbeitet am besten in Schweigen und Abgeschiedenheit. Warum soll der Künstler von dem gellenden Lärm der Kritik gestört werden? Warum sollen die, die keine Kraft zum Schaffen haben, den Beruf haben, den Wert eines schöpferischen Werkes zu bestimmen? Was können sie davon wissen? Wenn das Werk eines Mannes leicht zu verstehen ist, ist eine Erklärung überflüssig. ...

Gilbert: Und wenn sein Werk unverständlich ist, ist eine Erklärung ruchlos.

Ernst: Das sagte ich nicht.

Gilbert: Ah! aber du hättest es sagen sollen. Heutzutage ist uns so wenig Geheimnisvolles geblieben, daß wir es uns nicht leisten können, auf eins davon zu verzichten. Die Mitglieder der Browning-Gesellschaft erscheinen mir wie die liberalen Theologen oder die Autoren von Walter Scott’s „Great Writers Series“ ihre Zeit mit dem Versuch zu verbringen, ihre Gottheit wegzuerklären. Wo man gehofft hatte, Browning sei mystisch, versuchten sie zu zeigen, er sei lediglich unverständlich. Wo man sich eingebildet hatte, er habe etwas zu verbergen, haben sie bewiesen, daß er nur wenig zu enthüllen hatte. Aber ich sage das nur von einzelnen seiner Werke. Im ganzen genommen war er ein großer Mann. Er gehörte nicht zu den Olympiern und hatte all die Unfertigkeit der Titanen. Er hatte nicht die Gabe, herabzublicken, und nur selten konnte er singen. Sein Werk ist durch Kampf, Heftigkeit und Anstrengung verunstaltet, und er vollzog nicht den Übergang von dem Gefühl zur Form, sondern vom Gedanken [59] zum Chaos. Und doch war er groß. Er ist ein Denker genannt worden und war gewiß ein Mann, der immer dachte und immer laut dachte; aber nicht der fertige Gedanke reizte ihn, sondern eher der Bewegungsvorgang des Denkens. Den Mechanismus liebte er, nicht sein Produkt. Das Verfahren, durch das der Narr zu seiner Narrheit kommt, war ihm ebenso wert wie die letzte Weisheit des Weisen. So sehr reizte ihn wahrlich der feine Mechanismus des Geistes, daß er die Sprache verachtete oder auf sie als ein unvollkommenes Ausdrucksmittel herabsah. Der Reim, dieses köstliche Echo, das in dem hohlen Berg der Muse seine eigene Stimme schafft und beantwortet: der Reim, der in den Händen des wirklichen Künstlers nicht nur ein stoffliches Element metrischer Schönheit, sondern ebenso ein geistiges Element des Gedankens und der Leidenschaft wird, indem er etwa in eine neue Stimmung versetzt oder eine neue Flucht Ideen aufregt oder durch die bloße Lieblichkeit und Eindrucksmacht des Klanges irgendwo ein goldenes Tor öffnet, an das selbst die Phantasie vergeblich gepocht hatte; der Reim, der aus den Äußerungen von Menschen eine Rede von Göttern machen kann; der Reim, die einzige Saite, die wir der griechischen Leier hinzugefügt haben, wurde in den Händen Robert Brownings zu einer grotesken, verunglückten Sache, so daß er als Dichter manchmal wie ein kleiner Komödiant ausstaffiert war und den Pegasus derart ritt, daß seine eigene Zunge ins Gebiß kam. Er hat Augenblicke, wo er mit einer gräßlichen Art Musik peinigt. Ja, er geht soweit, wenn er nur dadurch zu einer Musik kommen kann, daß er die Saiten seiner Laute zerbricht, so tut er es, und sie zerkrachen kreischend, und keine athenische Zikade, die mit zitternden Flügeln Musik macht, leuchtet [60] an dem elfenbeinernen Horn, um den Rhythmus vollkommener und die Intervalle weniger schroff zu machen. Und doch war er groß, und wenn er schon aus der Sprache gemeinen Lehm machte, er formte Menschen daraus, die leben. Er ist von allen, die nach Shakespeare kamen, das shakespearischste Wesen. Wenn Shakespeare mit Myriaden Lippen singen konnte, so konnte Browning in tausend Zungen stammeln. Selbst jetzt, während ich spreche, und nicht gegen ihn, für ihn spreche, gleiten seine Gestalten wie in festlichem Aufzug durchs Zimmer. Da naht sich Fra Lippo Lippi; seine Wangen brennen noch vom heißen Kuß einer Dirne. Dort steht der furchtbare Saul; und die Saphire glänzen strahlend in seinem Turban. Mildred Tresham ist da, und der haßerfüllte gelbe spanische Mönch, und Blougram, und Ben Esra, und der Bischof von St. Praxed. Sebald, der Pippa vorübergehen hört, blickt auf die verfallenen Züge Ottimas und ekelt sich vor ihrer und seiner Sünde und vor sich selbst. Bleich wie der weiße Atlas seines Gewandes lauscht der traurige König mit träumenden verräterischen Augen, wie der getreue Strafford zum Blutgerüst schreitet, und Andrea erschaudert, wie er den Pfiff des Vetters im Garten vernimmt und sein edles Weib hinabgehen heißt. Ja, Browning war groß. Und als was wird er im Gedächtnis bleiben? Als Dichter? O nein, nicht als Dichter! Er wird im Gedächtnis bleiben als Novellist, als der vorzüglichste Novellist vielleicht, den wir hatten. Sein Sinn für die dramatische Situation war unvergleichlich, und wenn er schon seine eigenen Probleme nicht lösen konnte, so konnte er sie doch aufstellen, und was braucht ein Künstler mehr? Als Schöpfer von Charakteren kommt er gleich hinter dem, der Hamlet gemacht hat. Wäre er nicht so unklar [61] gewesen, er dürfte neben ihm stehen. Der einzige Mann, der den Saum seines Gewandes berühren darf, ist George Meredith. Meredith ist ein Browning in Prosa, und Browning desgleichen. Er benutzte die Poesie als Mittel, Prosa zu schreiben.

Ernst: An dem, was du sagst, ist etwas, aber du sagst nicht alles. In vieler Hinsicht bist du ungerecht.

Gilbert: Es ist schwer, gegen die, die man liebt, nicht ungerecht zu sein. Aber kehren wir zu unserm eigentlichen Ausgangspunkt zurück. Was hattest du gesagt?

Ernst: Kurz folgendes: in den besten Zeiten der Kunst hat es keine Kunstkritiker gegeben.

Gilbert: Mir scheint, diese Behauptung ist nicht neu, Ernst. Sie hat all die Zähigkeit des Irrtums und all die Langweiligkeit eines alten Freundes.

Ernst: Sie ist wahr. Jawohl: es hilft nichts, daß du so zornig den Kopf schüttelst. Die Behauptung ist völlig wahr. In den besten Zeiten der Kunst gab es keine Kunstkritiker. Der Bildhauer hieb aus dem Marmorblock die große weiß schimmernde Gestalt des Hermes, die darin geschlummert hatte. Die Bildniswachser und Vergolder gaben der Statue Tönung und Deckung, und die Welt sah das Bildnis, verehrte es und war stumm. Er goß die glühende Bronze in die Sandform, und der Fluß roten Metalls erkühlte in edel geschwungene Linien und prägte sich zum Leib eines Gottes. Durch Emaille oder glänzende Edelsteine gab er den blicklosen Augen Leben. Hyazinthene Locken kräuselten sich unter seinem Meißel. Und wenn in so einem düsteren Tempel mit Freskobildern an den Wänden oder in säulengeschmücktem, sonnedurchflutetem Portiko das Kind der Leto auf seinem Sockel stand, dann verspürten die Vorübergehenden, ἁβρῶς βαίνοντες διὰ λαμπροτάτου αἰθέρος, [62] wie ein neues Wirksames in ihr Leben gekommen war, und träumerisch oder mit einem Gefühl seltsamer und belebender Freude gingen sie nach Hause oder zur Alltagsarbeit oder spazierten vielleicht durch die Stadttore zu der Feenwiese, wo der junge Phaedrus die Füße badete und im weichen Gras, unter den hohen im Winde flüsternden Platanen und dem blühenden Keuschbaum gelagert, an das Wunder der Schönheit zu denken anfing und in ungewohntem Schauder stille wurde. In jenen Tagen war der Künstler frei. Im Flußtal nahm er den zarten Ton in die Hände und formte ihn mit einem Stückchen Holz oder Knochen zu so entzückenden Gestalten, daß die Menschen sie ihren Toten als Spielzeug mitgaben, und wir finden sie noch im Staub der Gräber auf den gelben Berghängen bei Tanagra, und das verblichene Gold und ein Schein von Karmin weilt noch auf Haaren und Lippen und Gewändern. Auf den frischen Bewurf einer Wand, der mit glänzendem Sandix bemalt oder mit Milch und Safran gemengt war, malte er eine Gestalt, die mit müden Füßen durch die purpurnen, mit weißen Sternen besäten Asphodelosfelder schritt, eine Gestalt, „auf deren Brauen der ganze trojanische Krieg lag“: Polyxena, die Tochter des Priamus; oder er stellte Odysseus dar, den weisen, verschlagenen, wie er mit festen Stricken an den Mastbaum gebunden ist, damit er ohne Schaden dem Gesang der Sirenen lauschen kann, oder wie er am Ufer des durchsichtigen Acheron wandelt und die Seelen der Fische über den Kieselgrund schwimmen sieht; oder er malte die Perser, wie sie in ihren kurzen Hosen und mit der Mitra angetan bei Marathon vor den Griechen flohen, oder die Ruderschiffe, die in der kleinen Bucht von Salamis mit ihren erzenen Schiffsschnäbeln hell [63] aneinander stießen. Er zeichnete mit Silberstift und Kohle auf Pergament und präpariertem Zedernholz. Er machte das Wachs mit Olivensaft flüssig, malte mit ihm auf Elfenbein und rosenfarbener Terrakotta und machte es mit heißem Eisen wieder fest. Holztafeln und Marmor und Leinwand erstrahlten im Wunder der Schönheit, wenn sein Pinsel darüber fuhr; und das Leben, das sein eigenes Bildnis sah, war still und wagte nicht zu reden. Alles Leben fürwahr gehörte ihm, von den Händlern, die auf dem Marktplatz saßen, bis zu dem Schäfer, der in einen Mantel gehüllt auf dem Berge lag; von der Nymphe, die im Lorbeergebüsch verborgen lag, und dem Faun, der des Mittags auf dem Rohre bläst, bis zu dem König, den in langgestreckter, mit grünen Gardinen behangener Sänfte Sklaven auf ölglänzenden Schultern trugen und mit Pfauenfedern fächelten. Männer und Frauen, mit Lust oder Schmerz im Antlitz, wandelten an ihm vorüber. Er schaute auf sie, und ihr Geheimnis wurde seines. Durch Form und Farbe schuf er eine neue Welt.

Und ebenso gehörten ihm alle kleineren Künste. Er bearbeitete die Gemme mit der Drehscheibe, und aus dem Amethyst wurde das Purpurbett des Adonis, und durch den geäderten Sardonyx jagte Artemis mit ihrer Meute. Er schlug das Gold zu Rosen und reihte sie zu Halsbändern oder Armspangen. Er schlug das Gold zu Kranzgewinden für den Helm des Eroberers oder zu Palmblättern für das tyrische Gewand, oder zu Masken für die Toten königlichen Geschlechts. Auf die Rückseite des silbernen Spiegels grub er Thetis, getragen von ihren Nereiden, oder die liebeskranke Phaedra mit ihrer Amme, oder Persephone, die der Erinnerung müde ist, mit Mohnblüten im Haar. Der Töpfer saß in seinem [64] Schuppen, und wie eine Blüte formte sich unter seinen Händen aus dem stillen Sausen der Scheibe die Vase. Er zierte sie oben und unten und an den Henkeln mit schmuckem Olivenlaub oder Akanthusblättern oder mit den Bögen und Kämmen der Wellen. Dann malte er schwarz oder rot Jünglinge im Ringkampf oder im Wettlauf; Ritter in voller Rüstung, mit seltsamen Wappenschildern und absonderlichen Visieren, die sich aus der Muschel des Wagens zu den bäumenden Rossen vorbogen; die Götter beim Schmause oder dem Werk ihrer Wunder; die Helden im Sieg oder der Mühsal. Manchmal ätzte er in dünnen Scharlachlinien auf weißem Grund den verlangenden Bräutigam und die Braut und den Eros, der sie umschwebt – einen Eros wie einer von Donatellos Engeln, ein kleiner lachender Kerl mit goldenen oder himmelblauen Flügeln. Auf die innere Seite schrieb er wohl den Namen seines Freundes. ΚΑΛΟΣ ΑΛΚΙΒΙΑΔΗΣ oder ΚΑΛΟΣ ΧΑΡΜΙΔΗΣ sagt uns die Geschichte seiner Tage. Und wiederum zeichnete er auf den Rand der großen flachen Schale den äsenden Hirsch oder den ruhenden Löwen, wie ihm die Laune stand. Auf der kleinen Parfümflasche sah man die lachende Aphrodite bei der Toilette, und Dionysos tanzte, gefolgt von Mänaden mit nackten Beinen, um den Weinkrug auf nackten, mostbeschäumten Füßen, während satyrgleich der alte Silen sich auf den geblähten Weinschläuchen wälzte oder die magische Lanze schüttelte, die an der Spitze einen durchbrochenen Tannzapfen hatte und von dunklem Efeu umflochten war. Und es unterfing sich niemand, den Künstler bei seinem Werke zu stören. Kein unverantwortliches Geplapper störte ihn. Von keinen Meinungen wurde er gequält. Am Ilyssus, sagt Arnold einmal, gab [65] es keinen Higginbotham. Am Ilyssus, lieber Gilbert, gab es keine albernen Kunstkongresse, die den Provinzialismus in die Provinzen bringen und die Mittelmäßigkeit lehren, wie sie das Maul bewegen sollen. Am Ilyssus gab es keine öden Kunstzeitschriften, in denen die Betriebsamen beschwatzen, was sie nicht verstehen. Am schilfbewachsenen Ufer dieses Flüßchens spreizte sich kein lächerlicher Journalismus, der den Richterstuhl beansprucht, während er auf die Anklagebank gehört. Die Griechen hatten keine Kunstkritiker.

Gilbert: Ernst, du bist ganz entzückend, aber deine Ansichten sind furchtbar ungesund. Ich fürchte, du hast jemandem zugehört, der älter ist als du. Das ist immer eine gefährliche Sache, und wenn es in eine Gewohnheit ausartet, wirst du selbst merken, daß es der Ausbildung des Geistes geradezu verhängnisvoll wird. Den Journalismus unserer Zeit zu verteidigen, ist freilich nicht meines Amtes. Er rechtfertigt sein eigenes Dasein durch das große darwinistische Gesetz vom Überleben des Gemeinsten. Ich habe nur mit der Literatur etwas zu schaffen.

Ernst: Aber was ist für ein Unterschied zwischen Journalismus und Literatur?

Gilbert: O! was die Journalisten schreiben, kann man nicht lesen, und die Literatur wird nicht gelesen. Das ist alles. Aber deine Behauptung, die Griechen hätten keine Kunstkritiker gehabt, ist völlig absurd. Es wäre richtiger zu sagen, die Griechen seien ein Volk von Kunstkritikern gewesen.

Ernst: Wirklich?

Gilbert: Jawohl, ein Volk von Kunstkritikern. Aber ich will das entzückend unrichtige Gemälde von der Beziehung des hellenischen Künstlers zum Geist seiner [66] Zeit, das du entworfen hast, nicht zerstören. Einen genauen Bericht von dem zu geben, was sich nie begeben hat, ist nicht nur die eigentliche Beschäftigung des Historikers, sondern das unveräußerliche Privileg jedes Menschen von Gaben und Kultur. Noch weniger begehre ich gelehrtenhaft zu reden. Gelehrte Gespräche zu führen ist entweder Heuchelei der Ungebildeten oder Beruf der geistig Arbeitslosen. Und übrigens, was man Bildungsvorträge und Debatten nennt, das ist nur die närrische Methode der noch närrischeren Philanthropen, mit der sie den schwächlichen Versuch machen, den gerechten Groll der Verbrecherklassen zu entwaffnen. Nein: ich will dir ein tolles, feuerfarbenes Stück von Dvorák spielen. Die blassen Gestalten des Gobelins lächeln uns zu und die schweren Lider meines bronzenen Narcissus fallen in Schlaf. Wir wollen in dieser Stunde nichts feierlich debattieren. Ich bin mir nur zu sehr der Tatsache bewußt, daß wir in einer Zeit geboren sind, wo nur die Dummköpfe ernst genommen werden, und ich lebe immer in Angst, nicht mißverstanden zu werden. Bring mich nicht in die beschämende Lage, dich etwas Nützliches zu lehren. Erziehung ist eine schöne Sache, aber es ist gut, von Zeit zu Zeit daran zu denken, daß nichts wert ist, gewußt zu werden, das gelehrt werden kann. Durch die geteilten Vorhänge hier am Fenster sehe ich den Mond wie ein abgeschnittenes Stück Silber. Wie goldene Bienen schwärmen die Sterne um ihn. Der Himmel ist ein fester gewölbter Saphir. Wir wollen in die Nacht spazieren gehn. Denken ist herrlich, aber das Abenteuer ist noch herrlicher. Wer weiß, ob wir nicht den Prinzen Florizel von Böhmen treffen, oder ob uns nicht die schöne Kubanerin sagt, sie sei nicht, was sie scheint?

[67] Ernst: Du bist schrecklich launisch. Ich bestehe darauf, daß du über diese Sache mit mir sprichst. Du sagtest, die Griechen seien ein Volk von Kunstkritikern. Was für eine Kunstkritik haben sie uns hinterlassen?

Gilbert: Mein lieber Ernst, selbst wenn kein einziges Fragment von Kunstkritik aus den Tagen von Hellas oder des Hellenismus auf uns gekommen wäre, wäre es trotzdem wahr, daß die Griechen ein Volk von Kunstkritikern waren, und daß sie die Kritik der Kunst genau so erfunden haben, wie überhaupt die Kritik jedweder Art. Denn, alles in allem, was ist das erste, was wir den Griechen verdanken? Eben wovon ich spreche: den kritischen Geist. Und diesen Geist, den sie in den Fragen der Religion und der Wissenschaft, der Ethik und Metaphysik, der Politik und Erziehung übten, wandten sie ebenso auf die Fragen der Kunst an, und in der Tat haben sie uns für die zwei bedeutendsten und höchsten Künste das untadeligste System der Kritik hinterlassen, das die Welt je gesehen hat.

Ernst: Und welches sind die zwei bedeutendsten und höchsten Künste?

Gilbert: Das Leben und die Literatur, das Leben und der vollkommene Ausdruck des Lebens. Die Prinzipien des erstern, wie sie von den Griechen aufgestellt wurden, können wir in einem Zeitalter wie dem unsern, das so von falschen Idealen verzerrt ist, nicht verwirklichen. Die Prinzipien der letztern, wie sie sie aufstellten, sind in vielen Fällen so fein, daß wir sie kaum verstehen können. Da sie erkannten, daß die vollendete Kunst die ist, die am völligsten den Menschen in all seiner unendlichen Vielfältigkeit spiegelt, arbeiteten sie die Kritik der Sprache, der Sprache lediglich als Rohmaterial dieser Kunst, bis zu einem Grade aus, zu dem wir, mit unserm Betonungssystem [68] vernünftiger oder gefühliger Pathetik, ihnen nur schwer oder gar nicht folgen können; so zum Beispiel erforschten sie die metrische Bewegung einer Prosa so wissenschaftlich exakt, wie ein moderner Musiker Harmonie und Kontrapunkt erforscht, und, ich brauche es kaum zu sagen, mit viel schärferem ästhetischen Instinkt. Darin waren sie wie überall auf dem richtigen Wege. Seit der Einführung des Buchdrucks und dem verhängnisvollen Aufschwung der Gewohnheit des Lesens in den mittleren und unteren Klassen unseres Landes gab es in der Literatur eine Tendenz, mehr und mehr sich ans Auge und immer weniger sich ans Ohr zu wenden, und doch ist in Wahrheit, vom Standpunkt reiner Kunst, das Ohr das Sinnesorgan, das die Literatur erfreuen sollte, und nach dessen Bedingungen sie sich immer richten sollte. Selbst die Schriften Walter Paters, der im ganzen der vollendetste Meister englischer Prosa ist, der jetzt unter uns weilt, gleichen oft viel mehr einem Mosaikstück als einem Musikstück und scheinen hie und da das wahre rhythmische Leben der Worte und die schöne Freiheit und den Reichtum der Wirkung zu entbehren, die so ein rhythmisches Leben hervorbringt. Wir haben in der Tat aus dem Schreiben eine bestimmte Kompositionsart gemacht und behandeln es als eine besondere Form der Ausarbeitung. Die Griechen dagegen betrachteten das Schreiben lediglich als eine Art Aufzeichnung. Ihr Prüfstein war immer das gesprochene Wort in seinen musikalischen und metrischen Beziehungen. Die Stimme war das Medium und das Ohr Kritiker. Ich dachte manchmal, die Geschichte von Homers Blindheit könnte wirklich ein künstlerischer Mythos sein, der in kritischen Tagen gebildet wurde und dazu diente, uns nicht vergessen zu lassen, nicht [69] nur, daß der große Dichter immer ein Seher ist, der weniger mit den Augen des Körpers als mit den Augen der Seele sieht, sondern daß er auch in Wahrheit ein Sänger ist, der seinen Gesang aus der Musik aufbaut, der jede Zeile sich selber wieder und wieder wiederholt, bis er das Geheimnis ihrer Melodie erfaßt hat; der in der Dunkelheit die Worte singt, die vom Lichte beflügelt sind. Ob dies so ist oder nicht, die Blindheit war der Anlaß, wenn nicht die Ursache, der Englands größter Poet viel von dem majestätischen Flusse und dem klingenden Glanze seiner späteren Verse verdankt. Als Milton nicht mehr schreiben konnte, fing er zu singen an. Wer wollte die Metren des „Comus“ denen des „Samson Agonistes“ gleichstellen oder das „Verlorene Paradies“ dem Fluß der Verse im „Wiedergewonnenen Paradies“? Als Milton blind geworden war, komponierte er, wie jeder komponieren sollte, nur mit der Stimme, und so verwandelte sich die Pfeife oder das Rohr früherer Tage in die mächtige Orgel mit den vielen Registern, deren reiche rauschende Musik all die Pracht des homerischen Verses hat, wenn sie nicht seinen geschwinden Fluß zu haben sucht, und das eine unvergängliche Erbe der englischen Literatur ist, das durch alle Jahrhunderte hindurchgeht, weil es über ihnen steht, und das immer bei uns bleibt, weil es in seiner Form unsterblich ist. Ja fürwahr: das Schreiben hat den Schriftstellern viel Schaden getan. Wir müssen zur Stimme zurückkehren. Das muß unser Prüfstein sein, und vielleicht werden wir dann imstande sein, einige der Subtilitäten der griechischen Kunstkritik zu verstehen.

Wie es jetzt steht, können wir es nicht. Manchmal, wenn ich ein Stück Prosa geschrieben habe, das ich in meiner Bescheidenheit für völlig untadelhaft halte, kommt [70] der schreckliche Gedanke über mich, ich könne mich der unmoralischen Weibischkeit schuldig gemacht haben, trochäische und tribrachische Rhythmen zu benutzen, um welchen Verbrechens willen ein gelehrter Kritiker des Augusteischen Zeitalters mit sehr gerechter Strenge den glänzenden, wenn schon etwas paradoxen Hegesias tadelt. Mich überläuft es kalt, wenn ich daran denke, und ich fürchte im stillen, der prachtvolle sittliche Einfluß der Prosa des entzückenden Autors, der einmal in einer Stunde sorgloser Nachsicht gegen den ungebildeten Teil unserer Gesellschaft die ungeheuerliche Lehre verkündet hat, das Benehmen sei drei Viertel des Lebens, könne eines Tages gänzlich vernichtet werden, wenn man die Entdeckung macht, seine Päone seien falsch gebaut.

Ernst: Ah! Jetzt bist du ins Reden gekommen!

Gilbert: Wer wollte nicht ins Reden kommen, wenn man ihm im Ernst sagt, die Griechen hätten keine Kunstkritiker gehabt? Ich kann es verstehen, wenn jemand sagt, der konstruktive Geist der Griechen habe sich in Kritik verloren, aber nicht, wenn er sagt, das Volk, dem wir den kritischen Geist verdanken, habe keine Kritiker gehabt. Du wirst nicht verlangen, daß ich dir einen Überblick über die griechische Kunstkritik von Platon bis Plotin gebe. Es ist ein zu schöner Abend dafür, und wenn uns der Mond hörte, würde sein Antlitz aschenhafter werden als es jetzt ist. Aber denk nur an ein einziges kleines Werk ästhetischer Kritik, Aristoteles’ Abhandlung über die Poesie. Sie ist in der Form nicht vollendet, denn sie ist schlecht geschrieben und besteht vielleicht aus Notizen, die für einen Vortrag rasch hingeworfen sind, oder aus vereinzelten Bruchstücken, die für ein größeres Buch bestimmt waren, [71] aber im Charakter und der Behandlung ist sie ganz und gar vollendet. Die sittliche Wirkung der Kunst, ihre Bedeutung für die Kultur und ihr Wert für die Charakterbildung war ein für allemal von Platon erledigt worden; hier aber sehen wir die Kunst nicht vom moralischen, sondern vom rein ästhetischen Standpunkt aus behandelt. Platon hatte sich natürlich schon mit vielen ausgesprochen künstlerischen Seiten beschäftigt, wie zum Beispiel der Bedeutung der Einheit in einem Kunstwerk, der Notwendigkeit des einheitlichen Tons und der Harmonie, dem ästhetischen Wert der Geistererscheinungen, der Beziehung der sichtbaren Künste zur äußeren Welt und der Dichtung zur Tatsache. Er war es, der zuerst in der Menschenseele das Verlangen erweckte, das wir noch jetzt nicht befriedigt haben, das Verlangen, den Zusammenhang zwischen Schönheit und Wahrheit und den Platz kennen zu lernen, den die Schönheit in der moralischen und geistigen Ordnung des Kosmos einnimmt. Die Probleme des Idealismus und Realismus, so wie er sie hinstellt, mögen manchem in der metaphysischen Sphäre des absoluten Seins, in die er sie hineinbringt, einigermaßen unfruchtbar vorkommen, aber man übertrage sie in das Bereich der Kunst, und man wird finden, daß sie noch voller Leben und Bedeutung sind. Es kann sein, daß Platon bestimmt ist, als Kritiker der Schönheit zu leben, und daß wir, wenn wir den Namen des Bereichs seiner Spekulation ändern, eine neue Philosophie finden. Aristoteles dagegen beschäftigt sich wie Goethe mit der Kunst vorwiegend in ihren konkreten Formen, und er nimmt zum Beispiel die Tragödie und untersucht das Material, dessen sie sich bedient, nämlich die Sprache, ihren Gegenstand, nämlich das Leben, ihre besondere Darstellungsart, [72] nämlich die Handlung, die Bedingungen, unter denen sie sich kundgibt, nämlich die der theatralischen Aufführung, ihren logischen Aufbau, nämlich die Form des Knotens, und ihre schließliche ästhetische Bestimmung, die an den Schönheitssinn sich wendet und sich verwirklicht durch die Affekte des Mitleids und der Furcht. Die Reinigung und Vergeistigung der Natur, die er Katharsis nennt, ist, wie Goethe gesehen hat, in ihrem Wesen ästhetischer Art, und nicht, wie Lessing wähnte, moralischer. Aristoteles befaßt sich in erster Linie mit dem Eindruck, den das Kunstwerk hervorbringt, und geht daran, diesen Eindruck zu analysieren, ihn zu seinem Ursprung zu verfolgen, zuzusehen, wie er erzeugt wurde. Als Physiolog und Psycholog weiß er, daß die Gesundheit einer Funktion auf der Energie beruht. Die Anlage zu einem Affekt haben und ihn nicht in die Wirklichkeit bringen, heißt, sich selbst unvollkommen machen und beschränken. Das mimische Schauspiel des Lebens, das die Tragödie bietet, befreit die Brust von manch „gefährlichem Stoff“ und reinigt und vergeistigt den Menschen dadurch, daß hohe und würdige Gegenstände für die Erregung der Gefühle sich darbieten; ja, es vergeistigt ihn nicht nur, sondern es weiht ihn auch in edle Empfindungen ein, von denen er sonst nichts gewußt hätte, wenigstens ist es mir oft so vorgekommen, als enthalte das Wort Katharsis eine entschiedene Anspielung auf solchen Einweihungsritus, wenn nicht Einweihung, wie ich manchmal versucht bin zu glauben oder zu träumen, hier die wahre und einzige Bedeutung des Wortes ist. Was ich hier sage, ist natürlich nur eine flüchtige Skizze des Buches. Aber du siehst, was für ein vollkommenes Stück ästhetischer Kritik es ist. Wer wahrlich außer einem Griechen hätte die Kunst so [73] trefflich analysieren können? Wenn man dies Buch gelesen hat, wundert man sich nicht mehr, daß die Kunstkritik in Alexandria eine so mächtige Rolle gespielt hat, und daß wir sehen, wie da die künstlerischen Naturen der Zeit jede Frage des Stils und der Manier untersuchen, wie sie zum Beispiel die großen akademischen Schulen in der Malerei besprechen, wie die Schule von Sikyon, die die würdevollen Traditionen des antiken Stils erhalten wollte, oder die realistischen und impressionistischen Schulen, die das tatsächliche Leben nachbilden wollten, oder die idealistischen Elemente im Porträt oder den künstlerischen Wert, den die epische Form in einer so modernen Zeit, wie ihre war, beanspruchen konnte, oder den eigentlich geeigneten Gegenstand für die künstlerische Behandlung. Ja, ich fürchte sogar, auch die unkünstlerischen Naturen der Zeit beschäftigten sich mit den Dingen der Literatur und Kunst, denn endlos waren die Beschuldigungen des Plagiats, und solche Beschuldigungen werden entweder von den dünnen, blutlosen Lippen der Impotenz ausgesprochen, oder sie entstammen dem grotesken Mund solcher, die nichts Eigenes besitzen, und wähnen, sie erlangten den Ruf, etwas zu haben, wenn sie schreien, man habe sie bestohlen. Und ich versichere dich, lieber Ernst, die Griechen schwatzten genau soviel wie die Menschen heutzutage über Bilder und Maler, und sie hatten ihre Kunstsalons und populären Ausstellungen, und Künstlerbünde, und präraphaelitische Bewegungen, und realistische Richtungen, und sie hielten Vorträge über Kunst und schrieben Kunstessays und hatten ihre Kunsthistoriker und ihre Archäologen und alles miteinander. Ja, die Impresarios von Wandertruppen nahmen sogar ihre Theaterkritiker mit auf die Reise und zahlten [74] ihnen sehr stattliche Gehälter für die Abfassung lobender Notizen. Alles, was in unserm Leben modern ist, verdanken wir den Griechen. Alles, was ein Anachronismus ist, verdanken wir dem Mittelalter. Die Griechen sind es, die uns das ganze System der Kunstkritik gegeben haben, und wie fein ihr kritischer Instinkt war, kann aus der Tatsache ersehen werden, daß das Material, das sie besonders eingehend kritisierten, wie ich schon sagte, die Sprache war. Denn das Material, das der Maler oder Bildhauer benutzt, ist mager im Vergleich mit dem der Worte. Die Worte haben nicht nur Musik, die süß ist, wie die der Bratsche und Laute, Farbe, die so reich und lebendig ist wie die, die uns die Leinwand der Venezianer oder Spanier so schön macht, und plastische Form, die nicht weniger fest und bestimmt ist wie die, die sich in Marmor oder Bronze offenbart, sondern ihnen eignet auch Gedanke und Leidenschaft und Geistigkeit, und ihnen einzig und allein. Wenn die Griechen nichts als die Sprache kritisiert hätten, wären sie schon darum die großen Kunstkritiker der Welt. Wer die Prinzipien der höchsten Kunst kennt, kennt die Prinzipien jeder Kunst.

Aber ich sehe, der Mond verbirgt sich hinter einer schwefelfarbenen Wolke. Aus einer wettergelben Wolkenmähne glüht er wie das Auge eines Löwen. Er hat Angst, ich könnte dir auch noch von Lucian und Longinus, von Quinctilian und Dionysius, von Plinius und Fronto und Pausanias sprechen, von all den vielen, die in der antiken Welt über Dinge der Kunst schrieben oder redeten. Er kann sich beruhigen. Ich bin müde von meinem Ausflug in den trübseligen, öden Abgrund der Tatsachen. Mir bleibt nichts anderes übrig als die göttliche μονόχρονος ἡδονή einer frischen Zigarette. Zigaretten [75] haben wenigstens den Reiz, einen unbefriedigt zu lassen.

Ernst: Versuch eine von meinen. Sie sind recht gut. Ich bekomme sie direkt von Kairo. Der einzige Nutzen unserer Attachés ist, daß sie ihre Freunde mit trefflichem Tabak versorgen. Und wenn sich der Mond versteckt hat, wollen wir noch etwas weiter reden. Ich gebe bereitwillig zu, daß ich mit dem, was ich über die Griechen sagte, im Unrecht war. Sie waren, wie du betontest, ein Volk von Kunstkritikern. Ich erkenne es an, aber es stimmt mich etwas traurig für sie. Denn die schöpferische Gabe steht höher als die kritische. Es gibt wirklich keinen Vergleich zwischen ihnen.

Gilbert: Die Gegenüberstellung der beiden ist ganz willkürlich. Ohne die Gabe der Kritik gibt es überhaupt kein künstlerisches Schaffen, das den Namen verdient. Vorhin sprachst du von dem schönen Geist der Komposition und dem ungemein sicheren Sinn für Auswahl, durch den der Künstler uns das Leben vergegenwärtigt und ihm seine momentane Vollendung gibt. Nun, dieser Geist der Komposition, dieser genaue Takt des Weglassens ist in der Tat die Gabe der Kritik in einer ihrer charakteristischsten Formen, und wer nicht diese Gabe der Kritik besitzt, kann überhaupt nichts Künstlerisches schaffen. Arnolds Definition der Literatur als Kritik des Lebens war nicht sehr glücklich in der Form, aber sie zeigt, wie scharf er die Bedeutung des kritischen Elements in allen schöpferischen Werken erfaßt hatte.

Ernst: Ich dachte, die großen Künstler arbeiteten unbewußt, sie seien „weiser als sie wissen“, wie, glaube ich, Emerson einmal sagt.

Gilbert: Es ist wirklich nicht so, Ernst. Jedes echte Werk der Phantasie ist bewußt und überlegt. Kein [76] Dichter singt, weil er singen muß. Wenigstens, kein großer Dichter tut es. Ein großer Dichter singt, weil er singen will. Es ist jetzt so, und ist immer so gewesen. Wir sind manchmal geneigt anzunehmen, die Stimmen, die im ersten Beginn der Poesie erklangen, seien einfacher, frischer und natürlicher gewesen als unsere, und die Welt, auf die die ersten Dichter blickten und durch die sie wandelten, hätte an sich selbst eine Art poetische Eigenschaft gehabt und hätte fast ohne Veränderung in Gesang übergehen können. Jetzt liegt dichter Schnee auf dem Olymp, und seine schroffen, steilen Hänge sind öde und unfruchtbar, aber einst, so träumen wir, streiften die weißen Füße der Musen den Morgentau von den Anemonen, und am Abend kam Apollon und sang den Hirten des Tales. Aber damit leihen wir nur andern Zeiten, was wir für unsere eigene wünschen oder zu wünschen glauben. Unser historischer Sinn ist im Irrtum. Jedes Jahrhundert, das Poesie hervorbringt, ist insofern ein künstlerisches Jahrhundert, und das Werk, das uns das natürlichste und einfachste Produkt seiner Zeit scheint, ist immer das Ergebnis der bewußtesten Leistung. Glaube mir, Ernst, es gibt keine schöne Kunst ohne Bewußtheit, und Bewußtheit und kritischer Geist sind eins.

Ernst: Ich verstehe, was du meinst, und es ist viel daran. Aber gewiß müßtest du zugeben, daß die großen Gedichte der Vorzeit, die primitiven, anonymen Gesamtheitsdichtungen, mehr aus der Phantasie von Völkern als von Individuen hervorgingen?

Gilbert: Nicht als sie Dichtung wurden. Nicht als sie eine schöne Form erhielten. Denn es gibt keine Kunst, wo nicht Stil ist, und keinen Stil, wo nicht Einheit ist, und Einheit schafft das Individuum. Ohne Zweifel hatte [77] Homer alte Balladen und Erzählungen vor sich, wie Shakespeare Chroniken und Stücke und Novellen hatte, nach denen er arbeitete, aber sie waren nur sein Rohmaterial. Er nahm sie und formte sie zu Gesang. Sie wurden sein eigen, weil er ihnen seine Schönheit gab. Sie wurden aus Musik gebaut,

          und also nicht gebaut,
     und doch gebaut für immer.

Je länger man Leben und Literatur erforscht, um so stärker fühlt man, daß hinter allem Herrlichen das Individuum steht, und daß nicht der Zeitpunkt den Menschen bildet, sondern daß es der Mensch ist, der die Zeit schafft. Wirklich bin ich geneigt zu denken, daß jede Mythe und Legende, die nur aus dem Staunen oder Schrecken oder der Phantasie eines Stammes oder Volkes zu entspringen scheint, in ihrem Ursprung die Erfindung eines einzelnen Geistes war. Die erstaunlich kleine Zahl der Mythen, scheint mir, drängt zu diesem Schlusse. Aber wir wollen nicht zu Fragen der vergleichenden Mythologie abschweifen. Bleiben wir bei der Kritik. Was ich dartun will, ist folgendes. Eine Zeit, die keine Kritik hat, ist entweder eine Zeit, in der die Kunst unbeweglich, hieratisch und auf die Wiedergabe formeller Typen beschränkt ist, oder eine Zeit, die überhaupt keine Kunst besitzt. Es hat Zeiten der Kritik gegeben, die nicht im gewöhnlichen Sinn des Wortes schöpferisch waren, Zeiten, in denen der Menschengeist die Schätze seiner Schatzkammer zu ordnen suchte, das Gold vom Silber und das Silber vom Blei zu trennen suchte, seine Edelsteine zählte und den Perlen Namen gab. Aber nie hat es eine schöpferische Zeit gegeben, die nicht auch kritisch war. Denn die Erfindung neuer Formen ist Sache der kritischen Anlage. Die Tendenz [78] der Schaffenskraft ist, sich selbst zu wiederholen. Dem kritischen Trieb dagegen verdanken wir jede neue Richtung, die ersteht, jede neue Form, die die Kunst fertig vorfindet, sie auszufüllen. In Wahrheit gibt es keine einzige Form unter denen, deren sich die Kunst heute bedient, die nicht von dem kritischen Geiste Alexandrias her zu uns gekommen ist, wo diese Formen entweder stereotyp gemacht oder erfunden oder vollendet wurden. Ich sage Alexandria, nicht bloß, weil da der griechische Geist seine größte Bewußtheit erlangte und in der Tat schließlich in Skeptizismus und Theologie zugrunde ging, sondern weil Rom aus dieser Stadt, nicht aber aus Athen seine Vorbilder holte, und durch das freilich verderbte Weiterleben der lateinischen Sprache blieb die Kultur überhaupt lebendig. Als in der Renaissance die griechische Literatur in Europa auferstand, war der Boden für sie einigermaßen vorbereitet. Aber sehen wir von den Einzelheiten der Geschichte ab, die immer langweilig und meistens ungenau sind, sagen wir vielmehr im allgemeinen, daß wir die Formen der Kunst dem griechischen Geist der Kritik verdanken. Ihm verdanken wir das Epos, die Lyrik, das ganze Drama in jeder einzelnen Gestalt, die Burleske nicht ausgeschlossen, das Idyll, den romantischen Roman und den Abenteurerroman, den Essay, den Dialog, die Rede, den belehrenden Vortrag – den wir ihnen vielleicht nicht verzeihen sollten – und das Epigramm in der weiten Bedeutung des Wortes. Wirklich, wir verdanken ihm alles, außer dem Sonett, zu dem man aber in der Anthologie einige bemerkenswerte Parallelen hinsichtlich des Aufbaus der Gedanken verfolgen könnte, dem amerikanischen Journalismus, zu dem nirgends eine Parallele gefunden werden kann, und der Ballade im pseudoschottischen Dialekt, [79] die nach dem Vorschlag eines unserer betriebsamsten Schriftsteller der Ausgangspunkt einer endgültigen und einmütigen Bewegung unter unsern Poeten zweiten Ranges werden soll, um ihnen dazu zu verhelfen, richtige Romantiker zu werden. Jede neue Richtung schreit bei ihrem Auftreten gegen die Kritik, aber sie verdankt ihre Entstehung der kritischen Anlage des Menschen. Der bloß schöpferische Trieb erneuert nicht, sondern wiederholt.

Ernst: Du nimmst die Kritik als wesentlichen Teil des schöpferischen Geistes, und ich akzeptiere jetzt deine Theorie ganz und gar. Aber was ist von der Kritik jenseits des Schaffens zu sagen! Ich habe die Gewohnheit, Zeitschriften zu lesen, und mir scheint, die meiste Kritik unserer Zeit ist völlig wertlos.

Gilbert: Genau das gilt auch von den Hervorbringungen unserer Zeit. Die Mittelmäßigkeit wiegt die Mittelmäßigkeit und hält ihr das Gleichgewicht, und die Unfähigkeit klatscht der Unfähigkeit zu – das ist das Schauspiel, das uns die künstlerische Betätigung von Zeit zu Zeit bietet. Und doch habe ich das Gefühl, das ein bißchen ungerecht ausgedrückt zu haben. In der Regel stehen die Kritiker – ich spreche natürlich von den besseren, das heißt von denen, die für die billigeren Blätter schreiben – geistig viel höher als die Menschen, deren Werke sie zu rezensieren haben. Auch ist von vornherein nichts anderes zu erwarten, denn die Kritik verlangt unendlich mehr Bildung als das Schaffen.

Ernst: Wirklich?

Gilbert: Ganz gewiß. Jeder Mensch kann einen dreibändigen Roman schreiben. Dazu bedarf es nur einer völligen Unkenntnis des Lebens und der Literatur. Die Schwierigkeit, die nach meiner Idee der Rezensent [80] empfinden muß, ist, irgend einen Maßstab anzulegen. Wo kein Stil ist, ist jeder Maßstab unmöglich. Die armen Rezensenten müssen sich offenbar herbeilassen, die Gerichtsberichterstatter der Literatur zu spielen, die Reporter der Taten, die sich die Gewohnheitsverbrechen in der Kunst leisten. Man hat manchmal gesagt, sie läsen die Werke nicht, die sie besprechen. So ist es. Oder so sollte es wenigstens sein. Wenn sie sie ganz und gar läsen, würden sie zeit ihres Lebens vollendete Misanthrope oder wenigstens Weibanthrope, wie jüngst ein nettes Fräulein Doktor so lieblich gesagt hat. Es ist auch nicht nötig. Um die Qualität und den Jahrgang eines Weines zu prüfen, braucht man nicht das ganze Faß auszutrinken. Es muß ganz leicht sein, in einer halben Stunde zu sagen, ob ein Buch etwas taugt oder nicht. In Wahrheit genügen zehn Minuten, wenn jemand den Instinkt für Form hat. Wer braucht durch ein dummes Buch zu waten? Man kostet es, und das ist völlig genug – mehr als genug, sollte ich meinen. Ich bemerke, daß es in der Malerei ebenso wie in der Literatur viele ehrenwerte Handwerker gibt, die sich gegen jede Kritik wenden. Sie haben völlig recht. Ihre Hervorbringungen stehen in keinerlei geistigem Verhältnis zu ihrer Zeit. Sie gewähren uns kein neues Element der Freude. Sie bringen keinen neuen Aufschwung des Denkens oder der Gefühle oder der Schönheit hervor. Man sollte nicht davon reden. Sie sollten der Vergessenheit gelassen werden, die sie verdienen.

Ernst: Aber, Liebster – entschuldige, daß ich dich unterbreche – mir scheint, deine Leidenschaft für die Kritik führt dich unerlaubt weit. Denn alles in allem mußt doch auch du zugeben, daß es schwerer ist, eine Sache zu machen, als über sie zu reden?

[81] Gilbert: Schwerer, eine Sache zu machen, als über sie zu reden? Nicht im geringsten. Das ist ein grober und weit verbreiteter Irrtum. Es ist sehr viel schwerer, über eine Sache zu reden, als sie zu machen. Im Bezirke des wirklichen Lebens ist das natürlich selbstverständlich. Jedermann kann Geschichte machen. Nur ein großer Mann kann sie schreiben. Es gibt keine Art des Handelns, keine Form der Empfindung, die wir nicht mit den niederen Tieren teilen. Nur durch die Sprache erheben wir uns über sie oder über einander – durch die Sprache, die die Mutter, nicht das Kind des Denkens ist. Das Tun ist in Wahrheit immer leicht, und wenn es sich uns in seiner schwersten, weil dauerndsten Form bietet – das ist nach meiner Beobachtung die Industrie – so wird es lediglich die Zuflucht von Menschen, die nicht das geringste zu tun haben. Nein, Ernst, rede nicht vom Tun. Das ist ein blindes Ding, das von äußeren Einflüssen bestimmt und von einem Trieb bewegt wird, dessen Natur ihm nicht bewußt ist. Das Tun ist etwas wesenhaft Unvollkommenes, weil es durch den Zufall eingeschränkt wird, und es kennt seinen Weg nicht, weil es immer von seinem Ziele abweicht. Seine Grundlage ist Mangel an Phantasie. Das Tun ist die letzte Zuflucht derer, die nicht zu träumen verstehen.

Ernst: Gilbert, du behandelst die Welt, als ob sie eine kristallene Kugel wäre. Du hältst sie in der Hand und drehst sie einer willkürlichen Laune zu Gefallen um. Du tust nichts, als die Geschichte neu schreiben.

Gilbert: Das eine sind wir der Geschichte schuldig: sie neu zu schreiben. Das ist nicht die geringste unter den Aufgaben, die der kritischen Geister warten. Wenn wir die Naturgesetze, die das Leben beherrschen, ganz entdeckt haben, werden wir gewahren: es gibt eine Person, [82] die mehr Illusionen hat als der Träumer, nämlich der Mann der Tat. Er kennt wahrhaftig weder den Ursprung seiner Taten noch ihr Ziel. Von dem Acker, auf den er Dornen gesät zu haben glaubte, haben wir unsere Trauben geerntet, und der Feigenbaum, den er zu unserm Genuß gepflanzt hat, ist so unfruchtbar wie die Distel. Darum, weil die Menschheit nie gewußt hat, wohin sie ging, hat sie ihren Weg finden können.

Ernst: Du meinst also, ein bewußtes Ziel im Reiche des Tuns sei eine Täuschung?

Gilbert: Es ist Schlimmeres als eine Täuschung. Wenn wir so lange lebten, daß wir die Ergebnisse unserer Taten sehen könnten, vielleicht würden die, die sich gut nennen, von tödlicher Reue befallen, und die, die die Welt schlecht heißt, von edler Freude erregt. Jedes kleine Ding, das wir tun, geht in den großen Mechanismus des Lebens über, das unsere Tugenden in Staub zermahlen und sie wertlos machen, oder unsere Sünden in Elemente einer neuen Kultur verwandeln kann, die wunderbarer und glänzender ist als irgend eine frühere. Aber die Menschen sind die Sklaven von Worten. Sie wüten gegen den Materialismus, wie sie es nennen, und vergessen, daß noch jede materielle Verbesserung die Welt vergeistigt hat, und daß es wenige – oder gar keine – geistige Erweckungen in den Völkern gegeben hat, die nicht den Geist der Menschen zu öden Hoffnungen, fruchtlosem Sehnen und leeren oder bedrückenden Glaubensgebilden verkehrt hätten. Was man Sünde nennt, ist ein wesentliches Element des Fortschritts. Ohne sie würde die Welt versumpfen oder alt und farblos werden. Durch ihre Besonderheit vermehrt die Sünde die Erfahrung des Volkes. Durch ihre intensive Betonung des Individualismus rettet sie uns vor der [83] Gleichförmigkeit des Typus. In ihrer Verwerfung der geläufigen Meinungen über das, was Moral ist, stimmt sie mit höher entwickelter Ethik überein. Und die Tugenden! Was ist Tugend? Die Natur, so belehrt uns Renan, kümmert sich wenig um Keuschheit, und vielleicht verdanken es die Lukretias des Lebens unserer Zeit der Schande Magdalenas und nicht ihrer eigenen Reinheit, daß sie unbefleckt blieben. Die Barmherzigkeit, das müssen selbst die zugeben, zu deren Religion sie wesentlich gehört, schafft eine Menge Übel. Schon die Existenz des Gewissens, von dem die Menschen heutzutage so viel zu schwatzen wissen und auf das sie so dummstolz sind, ist ein Symptom unserer unvollkommenen Entwicklung. Es muß in den Trieb untertauchen, auf daß wir schön und vollendet werden. Selbstverleugnung ist nichts als eine Art, durch die der Mensch seinen Fortschritt hintanhält, und Selbstaufopferung ist ein Überbleibsel der Selbstverstümmelung des Wilden, ein Zubehör des alten Kultus des Leidens, der ein so schrecklicher Faktor in der Geschichte der Welt ist und der selbst jetzt Tag für Tag seine Opfer fordert und seine Altäre im Lande hat. Tugend! Wer weiß, was Tugend ist? Du nicht. Ich nicht. Niemand. Es dient unserer Eitelkeit, daß wir den Verbrecher niederschlagen, denn wenn wir ihn am Leben ließen, könnte er uns vielleicht zeigen, was wir durch sein Verbrechen gewonnen haben. Es dient seinem Frieden, daß der Heilige in sein Märtyrertum geht. Der grauenvolle Anblick der Ernte, die er gezeitigt, wird ihm erspart.

Ernst: Gilbert, du schlägst zu bittere Töne an. Wir wollen zu den lieblicheren Gefilden der Literatur zurückgehn. Was hattest du gesagt? Es sei schwerer, über eine Sache zu sprechen, als sie zu tun.

[84] Gilbert (nach einer Pause): Ja, ich glaube, ich erlaubte mir, diese einfache Wahrheit auszusprechen. Du siehst doch jetzt, daß ich recht habe? Wenn der Mensch handelt, ist er eine Puppe. Wenn er schildert, ist er ein Dichter. Darin liegt das ganze Geheimnis. Es war leicht genug, auf den Sandebenen um das stürmische Ilion den raschen Pfeil vom bemalten Bogen zu entsenden, oder den langen Eschenschaft des Speers gegen den Schild aus Fell und flammengleichem Erz zu schleudern. Es war leicht für die buhlerische Königin, ihrem Herrn die tyrischen Teppiche auszubreiten und dann, als er im Marmorbad lag, ihm das purpurne Netz über den Kopf zu werfen und ihrem glattwangigen Geliebten zuzurufen, er solle durch die Maschen nach dem Herzen stechen, das schon in Aulis hätte brechen sollen. Selbst für Antigone, auf die der Tod als ihr Bräutigam wartete, war es leicht, des Mittags in der verpesteten Luft dahinzuwandeln und hinaufzugehn und milde Erde auf den verworfenen nackten Leichnam zu streuen, der kein Grab hatte. Aber was ist von denen zu sagen, die von diesen Dingen schrieben? Was von denen, die ihnen Wirklichkeit gaben und ihnen ewiges Leben schenkten? Sind sie nicht größer als die Männer und Frauen, die sie besingen? „Hektor, der sanfte Held, ist tot“, und Lucian erzählt uns, wie in der düsteren Unterwelt Menippus den bleichen Schädel der Helena sah und sich wunderte, daß um eine so grimmige Gunst all diese Schnabelschiffe hinausgesandt wurden, all diese schönen gewappneten Helden fallen mußten, all diese getürmten Städte zu Staub gemacht wurden. Aber noch kommt jeden Tag die schwanengleiche Tochter der Leda auf die Wälle und blickt auf das Fluten des Krieges hernieder. Die Alten im weißen Bart staunen [85] um ihre Schönheit und sie steht an der Seite des Königs. In seinem Zimmer aus gemaltem Elfenbein hält sich ihr Buhle auf. Er putzt seine prächtige Rüstung und kämmt die Scharlachfeder. Mit Knappen und Pagen zieht ihr Gatte von Zelt zu Zelt. Sie kann sein schimmerndes Haar sehen und hört oder vermeint zu hören seine helle, kalte Stimme. Im Hof unten schnallt der Sohn des Priamus seinen ehernen Panzer um. Die weißen Arme der Andromache sind um seinen Nacken geworfen. Er setzt seinen Helm behutsam auf den Boden, damit ihr kleiner Sohn sich nicht fürchte. Hinter den gestickten Vorhängen seines Zeltes sitzt Achilles in duftendem Gewand, während sich in den Harnisch von Gold und Silber der Freund seiner Seele wappnet, um in den Kampf zu gehn. Aus einem seltsam geschnitzten Kästchen, das seine Mutter Thetis ihm aufs Schiff gebracht hatte, nimmt der Fürst der Myrmidonen den mystischen Kelch, den nie Menschenlippen berührt hatten und schwefelt ihn und kühlt ihn mit frischem Wasser und dann wäscht er erst seine Hände und füllt dann sein glattes Rund mit schwarzem Wein und sprengt das dicke Traubenblut zur Erde zu Ehren dessen, den in Dodona barfüßige Propheten anbeteten, und betet zu ihm und weiß nicht, daß er umsonst betet und daß von den Händen zweier trojanischer Ritter, des Sohnes des Panthous, Euphorbus, dessen Schmachtlocken mit Goldschleifen geziert sind, und des Priamiden mit dem Löwenherzen Patroklus, der Freund der Freunde, sein Schicksal findet. Sind das Phantome? Helden vom blauen Dunst? Schatten in einem Lied? Nein, sie sind wirklich. Tat! Was ist eine Tat? Sie stirbt im Moment ihrer höchsten Energie. Das Tun ist ein niedriges Zugeständnis an die Wirklichkeit. Die Welt ist vom Sänger erschaffen und für den Träumer.

[86] Ernst: Wenn du sprichst, scheint mir wahr zu sein, was du sagst.

Gilbert: Es ist wahr. Auf der zerfallenen Burg von Troja sonnt sich die Eidechse gleich einem Stück grüner Bronze. Die Eule hat ihr Nest in den Palast des Priamus gebaut. Über die leere Ebene ziehen der Schafhirt und der Ziegenhirt mit ihren Herden, und wo auf dem weingleichen, öligen Meer, οἶνοψ πόντος, wie Homer es nennt, mit ihrem kupfernen Bug und karminfarbenen Streifen die großen Galeeren der Danaer in glänzendem Halbkreis herangeschwommen waren, sitzt jetzt der einsame Fischer in seinem gebrechlichen Boot und wartet, bis die Korkflosse seines Netzes angezogen wird. Doch an jedem Morgen öffnen sich die stolzen Tore der Stadt, und zu Fuß oder in pferdbespanntem Streitwagen rücken die Krieger in die Schlacht und rufen den Feinden hinter ihren Eisenvisieren Hohnworte zu. Den ganzen Tag über rast die Schlacht, und wenn die Nacht kommt, glühen die Fackeln vor den Zelten auf und die Leuchtpfanne brennt in der Halle. Die in Marmor oder auf gemalter Leinwand leben, kennen vom Leben nur einen einzigen Augenblick, der in seiner Schönheit wahrlich ewig, aber auf einen Ausdruck der Leidenschaft oder eine Stimmung der Ruhe beschränkt ist. Die der Dichter leben macht, haben tausende und tausende Ausdrucksformen von Freude und Schrecken, von Mut und Verzweiflung, von Genuß und von Leiden. Die Zeiten kommen und gehen in frohem oder düsterem Zuge, und mit beschwingten oder bleiernen Füßen schreiten die Jahre vor ihnen her. Sie haben ihre Jugend und ihr Mannesalter, sie sind Kinder und sie werden alt. Der Tag graut der heiligen Helena immer, wie Veronese sie am Fenster gesehen hat. Durch die stille Morgenluft [87] bringen die Engel ihr das Symbol von Gottes Leiden. Der kühle Hauch des Morgens bewegt die goldfarbenen Strähnen über ihrer Stirne. Auf dem kleinen Hügel bei der Stadt Florenz, wo die Liebespaare des Giorgione liegen, herrscht immer die Sonnenhöhe des Mittags, eines Mittags, den die sommerlichen Gluten so schmachtend und schlaff machen, daß das schlanke nackte Mädchen kaum den runden gläsernen Becher in die Marmorzisterne tauchen kann, und die langen Finger des Lautenspielers müßig auf den Saiten ruhn. Es ist immer Zwielicht für die tanzenden Nymphen, die Corot unter die Silberpappeln Frankreichs setzte. In ewigem Zwielicht bewegen sie sich, diese gebrechlichen, durchsichtigen Gestalten, deren zitternde weiße Füße das taugetränkte Gras nicht zu berühren scheinen, auf das sie treten. Aber die im Epos, Drama oder Gedicht wandeln, sehen aus den kreißenden Monaten die jungen Monde wachsen und hinschwinden, und sie gewahren die Nacht vom Abend bis zum Morgenstern, und von Sonnenaufgang bis Untergang sehen sie das Wandeln des Tages mit all seinem Gold und all seinem Schatten. Für sie wie für uns blühen und welken die Blumen, und die Erde, diese grüngelockte Göttin, wie Coleridge sie nennt, wechselt ihr Gewand zu ihrem Ergötzen. Die Statue ist auf einen Moment der Vollendung gesammelt. Das Bildnis, das auf die Leinwand gemalt ist, besitzt kein geistiges Element des Wachstums oder der Veränderung. Sie wissen nichts vom Tod, weil sie wenig vom Leben wissen, denn die Geheimnisse von Leben und Tod gehören denen und nur denen, die der Wandel der Zeit berührt und die nicht nur die Gegenwart, sondern die Zukunft besitzen und aus einer Vergangenheit des Ruhmes oder der Schande fallen oder sich erheben können. [88] Die Bewegung, dieses Problem der sichtbaren Künste, kann allein von der Literatur wahrhaft erreicht werden. Die Literatur zeigt uns den Körper in seiner Schnelligkeit und die Seele in ihrer Rastlosigkeit.

Ernst: Ja, ich sehe jetzt, was du meinst. Aber gewiß muß, je höher du den schaffenden Künstler stellst, der Kritiker um so niedriger rangieren.

Gilbert: Warum das?

Ernst: Weil das Beste, was er uns geben kann, nur das Echo einer reichen Musik ist, ein dunkler Schatten einer klar umrissenen Form. Es mag in der Tat so sein, daß das Leben ein Chaos ist, wie du mir sagst; daß seine Märtyrerschaften niedrig sind und seine Heldenhaftigkeiten gemein; und daß es die Aufgabe der Literatur ist, aus dem Rohmaterial des tatsächlichen Daseins eine neue Welt zu schaffen, die dann wunderbarer, dauernder und wahrer ist als die Welt, die von gemeinen Augen angesehen wird, und durch die die gemeine Natur ihre Vollkommenheit zu erreichen sucht. Aber das scheint sicher, wenn diese neue Welt vom Geiste und der Berührung durch einen großen Künstler gemacht worden ist, ist sie ein so vollendetes und fertiges Gebilde, daß der Kritik nichts zu tun übrig gelassen wurde. Ich verstehe jetzt völlig und gebe wirklich bereitwillig zu, daß es viel schwerer ist, über eine Sache zu sprechen als sie zu machen. Aber mir scheint, dieser richtige und gescheite Satz, der sich in der Tat sehr leicht ins Gefühl schmeichelt und von jeder Literaturakademie in der ganzen Welt als Motto akzeptiert werden sollte, bezieht sich lediglich auf das Verhältnis von Kunst und Leben und findet keine Anwendung auf irgend eine Beziehung, die etwa zwischen Kunst und Kritik bestehen kann.

[89] Gilbert: Aber die Kritik ist ohne Frage selbst eine Kunst. Und gerade so wie das künstlerische Schaffen die Tätigkeit der Kritik einschließt und in Wirklichkeit ohne sie überhaupt nicht existieren kann, so ist die Kritik in der Tat schöpferisch im höchsten Sinne des Wortes. Die Kritik ist tatsächlich sowohl schöpferisch wie unabhängig.

Ernst: Unabhängig?

Gilbert: Jawohl, unabhängig. Die Kritik kann ebenso wenig mit Hilfe des niederen Maßstabes der Nachahmung oder Ähnlichkeit beurteilt werden wie das Werk des Dichters oder Bildhauers. Der Kritiker hat das nämliche Verhältnis zu dem Kunstwerk, das er kritisiert, wie der Künstler zu der sichtbaren Welt der Form und Farbe oder der unsichtbaren Welt der Gefühle und Gedanken. Er braucht zur Vollkommenheit seiner Kunst nicht einmal das beste Material. Seinem Zweck kann alles dienen. Und gerade wie aus den schmutzigen und sentimentalen Liebschaften des dummen Weibes eines kleinen Landarztes in dem dreckigen Dorfe Yonville-l’Abbaye bei Rouen Gustave Flaubert ein klassisches Werk schaffen konnte, ein Meisterstück des Stils, so kann der wahre Kritiker aus Gegenständen von wenig oder keinem Wert, zum Beispiel aus den Bildern in der großen Kunstausstellung dieses oder irgend eines Jahres, oder aus Lewis Morris’ Gedichten, Ohnets Romanen oder den Stücken Henry Arthur Jones’, wenn es ihm Vergnügen macht, seine Gabe der Versenkung auf solches Ziel zu richten oder zu verschwenden, eine Arbeit hervorbringen, deren Schönheit rein erglänzt und die geistiger Feinheit voll ist. Warum nicht? Torheit übt immer auf den glänzenden Geist eine unwiderstehliche Anziehung aus, und die Dummheit ist allezeit die Bestia [90] Trionfans, die die Weisheit aus ihrer Höhle lockt. Was bedeutet einem Künstler, der so schöpferisch ist wie der Kritiker, sein Gegenstand? Nicht mehr und nicht weniger als dem Romandichter und dem Maler. Wie sie kann er seine Motive überall finden. Die Behandlung ist der Prüfstein. Es gibt nichts, was nicht Suggestivkraft in sich birgt oder zum Widerspruch herausfordert.

Ernst: Aber ist die Kritik wirklich eine schöpferische Kunst?

Gilbert: Warum sollte sie es nicht sein? Sie arbeitet mit einem Material und bringt das in eine Form, die zugleich neu und reizvoll ist. Was kann man von der Poesie mehr sagen? In der Tat möchte ich die Kritik ein schöpferisches Werk innerhalb eines schöpferischen Werkes nennen. Denn so wie die großen Künstler, von Homer und Aschylos zu Shakespeare und Keats, ihren Gegenstand nicht unmittelbar im Leben suchten, sondern ihn in Mythen, Legenden und alten Sagen fanden, so beschäftigt sich der Kritiker mit einem Material, das andere gleichsam für ihn gereinigt haben und dem schon die Form des Phantastischen und die Farbe beigemengt wurde. Ja noch mehr, ich möchte sagen, daß die höchste Kritik, da sie die reinste Form des persönlichen Eindrucks ist, in ihrer Art schöpferischer ist als das Werk des schaffenden Künstlers, da sie am wenigsten zu irgendeiner Norm, die ihr selbst fremd ist, Beziehungen eingeht und in der Tat ihr eigener Seinsgrund ist und, wie die Griechen es ausgedrückt hätten, ein Zweck an und für sich. Wahrhaftig, sie ist nie irgendwie durch die Ketten der Wahrscheinlichkeit eingeschnürt. Keine gemeinen Erwägungen der Wahrscheinlichkeit, die ein feiges Zugeständnis an die langweiligen [91] Wiederholungen des häuslichen oder öffentlichen Lebens ist, berühren sie je. Man kann von der Dichtung an die Tatsache appellieren. Aber gegen die Entscheidungen der Seele gibt es keine Berufung.

Ernst: Der Seele?

Gilbert: Ja, der Seele. Das ist die höchste Kritik in Wahrheit: Rechenschaft über die eigene Seele eines Menschen. Sie ist fesselnder als die Geschichte, da sie nur von dem Schreibenden selbst handelt. Sie ist reizvoller als die Philosophie, da ihr Gegenstand konkret und nicht abstrakt ist, wirklich und nicht unbestimmt. Sie ist die einzige kultivierte Form der Selbstbiographie, da sie sich nicht mit den Ereignissen, sondern mit den Ideen des Lebens abgibt; nicht mit den körperlichen Zufällen des Lebens, wie Taten und Umständen, sondern mit den seelischen Verfassungen und den Phantasie- und Gefühlserlebnissen des Geistes. Mich belustigte immer die alberne Eitelkeit solcher Schriftsteller und Künstler unserer Tage, die sich einzubilden scheinen, die Hauptaufgabe des Kritikers sei, von ihren mäßigen Hervorbringungen zu schwatzen. Das Beste, was man von den meisten Werken der schaffenden Künste unserer Zeiten sagen kann, ist, daß sie ein klein wenig weniger ordinär als die Wirklichkeit sind, und so wird der Kritiker mit seinem feinen Unterscheidungssinn und seinem sicheren Instinkt für das Geläuterte und Ausgesuchte lieber in den silbernen Spiegel oder durch den gewobenen Schleier blicken und seine Augen von dem Chaos und Lärm des tatsächlichen Lebens abwenden, auch wenn der Spiegel schmutzig und der Schleier zerrissen ist. Sein einziges Ziel ist, von seinen eigenen Impressionen Rechenschaft zu geben. Daß Marmor zu Form gehauen, Bilder gemalt, Bücher geschrieben werden: für ihn geschieht es.

[92] Ernst: Mir scheint, ich habe einmal eine andere Theorie der Kritik gehört.

Gilbert: Jawohl, sie stammt von einem, dessen gesegnetes Andenken wir alle verehren, dessen Flötentöne einst Proserpina aus ihren sizilischen Gefilden lockten und ihre weißen Füße über die Primeln von Cumnor wandeln ließen, und er sagte, das eigentliche Ziel der Kritik sei, das Objekt so zu sehen, wie es in Wirklichkeit und an sich ist. Das aber ist ein sehr ernster Irrtum und trägt der vollendetsten Form der Kritik nicht Rechnung, die in ihrem Wesen rein subjektiv ist und ihr eigenes Geheimnis zu enthüllen sucht und nicht das eines andern. Denn die höchste Kritik nimmt die Kunst nicht als Expression, sondern lediglich als Impression.

Ernst: Aber verhält es sich wirklich so?

Gilbert: Natürlich. Wer kümmert sich darum, ob Ruskins Meinungen über Turner richtig sind oder nicht? Was macht es aus? Seine machtvolle und majestätische Prosa, die in ihrer edeln Beredsamkeit so glühend und feuerfarben ist, in ihrer ausgearbeiteten symphonischen Musik so reich, in der feinen Wahl des Worts und Epithetons in ihren besten Stücken so sicher und gewiß ist, ist mindestens ein ebenso großes Kunstwerk wie irgendeiner der wundervollen Sonnenuntergänge, die auf ihrer dem Verderben ausgesetzten Leinwand in der National Gallery verblassen oder vermodern; größer fürwahr, ist man manchmal geneigt zu denken, nicht bloß, weil ihre ebenbürtige Schönheit dauernder ist, sondern wegen der reicheren Vielfältigkeit ihres Wirkens, indem die Seele durch diese Zeilen langen Atems zur Seele spricht, nicht durch Form und Farbe allein, obwohl durch sie fürwahr völlig und ohne Verlust, sondern [93] durch die Ausdrucksmöglichkeiten des Geistes und der Empfindung, mit hohem Pathos und noch höherem Denken, mit phantasievoller Versenkung und dichterischem Flug; größer, denke ich immer, wie eben die Literatur die größere Kunst ist. Wer wiederum kehrt sich daran, ob Walter Pater in das Bildnis der Monna Lisa etwas hineingelegt hat, was Lionardo nie im Traume eingefallen war? Der Maler hat vielleicht, wie einige meinten, wirklich nur ein archaisches Lächeln nachgeahmt, aber jedesmal, wenn ich in den kühlen Gängen des Louvre wandle und vor der seltsamen Gestalt stehen bleibe, „die in ihrem marmornen Sessel im Kreise dieser phantastischen Felsen sitzt, wie in einem sonderbar trüben Licht unterm Meer“, dann murmle ich bei mir: „Sie ist älter als die Felsen, zwischen denen sie sitzt; wie der Vampir ist sie lange Zeiten hindurch tot gewesen und hat die Geheimnisse des Grabes kennen gelernt; und sie ist ein Taucher in tiefen Meeren gewesen und bewahrt ihr versunkenes Licht, und sie handelte mit Kaufleuten aus fernem Osten um seltsame Gespinste; und als Leda war sie die Mutter der trojanischen Helena, und als heilige Anna die Mutter Marias; und all das war ihr nur wie der Klang von Leiern und Flöten und lebt nur in der entzückenden Feinheit, mit der dieser Klang die beweglichen Züge gebildet und die Lider und Hände gefärbt hat.“ Und ich sage zu meinem Freunde: „Die hohe Gestalt, die da so seltsam an den Wassern erstand, ist der Ausdruck der Sehnsucht, zu der der Mensch auf tausendjährigen Wegen gekommen war;“ und er antwortet mir: „Sie trägt das Haupt, auf das ,alle Vernichtung der Welt gekommen ist‘, und ihre Lider sind ein wenig müde.“

Und so wird das Bild wunderbarer für uns, als es wirklich [94] ist, und enthüllt uns ein Geheimnis, von dem es in Wahrheit nichts weiß, und die Musik der mystischen Prosa klingt unsern Ohren so süß wie die Musik jenes Flötenspielers, die den Lippen der Gioconda diese feinen und tödlich schönen geschwungenen Linien gegeben hat. Fragst du mich, was Lionardo gesagt hätte, wenn jemand ihm von diesem Bilde gesagt hätte, „alle Gedanken und alle Erfahrung der Welt hätten da an dem gezeichnet und gebildet, was in ihrer Macht stand zu veredeln und als äußere Form expressiv zu machen, der Animalismus Griechenlands, die Wollust Roms, die Träumerei des Mittelalters mit seinem geistigen Hang und seinem Liebesleben in der Phantasie, die Rückkehr der heidnischen Welt, die Sünden der Borgias?“ Wahrscheinlich hätte er geantwortet, er habe an keines dieser Dinge gedacht, habe sich vielmehr lediglich mit gewissen Gruppierungen von Linien und Massen befaßt und mit neuen und seltsamen Farbenharmonien von Blau und Grün. Und gerade darum ist die Kritik, die ich zitiert habe, von der höchsten Art. Sie behandelt das Kunstwerk lediglich als Ausgangspunkt für eine neue Schöpfung. Sie beschränkt sich nicht darauf – nehmen wir das wenigstens für den Augenblick an – die wirkliche Absicht des Künstlers aufzudecken und diese als endgültig zu akzeptieren. Und darin hat sie recht, denn der Sinn eines schönen geschaffenen Dinges lebt mindestens ebenso sehr in der Seele dessen, der es beschaut, wie es in der Seele dessen war, der es gestaltet hat. Ja, es ist eher der Beschauer, der dem schönen Ding seine tausenderlei Bedeutungen schenkt und es uns zu einem Wunder macht und es in ein neues Verhältnis zu unserer Zeit bringt, so daß es ein Lebenszubehör für uns wird und ein Symbol dessen, worum wir beten [95] oder vielleicht dessen, worum wir gebetet haben und das wir nun fürchten zu empfangen. Je länger ich forsche, Ernst, um so klarer sehe ich, daß die Schönheit der sichtbaren Künste ebenso wie die Schönheit der Musik vorwiegend auf der Impression beruht, und daß sie beeinträchtigt werden kann und oft beeinträchtigt wird, sowie der Künstler zu viel intellektuale Absicht hineinlegt. Denn wenn das Werk fertig ist, hat es gleichsam aus sich selbst heraus ein unabhängiges Leben und hat uns vielleicht ganz etwas anderes zu sagen, als sein Meister ihm auf die Lippen legte. Wenn ich der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ zuhöre, ist es mir freilich manchmal, als gewahre ich, wie dieser zierliche Rittersmann leise über das blumenbesäte Gras schreitet, und als höre ich die Stimme der Venus, die ihn aus dem hohlen Berge zu sich ruft. Aber zu andern Zeiten spricht sie von tausend andern Dingen zu mir, von mir selbst vielleicht und meinem eigenen Leben, oder von dem Leben anderer, die man geliebt hat und nicht mehr liebt, oder von den Leidenschaften, die der Mensch nie gekannt hat und darum begehrt. Heute abend mag sie einen mit diesem ΕΡΩΣ ΤΩΝ ΑΔΥΝΑΤΩΝ erfüllen, dem Amour de l’Impossible, der viele wie ein Wahnsinn befällt, die gedacht hatten, sie lebten sicher und sorglos, so daß sie plötzlich vom Gifte eines unstillbaren Verlangens erkranken und im endlosen Begehren dessen, was sie nicht erlangen können, schwach und ohnmächtig werden oder zu Falle kommen. Morgen mag sie wie die Musik, von der Aristoteles und Platon berichten, die edle dorische Musik der Griechen, das Werk eines Arztes an uns tun und uns ein Linderungsmittel gegen den Schmerz geben und den wunden Geist heilen und „die Seele zur Harmonie mit allen guten Dingen bringen“. Und das nämliche [96] wie von der Musik gilt von allen Künsten. Die Schönheit hat so viele Bedeutungen, als der Mensch Stimmungen hat. Schönheit ist das Symbol der Symbole. Schönheit enthüllt alles, weil sie nichts ausdrückt. Wenn sie sich uns zeigt, zeigt sie uns die ganze feuerfarbene Welt.

Ernst: Aber ist solch ein Werk, von dem du gesprochen hast, wirkliche Kritik?

Gilbert: Es ist Kritik höchster Art, denn es kritisiert nicht nur das individuelle Kunstwerk, sondern die Schönheit selbst und gießt das Wunder in eine Form, die der Künstler vielleicht leer gelassen hat oder nicht verstand oder nicht völlig verstand.

Ernst: Die höchste Kritik wäre dann also schöpferischer als das Werk des schaffenden Künstlers, und das hauptsächliche Ziel der Kritik wäre, das Objekt so zu sehen, wie es an sich in Wirklichkeit nicht ist; das ist deine Theorie, denke ich?

Gilbert: Ja, das ist meine Theorie. Für den Kritiker ist das Kunstwerk lediglich eine Anregung für ein neues Werk, das er selbst macht, und das braucht nicht unbedingt irgend eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem Werke zu haben, das er kritisiert. Die schöne Form hat ein sicheres Kennzeichen, daß man nämlich alles, was man will, in sie hineinlegen kann, und alles, was man in ihr sehen will, in ihr sehen kann; und die Schönheit, die dem geschaffenen Werk sein allumfassendes und ästhetisches Element gibt, macht aus dem Kritiker wiederum einen Schöpfer und flüstert von tausend verschiedenen Dingen, die in dem Geiste dessen nicht gelebt hatten, der die Statue bildete oder die Leinwand bemalte oder die Gemme schnitt.

Solche, die weder die Natur der Kritik höchster Art [97] noch den Reiz höchster Kunst verstehen, haben wohl manchmal gesagt, der Kritiker liebe am meisten über solche Bilder zu schreiben, die zur anekdotischen Malerei gehören und Szenen aus der Literatur oder Geschichte darstellen. Aber dem ist nicht so. In Wahrheit sind Bilder dieser Art viel zu verständlich. Im ganzen gehören sie in dieselbe Reihe wie Illustrationen und sind, selbst wenn man sie von diesem Standpunkt betrachtet, verfehlt, da sie die Phantasie nicht anregen, sondern ihr bestimmte Schranken setzen. Denn das Gebiet des Malers ist, ich wies schon vorhin darauf hin, ein ganz anderes als das des Dichters. Dem Dichter gehört das Leben in seiner vollen und unbedingten Ganzheit, nicht nur die Schönheit, die man mit den Augen sieht, auch die, die man mit Ohren hört; nicht nur die Augenblicksgrazie der Form oder die vorübergehende Freude der Farbe, sondern der ganze Bezirk des Gefühls, der vollständige Umkreis des Denkens. Der Maler ist so sehr beschränkt, daß er uns das Geheimnis der Seele nur durch die Maske des Körpers hindurch zeigen kann; nur durch konventionelle Bilderzeichen kann er Ideen übermitteln; nur durch entsprechende Erscheinungen der Körperwelt kann er Psychologie treiben. Und wie ungenügend tut er es dann, wenn er etwa von uns verlangt, den zerrissenen Turban des Mohren für den edlen Zorn des Othello zu nehmen, oder einen kindischen alten Mann im Sturm für den wilden Wahnsinn des Lear. Aber es scheint, diese Art Maler läßt sich nicht aufhalten. Die meisten unserer älteren Maler bringen ihr elendes und vergeudetes Leben damit zu, unbefugt auf dem Gebiet der Dichter zu jagen, ihre Motive durch plumpe Behandlung zu verderben und sich vergebens abzumühen, durch [98] sichtbare Form oder Farbe das Wunder des Unsichtbaren, den Glanz des nie Gesehenen wiederzugeben. Es ergibt sich natürlich, daß ihre Bilder unerträglich öde sind. Sie haben die sichtbaren Künste zu Künsten des Selbstverständlichen gemacht; und ein Ding ist nicht wert angesehen zu werden: das Selbstverständliche. Ich sage nicht, daß Dichter und Maler nicht denselben Gegenstand behandeln können. Sie haben es immer getan und werden es immer tun. Aber während der Dichter nach Belieben malerisch sein kann oder nicht, muß der Maler immer malerisch sein. Denn ein Maler ist nicht auf das beschränkt, was er in der Natur sieht, sondern was auf Leinwand gesehen werden kann.

Und so, lieber Ernst, werden Bilder dieser Art den Kritiker nicht wirklich anziehn. Er wird sich von ihnen zu solchen Werken wenden, die ihn brüten und träumen und phantasieren lassen, zu Werken, die suggestive Kraft in sich bergen und die einem zu sagen scheinen, daß es selbst von ihnen noch eine Flucht in eine weitere Welt gibt. Man hat manchmal gesagt, das sei die Tragödie des Künstlerdaseins, daß er sein Ideal nicht verwirklichen könne. Aber die wirkliche Tragödie, die die meisten Künstler ohne Ende verfolgt, ist die, daß sie ihr Ideal zu völlig verwirklichen. Denn, wenn das Ideal verwirklicht ist, ist es seines Wunders und seiner geheimnisvollen Schauer beraubt, und es wird aus ihm lediglich ein neuer Ausgangspunkt für ein anderes Ideal. Dies ist der Grund, warum die Musik der vollendete Typus der Kunst ist. Die Musik kann nie ihr letztes Geheimnis enthüllen. Das ist auch die Erklärung dafür, wie wichtig die Beschränkung in der Kunst ist. Der Bildhauer verzichtet freudig auf die nachahmende Farbe und der Maler auf die tatsächlichen Dimensionen der [99] Formen, weil sie durch solchen Verzicht instand gesetzt werden, eine zu bestimmte Wiedergabe des Wirklichen zu vermeiden, die bloße Nachahmung wäre, und eine zu bestimmte Verwirklichung des Ideals, die zu rein intellektuell wäre. Gerade durch ihre Unvollkommenheit wird die Kunst an Schönheit vollkommen und wendet sich also nicht an die Kategorie der Erinnerung oder der Vernunft, vielmehr allein an den ästhetischen Sinn, der Vernunft und Erinnerung als Stadien des Auffassens akzeptiert, beide aber einer rein synthetischen Impression des Kunstwerks als Ganzes unterordnet, alle Gefühlselemente, die das Werk sonst noch besitzen mag, aufnimmt und eben diesen Komplex als Mittel benutzt, durch das zur eigentlichen Impression selbst eine reichere einheitliche Gesamtwirkung hinzukommt. Du siehst also, wie es kommt, daß der ästhetische Kritiker solche Selbstverständlichkeitsformen in der Kunst verwirft, die nur einen einzigen Sinn mitzuteilen haben, und wenn das geschehen ist, taub und unfruchtbar werden, und lieber nach solchen Formen ausblickt, die Traum und Stimmung hergeben und durch ihre phantasieerfüllte Schönheit alle Deutungen wahr und keine Deutung endgültig machen. Einige Ähnlichkeit wird ohne Zweifel das schöpferische Werk des Kritikers mit dem Werk haben, das sein Schaffen angeregt hat, aber es wird so eine Ähnlichkeit sein, wie sie besteht, nicht zwischen der Natur und dem Spiegel, den der Landschafts- oder Porträtmaler der Natur wohl vorhält, sondern zwischen der Natur und dem Werk des dekorativen Künstlers. Gerade wie auf den blumenlosen persischen Teppichen Tulpe und Rose in der Tat blühen und lieblich zu beschauen sind, wenn sie schon nicht in deutlich erkennbarer Gestalt oder Linie wiederholt sind; gerade wie [100] Perlenglanz und Purpur der Seemuschel in der Kirche von San Marco in Venedig widertönt; gerade wie das Gewölbe der wunderhaften Kapelle von Ravenna in der Pracht des Gold und Grün und Saphir des Pfauenschwanzes erglänzt, obwohl die Vögel der Juno nicht darauf fliegen, so gibt der Kritiker das Werk, das er kritisiert, in einer Form wieder, die nie nachahmend ist, und ihr Reiz wird gerade zum Teil daher kommen, daß die Ähnlichkeit nicht da ist. Auf diese Weise zeigt uns der Kritiker nicht bloß den Sinn, vielmehr auch das Geheimnis der Schönheit; er verwandelt jede Kunst in Literatur und löst so einmal für alle das Problem der Einheit aller Künste.

Aber ich sehe, es ist Zeit zum Essen. Wenn wir einigen Chambertin und ein paar Ortolane kritisch zerlegt haben, wollen wir dazu übergehen, den Kritiker in der Rolle des Interpreten zu betrachten.

Ernst: Ah! Du gibst also zu, daß der Kritiker sich gelegentlich erlauben darf, den Gegenstand so zu sehen, wie er an sich in Wirklichkeit ist.

Gilbert: Ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht gebe ich es nach dem Essen zu. Es liegt eine besondere Kraft im Essen.

[101]

KRITIK EINE KUNST
NEBST ETLICHEN BEMERKUNGEN ÜBER DEN WERT DES NICHTSTUNS
ZWEITER TEIL

[102]

DIE PERSONEN DES DIALOGES: DIE SELBEN. SZENE: DIE SELBE.

[103] ERNST: DIE ORTOLANE WAREN KÖSTlich und der Chambertin vollendet. Und jetzt wollen wir wieder auf unsere Sache kommen.

Gilbert: Ach nein! Lieber nicht. Eine Unterhaltung sollte an alles rühren, aber sich auf nichts festbohren. Wir wollen über „Moralische Entrüstung, ihre Ursache und Heilung“ plaudern, über diesen Gegenstand denke ich zu schreiben; oder über „das Überleben des Thersites“, aufgezeigt an den englischen Witzblättern, oder über jeden Gegenstand, der uns einfallen mag.

Ernst: Nein, ich wünsche über den Kritiker und die Kritik zu diskutieren. Du hast mir gesagt, die Kritik höchster Art beschäftige sich mit der Kunst nicht als Expression, vielmehr rein als Impression und sei dennoch schöpferisch wie unabhängig, sei tatsächlich eine Kunst für sich selbst und stehe im selben Verhältnis zu dem Werk der schaffenden Kunst, wie das Werk des schaffenden Künstlers zur sichtbaren Welt von Form und Farbe oder zur ungesehenen Welt des Dichtens und Denkens. Schön, nun sollst du mir sagen, ist der Kritiker nicht manchmal ein wirklicher Erklärer?

Gilbert: O ja; der Kritiker ist ein Erklärer, wenn er will. Er kann von seiner synthetischen Impression des Kunstwerks als Ganzes zu einer Analyse oder Darlegung des Werkes selbst übergehn, und auf diesem niedereren Gebiet, wofür ich es halte, sind viele schöne Dinge zu sagen und zu tun. Aber es wird nicht immer seine Aufgabe sein, das Kunstwerk zu erklären. Eher mag er darauf aus sein, sein Geheimnis zu vertiefen, um das Kunstwerk und seinen Schöpfer den Duft des Wunders aufsteigen zu lassen, der Göttern und Gottesdienern in [104] gleicher Weise angenehm ist. Gewöhnliche Menschen fühlen sich schrecklich „wie zu Hause in Zion“. Sie haben Lust, die Dichter unterm Arm zu nehmen und haben so eine hübsche dumme Art zu sagen: „Wozu sollten wir lesen, was über Shakespeare und Milton geschrieben wird? Wir können die Stücke und Gedichte lesen. Das genügt.“ Aber ein Verständnis Miltons ist, wie der verstorbene Rektor von Lincoln einmal bemerkte, der Lohn eines langwierigen Studiums. Und wer Shakespeare wahrhaft verstehen will, muß das Verhältnis verstehen, in dem Shakespeare zur Renaissance und zur Reformation steht, zum Zeitalter der Elisabeth und des Jacob; er muß mit der Geschichte des Kampfes um die Vorherrschaft zwischen den alten klassischen Formen und dem neuen Geist der Romantik vertraut sein, zwischen der Schule Sidneys, Daniels, Jonsons und der Schule Marlowes und seines größeren Sohnes; er muß das Material kennen, das Shakespeare zur Verfügung stand und die Art, wie er es benutzte, und die Bedingungen der Theateraufführung im 16. und 17. Jahrhundert, ihre Beschränkungen und ihre Möglichkeiten zur Freiheit, und die literarische Kritik zu Shakespeares Zeiten, ihre Auffassungen und Formen und Regeln; er muß die Entwickelung der englischen Sprache kennen lernen und die verschiedenen Stufen in der Geschichte des Blankverses und der Reimweise; er muß das griechische Drama studieren und die Beziehung zwischen der Kunst dessen, der den „Agamemnon“ geschaffen hat und des Schöpfers des „Macbeth“, mit einem Wort, er muß das London der Elisabeth mit dem Athen des Perikles verbinden und Shakespeares wahre Stellung in der Geschichte des europäischen Dramas und des Dramas der Welt verstehen können. Der Kritiker kann sicher [105] ein Erklärer sein, aber er wird die Kunst nicht als rätselaufgebende Sphinx behandeln, deren seichtes Geheimnis von einem erraten und enthüllt werden kann, der schlimme Füße hat und seinen Namen nicht kennt. Er wird viel eher die Kunst als eine Göttin betrachten, deren Geheimnis zu vertiefen sein Amt ist, und ihre Hoheit in den Augen der Menschen wunderbarer zu machen, sein Vorrecht.

Und hier, lieber Ernst, geschieht etwas Seltsames. Der Kritiker ist in der Tat ein Erklärer, aber er ist es nicht in dem Sinne, wie wenn einer einfach in anderer Form eine Mitteilung macht, die ihm in den Mund gelegt wurde. Denn gerade wie einzig und allein durch Berührung mit der Kunst fremder Völker die Kunst eines Landes das individuelle und besondere Leben erlangt, das wir Nationalität nennen, so kann in seltsamer Umkehrung der Kritiker nur dadurch, daß er seine eigene Persönlichkeit vertieft, die Persönlichkeit und das Werk anderer erklären, und je stärker dieses Persönliche in die Interpretation eingeht, um so mehr Wirklichkeit erlangt sie, um so befriedigender, um so überzeugender und um so wahrer wird sie.

Ernst: Ich hätte gedacht, das Persönliche sei eher ein störendes Element.

Gilbert: Nein, es ist ein Element der Offenbarung. Wenn du andere verstehen willst, mußt du deinen eigenen Individualismus verstärken.

Ernst: Was ergibt sich denn daraus?

Gilbert: Das will ich dir sagen, und vielleicht geschieht es am besten an einem bestimmten Beispiel. Mir scheint, daß allerdings die literarische Kritik natürlich an erster Stelle steht, weil sie eine größere Ausdehnung, einen weiteren Gesichtskreis und ein edleres Material hat, daß [106] aber jede einzelne Kunst sozusagen einen Kritiker hat, der für sie bestimmt ist. Der Schauspieler ist ein Kritiker des Dramas. Er zeigt das Werk des Dichters unter neuen Bedingungen und in einer Methode, die ihm besonders eigen ist. Er nimmt das geschriebene Wort, und Aktion, Gebärdenspiel und Stimme werden die Mittel der Offenbarung. Der Sänger oder der Spieler auf der Laute oder der Bratsche ist der Kritiker des Musikers. Der Radierer eines Gemäldes beraubt das Bild seiner schönen Farben, aber er zeigt uns dadurch, daß er ein neues Material anwendet, seine wahre Farbenqualität, seine Töne und Valeurs und die Beziehungen seiner Massen und ist so auf seine Art ein Kritiker des Bildes, denn Kritiker ist der, der uns ein Kunstwerk in einer Form darstellt, die von der des Werkes selbst verschieden ist, und die Anwendung eines neuen Materials ist ebensowohl ein kritisches wie ein schöpferisches Element. Auch die Skulptur hat ihren Kritiker; das mag entweder ein Gemmenschneider sein, wie in griechischen Zeiten, oder ein Maler wie Mantegna, der auf der Leinwand die Schönheit der klassischen Linie und die symphonische Würde eines feierlichen Basreliefs wiederzugeben suchte. Und im Fall all dieser schöpferischen Kunstkritiker ist es einleuchtend, daß die Persönlichkeit für jede wirkliche Interpretation absolut wesentlich ist. Wenn Rubinstein uns die Appassionata von Beethoven spielt, gibt er uns nicht bloß Beethoven, sondern auch sich selbst, und dadurch gibt er uns Beethoven völlig – Beethoven reproduziert durch eine reiche künstlerische Natur, und uns lebendig und herrlich gemacht durch eine neue, intensive Persönlichkeit. Wenn ein großer Schauspieler Shakespeare spielt, haben wir dasselbe Erlebnis. Seine eigene Individualität wird ein wesentlicher Bestandteil [107] seiner Interpretation. Die Leute sagen manchmal, der oder jener Schauspieler gebe uns seinen eigenen Hamlet und nicht den Shakespeares; und dieser Trugschluß – denn es ist ein Trugschluß – wird leider von dem entzückenden und liebenswürdigen Schriftsteller wiederholt, der jüngst die Unruhe der Literatur mit dem Frieden des Hauses der Gemeinen vertauscht hat; ich meine den Verfasser von „Obiter Dicta“. Tatsächlich gibt es so etwas wie Shakespeares Hamlet nicht. Wenn Hamlet etwas von der Bestimmtheit eines Kunstwerks hat, so hat er auch all die Dunkelheit, die zum Leben gehört. Es gibt so viele Hamlets als es Melancholien gibt.

Ernst: So viele Hamlets als es Melancholien gibt?

Gilbert: Ja; und wie die Kunst der Persönlichkeit entspringt, so kann sie nur der Persönlichkeit offenbart werden; und aus dem Zusammentreffen dieser zwei entspringt die rechte aufschließende Kritik.

Ernst: Der Kritiker würde demnach, sofern er Erschließer oder Erklärer ist, nicht weniger geben als erhalten und ebensoviel hinzutun als er empfängt?

Gilbert: Er wird uns immer das Kunstwerk irgendwie in einer neuen Beziehung zu unserer Zeit zeigen. Er wird es uns nie vergessen lassen, daß große Kunstwerke lebendige Wesen sind – in Wahrheit die einzigen lebenden Wesen sind, die es gibt. So sehr fürwahr wird er das fühlen, daß ich sicher bin: mit dem Fortschritt der Zivilisation, wenn wir höher organisiert sind, werden die erlesenen Geister jeder Zeit, die kritischen Geister, die Kulturrepräsentanten, weniger und weniger am tatsächlichen Leben teilnehmen und werden darauf aus sein, ihre Impressionen fast ganz und gar da zu machen, wo die Kunst geweilt hat. Denn das Leben ermangelt schrecklich der Form. Seine Katastrophen geschehen [108] auf falschem Wege und falschen Personen. Es liegt ein groteskes Schrecknis um seine Komödien, und seine Tragödien wollen in der Farce gipfeln. Man wird immer verwundet, wenn man sich mit ihm einläßt. Die Dinge dauern entweder zu lang oder nicht lang genug.

Ernst: Armes Leben! Armes Menschenleben! Rühren dich nicht einmal die Tränen, die, wie der römische Dichter sagt, untrennbar zu ihm gehören?

Gilbert: Zu rasch rühren sie mich, fürchte ich. Denn wenn man auf das Leben zurückblickt, das in der Stärke seiner Empfindungen so glühend war und so von feurigen Augenblicken der Ekstase und Freude erfüllt, so scheint alles ein Traum und eine Täuschung zu sein. Was sind unwirkliche Dinge, wenn nicht die Leidenschaften, die einen einst wie Brand und Feuer verzehrten? Was sind unglaubliche Dinge, wenn nicht die Dinge, die man fromm geglaubt hat? Was sind unwahrscheinliche Dinge? Die Dinge, die man selber getan hat. Nein, Ernst; das Leben hält uns mit Schatten zum besten und gleicht einem Puppenspieler. Wir begehren Genuß von ihm. Es gibt ihn uns, mit Bitterkeit und Enttäuschung im Gefolge. Wir erleben einen adligen Schmerz und wir wähnen, er werde unser Dasein in die purpurne Würde des Tragischen hüllen, aber er geht von uns, und Dinge, die weniger edel sind, verdrängen ihn, und es kommt ein grauer, stürmischer Morgen oder ein dufterfüllter Abend voll silbernem Schweigen, da finden wir uns, wie wir mit stumpfem Staunen oder einem toten, steinharten Herzen auf die goldigschimmernde Locke starren, die wir einst so wild angebetet haben und so wahnsinnig geküßt.

Ernst: So wäre also das Leben ein mißglücktes Unternehmen?

[109] Gilbert: Vom künstlerischen Standpunkt aus ganz gewiß. Und die Hauptsache, warum das Leben von diesem künstlerischen Standpunkt aus verfehlt ist, ist das, was dem Leben seine schmutzige Sicherheit gibt, die Tatsache, daß man nie genau dieselbe Empfindung wiederholen kann. Wie anders ist es in der Welt der Kunst! Auf einem Brett des Bücherschranks hinter dir steht die „Göttliche Komödie“, und ich weiß, wenn ich das Buch an einer bestimmten Stelle öffne, werde ich von grimmigem Haß gegen einen erfüllt, der mir nie etwas getan hat, oder eine große Liebe zu einer Person kommt über mich, die ich nie sehen werde. Es gibt keine Stimmung und keine Leidenschaft, die uns die Kunst nicht geben kann, und die unter uns, die hinter ihr Geheimnis gekommen sind, können im voraus bestimmen, was sie erleben sollen. Wir können unsere Tage einteilen und unsre Stunde erwählen. Wir können zu uns selbst sagen: „Morgen früh wollen wir mit dem strengen Virgil durch das Tal des Todesschattens wandern“, und siehe! der Tag dämmert, und wir sind in dem düstern Wald, und der Mantuaner steht an unsrer Seite. Wir gehen durch das Tor mit der Inschrift, die aller Hoffnung ein Ende macht, und gewahren mit Erbarmen oder Freuden das Grauen der Unterwelt. Die Heuchler gehen vorbei mit ihren gemalten Gesichtern und ihren Kapuzen aus vergoldetem Blei. Aus den unaufhörlichen Stürmen, die sie forttreiben, blicken die Sinnesmenschen auf uns, und wir sehen den Ketzer, der sein Fleisch zerreißt, und den Schlemmer, den der Regen peitscht. Wir brechen die dürren Äste von dem Baum im Haine der Harpyien, und aus jedem düsterfarbenen, gifterfüllten Zweigchen fließt rotes Blut vor unsern Augen, und es schreit laut seine wilden Schreie. Aus einem Feuerhorn spricht [110] Odysseus zu uns, und wenn aus seinem Flammengrab der große Ghibelline aufsteigt, dann wird der Stolz, der über die Qual dieses Bettes triumphiert, für einen Augenblick unser eigener. Durch die trübe, purpurne Luft ziehen die, die die Welt mit der Schönheit ihrer Sünde befleckt haben, und im Schlunde ekelhafter Krankheit, von der Wassersucht befallen und mit einem Leib, der so geschwollen ist, daß er einer monströsen Laute gleicht, liegt Adamo di Brescia, der Falschmünzer. Er heißt uns sein Elend mitanhören; wir bleiben stehen, und mit trockenen, klaffenden Lippen erzählt er uns, wie er Tag und Nacht von Bächen klaren Wassers träumt, die kühl über die tauglitzernden grünen Berghänge von Casenta strömen. Sinon, der falsche Grieche von Troja, höhnt ihn aus. Er schlägt ihn ins Gesicht, und sie stürzen aufeinander. Ihre Schande fesselt uns, und wir zögern weiterzugeben, bis Virgils Worte uns forttreiben und wir zu der Stadt kommen, die Riesen umtürmen, wo der große Nimrod in sein Horn stößt. Schreckliche Dinge warten in Hülle auf uns, und wir gehen ihnen in Dantes Gewand und mit Dantes Herzen entgegen. Wir setzen über das Sumpfwasser des Styx, und Argenti schwimmt durch die schlammigen Wogen an unser Boot heran. Er ruft uns zu, und wir stoßen ihn zurück. Wie wir die Stimme seiner Todesnot hören, freuen wir uns, und Virgil lobt uns für die Unversöhnlichkeit unseres Hasses. Wir treten auf den kalten Kristall des Cocytus, in dem Verräter stecken wie Strohhalme im Glas. Unser Fuß stößt gegen den Kopf des Bocco. Er will uns seinen Namen nicht sagen, und wir reißen das Haar in Büscheln aus dem schreienden Schädel. Alberigo bittet uns, das Eis um sein Gesicht wegzubrechen, daß er ein wenig weinen könne. Wir geben ihm unser

[111] Wort darauf, und wie er mit seiner schmerzhaften Geschichte zu Ende ist, verleugnen wir unser Versprechen, das wir gegeben, und verlassen ihn; und solche Grausamkeit ist rechte Edelmannsart fürwahr, denn wer wäre niedriger als einer, der Erbarmen hätte für die, die Gott verdammt hat? Im Rachen Luzifers sehen wir den Mann, der Christus verkauft hat, und im Rachen Luzifers die Männer, die Cäsar ermordeten. Wir zittern und steigen hinauf, die Sterne wiederzusehen.

Im Lande Purgatorio ist die Luft freier und der heilige Berg steigt zum reinen Licht des Tages empor. Da ist Friede für uns, und für die, die eine Weile darin bleiben, ist da auch etwas Friede, obwohl blaß von dem Gifte der Maremma Madonna Pia an uns vorbeigeht und Ismene da ist, noch von dem Erdenschmerz umschwebt. Seele nach Seele läßt uns an einer Reue oder einer Freude teilnehmen. Der Mann, den die Trauer seiner Witwe lehrte den süßen Wermut des Schmerzes zu trinken, erzählt uns von Stella, die in ihrem einsamen Bette betet, und wir erfahren aus dem Munde des Buonconte, wie eine einzige Träne einen sterbenden Sünder vor dem bösen Feinde erretten kann. Sordello, der adlige, verachtungsvolle Lombarde schaut von weitem auf uns, wie ein ruhender Löwe. Als er hört, Virgil sei ein Bürger Mantuas, fällt er ihm um den Hals, und als er erfährt, er sei der, der Rom besungen hat, fällt er ihm zu Füßen. In dem Tal, dessen Rasen und Blumen schöner sind als geschliffener Smaragd, und glänzender als Scharlach und Silber, singen die, die in der Welt Könige waren; aber die Lippen Rudolfs von Habsburg sind unbeweglich beim Gesange der andern, und Philipp von Frankreich schlägt seine Brust, und Heinrich von England sitzt verlassen. Weiter und weiter gehen wir und steigen [112] die Wundertreppe hinauf, und die Sterne werden größer wie sonst, und der Gesang der Könige wird schwächer, und endlich erreichen wir die sieben Bäume aus Gold und das irdische Paradies. In einem Wagen, den Greife ziehen, erscheint eine, um deren Stirne Olivenblätter sich winden, die einen weißen Schleier und grünen Mantel trägt und ein Gewand, rot wie lebendiges Feuer. Die alte Flamme erwacht in uns. Unser Blut schlägt furchtbar schnell. Wir erkennen sie. Es ist Beatrice, die Frau, die wir angebetet haben. Das Eis, das um unser Herz starrt, schmilzt. Wilde Tränen der Überwältigung entstürzen uns, und wir neigen unser Haupt zu Boden, denn wir wissen, daß wir gesündigt haben. Wie wir Buße getan haben und gereinigt sind und aus dem Quell der Lethe getrunken und in dem Quell der Eunoe gebadet haben, führt uns die Herrin unserer Seele in das himmlische Paradies. Aus der ewigen Perle, dem Mond, beugt sich das Antlitz der Piccarda Donati zu uns. Ihre Schönheit verwirrt uns einen Augenblick, und wie sie, einem Ding vergleichbar, das durchs Wasser fällt, wegschwindet, starren wir ihr sehnsüchtigen Auges nach. Der holde Planet Venus ist voll Liebender. Cunizza, die Schwester Ezzelins, die Herrin von Sordellos Herzen, ist da, und Folco, der leidenschaftliche Sänger der Provence, der im Schmerz um Azalais der Welt entsagte, und die Buhlerin aus Kanaan, deren Seele die erste war, die Christus erlöste. Joachim di Flora steht in der Sonne, und in der Sonne erzählt Aquinas die Geschichte des heiligen Franziskus, und Bonaventura die Geschichte des St. Dominikus. Aus dem brennenden Rubinrot des Mars naht sich Cacciaguida. Er erzählt uns von dem Pfeil, den der Bogen des Exils ins Herz schießt, und wie bitter das Brot des Mitmenschen [113] schmeckt, und wie steil die Treppen im Haus eines Fremden sind. Im Saturn singen die Seelen nicht und selbst die, die uns führt, vermag nicht zu lächeln. Auf einer goldenen Leiter steigen und sinken die Flammen. Zuletzt sehen wir die Verherrlichung der mystischen Rose. Beatrice richtet die Augen auf das Antlitz Gottes und wendet sie nicht wieder weg. Die beseligende Schau ist uns verstattet; wir erkennen die Liebe, die die Sonne und alle Sterne bewegt.

Ja, wir können die Erde sechshundertmal[WS 3] zurückdrehen und uns eins machen mit dem großen Florentiner, am selben Altar mit ihm knien und seine Verzückung und seinen Haß teilen. Und wenn wir von der alten Zeit genug haben und unsre eigene Zeit in all ihrer Müdigkeit und Sünde gewahren wollen, gibt es nicht Bücher, die uns in einer einzigen Stunde mehr Leben geben, als das Leben uns in zwanzig schändlichen Jahren leben läßt? Dort nahe bei dir liegt ein kleines Buch, in nilgrünes Leder gebunden, in das vergoldete Seerosen geprägt sind und das mit hartem Elfenbein geglättet wurde. Es ist das Buch, das Gautier liebte, Baudelaires Meisterwerk. Öffne es bei dem trauervollen Madrigal, das beginnt

„Que m’importe que tu sois sage?
Sois belle! et sois triste!“

und du kommst zu einer Anbetung des Schmerzes, wie du nie die Freude angebetet hast. Gehe weiter zu dem Gedicht von dem Mann, der sich selbst peinigt, laß seine seltsam-schöne Musik sich in dein Hirn schleichen und deine Gedanken färben, und du wirst für einen Augenblick der werden, der es schrieb; ja, nicht bloß für einen Augenblick, sondern für viele schlaflose Mondscheinnächte und sonnenlose, öde Tage wird eine Verzweiflung, [114] die nicht deine eigene ist, ihr Lager in dir aufschlagen, und das Elend eines andern wird dein Herz zerfressen. Lies das ganze Buch, laß es deiner Seele nur eins seiner Geheimnisse erzählen, und deine Seele wird gierig werden, mehr zu wissen, und wird sich von giftigem Honig nähren und wird verlangen, seltsame Verbrechen zu bereuen, deren sie schuldlos ist und schreckliche Genüsse zu büßen, die sie nie gekannt hat. Und dann, wenn du dieser Blumen des Bösen müde bist, wende dich zu den Blumen, die im Garten Perditas wachsen, und kühle deine fiebernde Stirne in ihren taugetränkten Kelchen und laß ihre liebliche Schönheit deine Seele gesunden und aufrichten; oder erwecke den sanften Syrier Meleager aus seiner vergessenen Gruft, und laß den Geliebten der Heliodora Musik für dich machen, denn auch er hat Blumen in seinem Lied, rote Granatblüten und myrrhenduftende Lilien und kronengleiche Narzissen und dunkelblaue Hyazinthen und Majoran und gezackte Rindsaugen. Lieb war ihm der Wohlgeruch des Bohnenfeldes am Abend, und lieb war ihm die duftende Nardenähre, die auf den Bergen Syriens wuchs und der frische, grüne Thymian, die Würze der Bowle. Die Füße seiner Geliebten, wenn sie im Garten wandelte, waren wie Lilien auf Lilien. Weicher als schlafbringende Mohnblüten waren ihre Lippen, sanfter als Veilchen und wie sie durchduftet. Der flammenhelle Krokus entsprang dem Gras, um auf sie zu blicken. Für sie sammelte die schlanke Narzisse den kühlen Regen; und für sie vergaßen die Anemonen die Winde Siziliens, die sie umwarben. Und nicht Krokus noch Anemone noch Narzisse war so schön wie sie.

Es ist etwas Seltsames um diese Übertragung des Empfindens. [115] Wir erkranken an den nämlichen Krankheiten wie die Dichter, und der Sänger leiht uns seinen Schmerz. Toter Mund hat seine Botschaft an uns, und Herzen, die zu Staub geworden sind, können ihre Freude mitteilen. Wir stürzen zu Fantina, ihre blutenden Lippen zu küssen, und wir folgen Manon Lescaut über die ganze Erde. Unser ist die Liebesraserei des Tyriers, und das Entsetzen des Orestes ist auch unser. Es gibt keine Leidenschaft, die wir nicht fühlen können, keinen Genuß, den wir nicht befriedigen können, und wir können die Zeit wählen, wo wir im Banne sind, und ebenso die Zeit unserer Freiheit. Leben! Leben! Gehen wir doch nicht zum Leben, um unsre Erfüllung oder unser Erlebnis zu finden. Das Leben ist ein Ding, das von Umständen umschnürt ist, dessen Erscheinungsformen auseinanderklaffen und dem der schöne, untrennbare Zusammenhang von Form und Geist fehlt, der das einzige ist, was ein künstlerisches und kritisches Gemüt befriedigen kann. Das Leben verlangt zu viel für seine Waren, und wir erkaufen das geringste seiner Geheimnisse zu einem Preis, der grauenhaft und unsäglich ist.

Ernst: Müssen wir uns denn also um alles an die Kunst wenden?

Gilbert: Um alles. Weil die Kunst uns nicht weh tut. Die Tränen, die wir über ein Schauspiel vergießen, sind typisch für die erlesenen, zwecklosen Empfindungen, die zu erwecken das Amt der Kunst ist. Wir weinen, aber wir sind nicht verwundet. Wir haben Schmerz, aber unser Schmerz ist nicht bitter. Im tatsächlichen Menschenleben ist das Leiden, wie Spinoza einmal sagt, ein Weg zu einer Vollkommenheit niedrigeren Grades. Aber das Leiden, mit dem die Kunst uns erfüllt, reinigt uns und weiht uns zugleich, wenn ich noch einmal den großen [116] Kunstkritiker der Griechen zitieren darf. Durch die Kunst und allein durch die Kunst können wir unsre Vollendung erreichen; durch die Kunst und allein durch die Kunst können wir uns gegen die schmutzigen Gefahren des wirklichen Lebens wappnen. Dies ergibt sich nicht bloß aus der Tatsache, daß nichts, was man ersinnen kann, wert ist, getan zu werden, und daß man alles ersinnen kann, sondern aus dem feinen Gesetz, daß Gefühlskräfte ebenso wie die Kräfte der Körperwelt in ihrer Ausdehnung und Energie begrenzt sind. Man kann so und soviel fühlen und nicht mehr. Und was kann es ausmachen, mit welchen Genüssen das Leben einen an sich locken will, oder mit welchem Schmerz es einen lähmen und verderben will, wenn man in dem Schauspiel des Lebens derer, die nie gelebt haben, das wahre Geheimnis der Freude gefunden und seine Tränen über den Tod derer verschüttet hat, die, wie Cordelia und die Tochter des Brabantio, nie sterben können?

Ernst: Wart einen Augenblick. Mir scheint, daß in allem, was du gesagt hast, etwas tief Unmoralisches steckt.

Gilbert: Alle Kunst ist unmoralisch.

Ernst: Alle Kunst?

Gilbert: Ja, denn Empfindung um der Empfindung willen ist der Zweck der Kunst, und Empfindung um des Tuns willen ist der Zweck des Lebens und der praktischen Organisation des Lebens, die wir Gesellschaft nennen. Die Gesellschaft, die der Anfang und die Grundlage der Moral ist, ist lediglich für die Sammlung von Menschenenergie da, und um ihre eigene Fortdauer und ihre gesunde Stabilität zu sichern, verlangt sie, und ohne Frage mit Recht, von jedem einzelnen [117] Bürger, daß er irgend eine Form produktiver Arbeit für das Gemeinwohl beisteuert und sich müht und rackert, damit das Tagwerk getan werde. Die Gesellschaft verzeiht oft dem Verbrecher; sie verzeiht nie dem Träumer. Die schönen, zwecklosen Empfindungen, die die Kunst in uns aufregt, sind in ihren Augen hassenswürdig, und so völlig sind die Menschen von der Tyrannei dieses schrecklichen Gesellschaftsideals beherrscht, daß sie auf Ausstellungen und an andern Orten, die dem allgemeinen Publikum geöffnet sind, schamlos auf einen zukommen und mit lauter Stentorstimme fragen: „Was tun Sie?“ während doch: „Was denken Sie?“ die einzige Frage ist, die ein irgend gebildeter Mensch einem andern zuflüstern dürfte. Sie meinen es gut, ohne Zweifel, diese ehrenwerten, strahlenden Leute. Vielleicht ist das der Grund, warum sie so überaus langweilig sind. Aber irgend jemand sollte ihnen beibringen, daß zwar nach der Meinung der Gesellschaft Beschaulichkeit die schwerste Sünde ist, deren ein Bürger sich schuldig machen kann, daß aber nach der Meinung der höchsten Kultur sie das eigentliche Geschäft des Menschen ist.

Ernst: Beschaulichkeit?

Gilbert: Beschaulichkeit. Ich sagte dir vorhin, es sei viel schwerer, über eine Sache zu reden als sie zu tun. Laß mich dir jetzt sagen, daß ganz und gar nichts zu tun das schwerste Ding in der Welt ist, das schwerste und das geistigste. Für Platon und seine leidenschaftliche Hingebung an die Weisheit war dies die edelste Form der Energie. Für Aristoteles und seinen leidenschaftlichen Hang zum Wissen war dies ebenfalls die edelste Form der Energie. Dazu brachte die leidenschaftliche Sehnsucht nach der Heiligkeit die Heiligen und Mystiker der Zeiten des Mittelalters.

[118] Ernst: Wir haben also unser Dasein, um nichts zu tun?

Gilbert: Zum Nichtstun haben die Auserwählten ihr Dasein. Tun ist begrenzt und relativ. Unbegrenzt und absolut ist die Vision dessen, der still sitzt und wartet, der in Einsamkeit wandelt und träumt. Aber wir, die am Ende dieser wunderbaren Zeit geboren sind, sind zugleich zu gebildet und zu kritisch, zu feingeistig und zu verlangend nach erlesenen Genüssen, um irgend welche Spekulationen über das Leben an Stelle des Lebens selbst zu nehmen. Für uns ist die Citta divina farblos, und die fruitio Dei ohne Sinn. Die Metaphysik genügt unserm Temperament nicht, und religiöse Ekstase ist veraltet. Die Welt, durch die der akademische Philosoph dazu kommt, „alle Zeit und alles Sein zu gewahren“, ist nicht wirklich eine Idealwelt, sondern lediglich eine Welt abstrakter Ideen. Wenn wir uns ihr nahen, erfrieren wir in der eisigen Mathematik des Denkens. Die Straßen der Gottesstadt sind uns jetzt nicht geöffnet. Ihre Tore werden von der Ignoranz bewacht, und wenn wir passieren wollten, müßten wir alles abgeben, was in unsrer Natur höchst göttlich ist. Es ist genug, daß unsere Väter gläubig waren. Sie haben die Gläubigkeit der Spezies erschöpft. Ihr Vermächtnis an uns ist der Skeptizismus, vor dem ihnen bange war. Hätten sie ihn in Worte gebracht, er lebte in uns nicht als Gedanke. Nein, Ernst, nein. Wir können nicht zu den Heiligen zurückkehren. Es ist viel mehr vom Sünder zu lernen. Wir können nicht zum Philosophen zurückgehen, und der Mystiker leitet uns irre. Wer – Walter Pater sagt das einmal – möchte den Schwung eines einzigen Rosenblattes gegen das formlose, unfühlbare Sein eintauschen, das Platon so [119] hoch stellt? Was ist uns die Erleuchtung Philos, der Abgrund Eckharts, das Gesicht Böhmes, der monströse Himmel selbst, der Swedenborgs geblendeten Augen geöffnet war? Solche Dinge sind weniger als der gelbe Trichter einer einzigen Narzisse auf dem Felde, viel weniger als die geringste der sichtbaren Künste; denn gerade so wie die Natur Materie ist, die zum Geiste emporkämpft, so ist die Kunst Geist, der sich mit den Mitteln der Materie zum Ausdruck bringt, und so spricht sie selbst in ihren niedrigsten Erscheinungsformen zu Sinnen und Seele zugleich. Für das ästhetische Temperament ist das Unbestimmte immer abstoßend. Die Griechen waren ein Künstlervolk, weil sie ohne den Sinn fürs Unendliche auskamen. Wie Aristoteles, wie Goethe, nachdem er Kant gelesen hatte, sehnen wir uns nach dem Konkreten, und nichts als das Konkrete kann uns Genüge tun.

Ernst: Was also hat zu geschehen?

Gilbert: Mir scheint, daß wir mit dem Fortschreiten des kritischen Geistes imstande sein werden, nicht bloß unser eigenes Leben zu verwirklichen, sondern das Gesamtleben der Menschheit, und so uns völlig modern zu machen, im wahren Sinne dieses Wortes. Denn für wen die Gegenwart das einzige ist, was ihm gegenwärtig ist, der weiß nichts von der Zeit, in der er lebt. Um das neunzehnte Jahrhundert zu verwirklichen, muß man jedes Jahrhundert verwirklichen, das ihm vorhergegangen ist und zu seiner Entstehung beigetragen hat. Um überhaupt etwas von sich selbst zu wissen, muß man alles von andern wissen. Es darf keine Stimmung geben, mit der man nicht mitfühlen kann, keine gestorbene Art der Lebensführung, die man nicht lebendig machen kann. Ist das unmöglich? Ich glaube nicht. [120] Dadurch, daß es den absolut mechanischen Prozeß alles Handelns enthüllt und uns so von der selbstauferlegten und beengenden Last der moralischen Verantwortlichkeit befreit hat, ist das wissenschaftliche Prinzip der Vererbung sozusagen der Bürge des beschaulichen Lebens geworden. Es hat uns gezeigt, daß wir nie weniger frei sind, als wenn wir zu handeln versuchen. Die Vererbung hat uns mit den Netzen des Jägers umstellt und hat auf die Wand die Prophezeiung unsres Schicksals geschrieben. Wir können sie nicht gewahren, denn sie ist in uns. Wir können sie nicht sehen, außer in einem Spiegel, der die Seele spiegelt. Sie ist Nemesis ohne ihre Maske. Sie ist das letzte Fatum, und das schrecklichste. Sie ist der einzige von allen Göttern, dessen wirklichen Namen wir wissen.

Und doch, während sie im Bezirk des praktischen und äußeren Lebens die Energie ihrer Freiheit und das Handeln seiner Willkür beraubt hat, im Bezirke der Subjektivität, wo die Seele wirksam ist, kommt dieser schreckliche Schatten mit vielen Gaben zu uns, Gaben seltsamer Temperamente und verfeinerter Empfänglichkeit, Gaben wilder Gluten und kalter Stimmungen der Gleichgültigkeit, vielfachen, vielgestaltigen Gaben von Gedanken, die nicht zusammengehören, und von Leidenschaften, die gegeneinander streiten. Und so leben wir nicht unser eigenes Leben, sondern das Leben der Toten, und die Seele, die in uns lebt, ist nicht eine einzelne spirituelle Entität, die uns zur Person und zum Individuum macht, die zu unserm Dienst geschaffen wurde und, um uns zu erfreuen, in uns einging. Sie ist etwas, das an furchtbaren Orten geweilt hat und in alten Gräbern gehaust hat. Sie ist an vielen Krankheiten krank und hat Erinnerungen an seltsame Sünden. Sie ist [121] weiser als wir, und ihre Weisheit ist bitter. Sie erfüllt uns mit unmöglichem Verlangen, und schickt uns nach Zielen, deren Unerreichbarkeit uns bekannt ist. Eines aber, Ernst, kann sie für uns tun. Sie kann uns aus einem Milieu wegführen, dessen Schönheit uns vom Nebel der Vertraulichkeit getrübt ist, oder dessen niedrige Häßlichkeit und schmutzige Ansprüche die Vollendung unserer Entwickelung hemmen. Sie kann uns helfen, die Zeit zu verlassen, in der wir geboren sind, und zu andern Zeiten zu gehen und uns in ihrer Atmosphäre heimisch zu fühlen. Sie kann uns lehren, unserem Erleben zu entrinnen und das Erleben derer zu haben, die größer als wir sind. Der Schmerz Leopardis, der gegen das Leben aufschreit, wird unser Schmerz. Theokrit bläst auf seinem Rohr, und wir lachen aus dem Mund von Nymphe und Schafhirt. Im Wolfsfell Pierre Vidals fliehen wir vor den Hunden, und in der Rüstung Lancelots reiten wir aus dem Lustschloß der Königin. Wir haben das Geheimnis unserer Liebe Abälard ins Ohr geflüstert, und im beschmutzten Gewande Villons haben wir unsre Schande in Lieder verwandelt. Wir können die Dämmerung mit Shelleys Augen beschauen, und wenn wir mit Endymion wandern, verliebt sich der Mond in unsere Jugend. Unser ist die Qual des Atys, und unser die schwächliche Wut und die edeln Leiden des Dänenprinzen. Meinst du, es sei die Phantasie, die uns in stand setzt, diese zahllosen Leben zu leben? Ja, es ist die Phantasie, und die Phantasie ist das Ergebnis der Vererbung. Sie ist einfach konzentrierte Rassenerfahrung.

Ernst: Aber was spielt darin der kritische Geist für eine Rolle?

Gilbert: Die Kultur, die diese Überlieferung der Rasseerfahrungen [122] möglich macht, kann nur durch den kritischen Geist vollkommen gemacht werden, und man darf in der Tat sagen, daß sie eins mit ihm ist. Denn wer anders ist der wahre Kritiker als der, der in sich selbst die Träume und Ideen und Gefühle tausender Generationen trägt, und dem keine Form des Denkens fremd, keine Regung des Empfindens unbekannt ist? Und wer anders ist der wahre Kulturmensch als der, der durch eindringendes Studium und wählerische Heikelkeit den Instinkt bewußt und geistig gemacht hat, der das Werk, das Besonderheit hat, von dem zu trennen vermag, das sie nicht hat, und sich so durch Hineinfühlen und Vergleichung zum Meister der Geheimnisse des Stils und der Schulen gemacht hat, ihren innern Sinn versteht und auf ihre Stimmen lauscht und den Geist der interesselosen Neugier in sich hochbringt, der die wahre Wurzel wie die wahre Blüte des geistigen Lebens ist, und so sich zu geistiger Klarheit bringt, damit er, der nun das Beste gelernt hat, „was in der Welt gewußt und gedacht wird“, mit denen lebe – es ist nicht phantastisch, es so auszudrücken –, die die Unsterblichen sind.

Ja, Ernst: das beschauliche Leben, das Leben, das nicht Tun, sondern Sein zum Ziel hat, und nicht bloß Sein, sondern Werden – das kann der kritische Geist uns geben. Die Götter leben so: sie sinnen entweder über ihre eigene Vollkommenheit, wie Aristoteles uns sagt, oder sie betrachten, wie Epikuros dichtete, mit den ruhigen Augen des Zuschauers die Tragikomödie der Welt, die sie geschaffen haben. Auch wir könnten leben wie sie und unserm Leben die Aufgabe setzen, mit Empfindungen eigener Art den mannigfachen Szenen beizuwohnen, die der Mensch und die Natur darbieten. Wir [123] könnten uns zu Geistigen machen, wenn wir uns vom Handeln loslösten, und könnten vollkommen werden, wenn wir der Energie entsagten. Es kam mir oft so vor, als habe Browning etwas der Art gefühlt. Shakespeare stößt Hamlet ins tätige Leben und läßt ihn darangehen, seine Aufgabe durch Anstrengung seiner Kräfte zu erfüllen. Browning hätte uns einen Hamlet geben können, der seine Aufgabe durchs Denken erfüllt hätte. Vorfall und Ereignis waren für ihn unwirklich oder bedeutungslos. Er machte die Seele zum Protagonisten der Lebenstragödie und betrachtete die Handlung als den einzigen undramatischen Bestandteil eines Stückes. Für uns ist in jedem Fall der ΒΙΟΣ ΘΕΩΡΗΤΙΚΟΣ das wahre Ideal. Vom hohen Turm des Gedankens aus können wir die Welt überblicken. Geruhig und in sich gesammelt und als ein Vollständiger beschaut der ästhetisch Kritische das Leben, und kein Pfeil, den der Zufall schleudert, kann zwischen die Fugen seines Harnisch eindringen. Er zum wenigsten ist gesichert. Er hat entdeckt, wie man leben kann.

Ist solch eine Art der Lebensführung unmoralisch? Ja: alle Künste sind unmoralisch, mit Ausnahme der niedrigeren Formen der anschaulichen oder lehrhaften Kunst, die zu gutem oder bösem Handeln auffordern. Denn Handlung irgendwelcher Art gehört in das Gebiet der Ethik. Das Ziel der Kunst ist lediglich, eine Stimmung zu schaffen. Ist solch eine Art der Lebensführung unpraktisch? Ah! Es ist nicht so leicht, unpraktisch zu sein, wie der unwissende Philister sich einbildet. Es wäre gut für unser Land, wenn es so wäre. Es gibt kein Land in der Welt, das so sehr unpraktische Menschen nötig hat wie unsres. Bei uns ist das Denken durch seine unaufhörliche Verschwägerung mit der [124] Praxis minderwertig gemacht worden. Wer, der sich im Drang und der Plackerei des tatsächlichen Daseins aufhält, ein geräuschvoller Politiker oder ein keifender Sozialreformer oder ein armer, geistig beschränkter Priester, dem die Leiden des unwesentlichen Teils der Gemeinschaft, unter den ihn sein Los gestellt hat, die Augen verblenden, kann so einer ernsthaft von sich behaupten, er könne ein interesseloses geistiges Urteil über irgend eine Sache bilden? Beruf ist ein anderes Wort für Vorurteil. Die Notwendigkeit einer Karriere zwingt jeden, Partei zu ergreifen. Wir leben im Zeitalter der Arbeitsüberbürdung und des Bildungsmangels; in einem Zeitalter, in dem die Menschen so tätig sind, daß sie ganz und gar dumm werden. Und so hart es klingen mag, ich muß sagen, daß solche Menschen ihr Schicksal verdienen. Wer sicher gehen will, nichts vom Leben zu wissen, muß darauf aus sein, sich nützlich zu machen.

Ernst: Eine liebenswürdige Lehre das, Gilbert.

Gilbert: Ich bin mir nicht ganz sicher darüber, aber sie hat mindestens das geringere Verdienst, wahr zu sein. Daß das Verlangen, andern Gutes zu tun, eine Masse pedantische Gecken hervorbringt, ist das geringste Übel, an dem es schuld ist. Der Geck ist eine sehr interessante psychologische Erscheinung, und wenn schon von allen Posen die Moralpose die anstößigste ist, so ist es doch schon etwas, überhaupt eine Pose zu haben. Die Pose ist eine formelle Anerkennung, wie wichtig es ist, das Leben von einem bestimmten und überlegten Standpunkt zu nehmen. Daß das humanitäre Mitgefühl gegen die Natur streitet, indem es das Überleben der verfehlten Exemplare sichert, kann den Mann der Wissenschaft zum Abscheu gegen solche schwächliche Tugend bringen. [125] Der Nationalökonom kann sich heftig dagegen wenden, weil es den Leichtsinnigen ebensogut stellt wie den Fürsorglichen und so das Leben des stärksten, weil häßlichsten Antriebs zur Erwerbstätigkeit beraubt. Aber in den Augen des Denkers ist der wirkliche Schaden, den das empfindsame Mitgefühl tut, der, daß es das Wissen beschränkt und uns so verhindert, irgend ein soziales Problem zu lösen. Wir versuchen gerade jetzt, die kommende Krisis, die kommende Revolution, wie meine Freunde, die Fabier, sagen, mit Hilfe von Lebensmittelverteilungen und Almosen hintanzuhalten. Schön, wenn aber die Revolution oder die Krise kommt, werden wir machtlos dastehn, weil wir nichts wissen. Und darum, Ernst, täuschen wir uns nicht. Unser Land wird nie zivilisiert werden, bis es Utopia seinen Besitzungen hinzugefügt hat. Wir könnten mehr als eine unserer Kolonien mit Vorteil gegen dieses schöne Land eintauschen. Was wir brauchen, sind unpraktische Menschen, die über den Augenblick hinaussehen und über den Tag hinausdenken. Wer das Volk führen will, kann es nur tun, wenn er dem Pöbel folgt. Durch die Stimme eines, der in der Wüste schreit, werden die Wege der Götter bereitet.

Aber vielleicht denkst du, daß im Schauen um der bloßen Freude des Schauens willen und in der Beschaulichkeit um der Kontemplation willen etwas Egoistisches steckt. Wenn du das denkst, sage es nicht. Es braucht eine durch und durch selbstsüchtige Zeit, wie die unsrige ist, um die Selbstaufopferung zu vergöttlichen. Es braucht eine durchaus gewinnsüchtige Zeit, wie die ist, in der wir leben, um über die feinen, geistigen Tugenden solche leere empfindsame Tugenden zu stellen, die unmittelbar praktischer Nutzen an sich selbst sind. [126] Und dazu verfehlen sie noch ihr Ziel, diese Philanthropen und Sentimentalen von heutzutage, die einem immer von unserer Pflicht gegen unsern Nächsten erzählen. Denn der Fortschritt des Volkes hängt von dem Fortschritt des Individuums ab, und wo die Kultur der Persönlichkeit aufgehört hat, das Ideal zu sein, ist die Stufe des Geistes sofort niedriger geworden und oft völlig zugrunde gegangen. Wenn du in einer Gesellschaft einen Menschen triffst, der sein Leben damit verbracht hat, sich selbst zu erziehen – man trifft diesen Typus, ich gebe es zu, in unserer Zeit selten, aber doch noch manchmal – dann stehst du reicher vom Tisch auf und mit dem Bewußtsein, daß ein hohes Ideal für einen Augenblick dein Leben berührt und geheiligt hat. Aber oh! lieber Ernst, wenn man neben einem Menschen sitzt, der sein Leben damit verbracht hat, andere erziehen zu wollen! Was für ein schreckliches Begegnis ist das! Wie schauderhaft ist die Ignoranz, die das unausbleibliche Ergebnis der verhängnisvollen Gewohnheit ist, Ansichten aufdrängen zu wollen! Wie beschränkt zeigt sich der Geisteszustand eines solchen Menschenkindes! Wie langweilt er uns und muß sich selbst langweilen mit seinen endlosen, ekelhaften Wiederholungen! Wie fehlt ihm jede Anlage zu geistigem Wachstum! In was für Trugschlüssen bewegt er sich fortwährend!

Ernst: Du sprichst so seltsam gefühlvoll, Gilbert. Hast du so eine schreckliche Begegnung, wie du es nennst, in letzter Zeit gehabt?

Gilbert: Wenig Menschen kommen darum herum. Brave Leute sagen, der Schulmeister sei jetzt gottlob überall. Ich wollte, er wäre überall, nur nicht bei uns. Aber der Typus, von dem er schließlich nur ein Vertreter, und sicher der unwichtigste ist, scheint mir in [127] Wirklichkeit all unser Leben zu beherrschen; und gerade wie der Philanthrop der Schädling auf dem Gebiet der Moral ist, so ist der Schädling auf dem Gebiet des Geistes der Mann, der so viel damit zu tun hat, andere erziehen zu wollen, daß er nie die geringste Zeit gehabt hat, sich selbst zu erziehen. Nein Ernst, Ausbildung der Persönlichkeit ist das wahre Menschenideal. Goethe hat das gesehen, und was wir Goethe unmittelbar schuldig sind, ist mehr als wir irgend einem Menschen seit den Tagen der Griechen verdanken. Die Griechen haben es gesehen und haben uns als ihr Vermächtnis an das moderne Denken die Idee des beschaulichen Lebens sowohl wie die kritische Methode hinterlassen, durch die allein dieses Leben wahrhaft erreicht werden kann. Ausbildung der Persönlichkeit ist das eine Große, das die Renaissance gebracht hat und das uns den Humanismus gab. Ausbildung der Persönlichkeit ist das einzige, was auch unsere Zeit groß machen könnte; denn die wirkliche Schwäche unseres Landes liegt nicht in ungenügenden Rüstungen oder unbefestigten Küsten, nicht in der Armut, die durch sonnenlose Gassen schleicht, oder der Trunkenheit, die in ekelhaften Höfen brüllt, sondern lediglich in der Tatsache, daß seine Ideale sentimental und nicht geistig sind.

Ich leugne nicht, daß das geistige Ideal schwer zu erreichen ist, noch weniger, daß es bei der Masse unbeliebt ist und vielleicht noch viele Jahre sein wird. Es ist so leicht für die Menschen, mit Unglücklichen mitzufühlen. Es ist so schwer für sie, mit dem Denken mitzufühlen. Wirklich verstehen gewöhnliche Menschen so wenig, was Denken in Wahrheit ist, daß es scheint, sie bilden sich ein, sie hätten, wenn sie eine Theorie gefährlich nennen, damit ihr Urteil gesprochen, während [128] es nur eine Theorie ist, die überhaupt einen geistigen Wert hat. Eine Idee, die nicht gefährlich ist, verdient es nicht, überhaupt eine Idee zu heißen.

Ernst: Gilbert, du machst mich ganz wirr. Du hast mir gesagt, alle Kunst sei in ihrem Wesen unmoralisch. Willst du jetzt soweit gehen, zu behaupten, alles Denken sei in seinem Wesen gefährlich?

Gilbert: Ja, auf dem Gebiete der Praxis ist es das. Die Sicherheit der Gesellschaft beruht auf der Sitte und dem unbewußten Instinkt, und die Stabilität der Gesellschaft als eines gesunden Organismus ist nur gewährleistet, wenn es unter ihren Mitgliedern keinen hervorragenden Kopf gibt. Die große Mehrheit des Volkes sieht das völlig ein und, fügt sich natürlich dem herrlichen System ein, das sie zum Rang von Maschinen erhebt, und wütet so heftig gegen das Eindringen der Geistigkeit in irgend eine Frage, die das Leben betrifft, daß man versucht ist, eine Definition des Menschen zu geben, wonach er ein vernunftbegabtes Tier ist, das immer wild wird, wenn man es auffordert, in Übereinstimmung mit den Geboten der Vernunft zu handeln. Aber wir wollen das Gebiet der Praxis verlassen und nichts weiter von den elenden Philanthropen sagen, die wir ruhig dem mandeläugigen Philosophen vom Hoangho, dem weisen Chuang-Tsu überlassen können, der gezeigt hat, daß diese wohlmeinenden und widrigen Allerweltsbeglücker die schlichte und ursprüngliche Tugend, die im Menschen lebt, zerstört haben. Sie sind ein langweiliger Gegenstand, und ich beeile mich, in das Gebiet zurückzugelangen, in dem die Kritik eigentlich zu Hause ist.

Ernst: Das Gebiet des Geistes?

Gilbert: Ja. Du erinnerst dich, daß ich von dem Kritiker sprach, der in seiner Weise ebenso schöpferisch sei wie der [129] Künstler, dessen Werk in Wahrheit nur insofern von Wert sein kann, als es dem Kritiker eine Anregung für eine neue Stimmung des Denkens und Fühlens gibt, die er mit gleicher oder vielleicht größerer Besonderheit der Form verwirklichen und mit Hilfe eines neuen Ausdrucksmittels in anderer Art schön machen und vollkommener gestalten kann. Nun scheint mir, du denkst über meine Theorie etwas skeptisch. Oder tue ich dir unrecht?

Ernst: Ich denke nicht eigentlich skeptisch darüber, aber ich muß zugeben, daß ich sehr stark die Empfindung habe, so ein Werk, wie es der Kritiker nach deiner Darstellung hervorbringt – und schöpferisch muß dieses Werk ohne Frage heißen –, ist notwendigerweise rein subjektiv, während das größte Werk immer objektiv ist, objektiv und unpersönlich.

Gilbert: Der Unterschied zwischen einem objektiven und subjektiven Werk bezieht sich nur auf die äußere Form. Er ist zufällig, nicht wesentlich. Alles künstlerische Schaffen ist völlig subjektiv. Sogar die Landschaft, die Corot schaute, war, wie er selbst sagte, nur eine Stimmung seines eigenen Geistes; und die großen Gestalten des griechischen oder englischen Dramas, die eine tatsächliche Existenz von sich aus zu besitzen scheinen, unabhängig von den Dichtern, die sie hinstellten und formten, sind, wenn man sie aufs Letzte bringt, lediglich die Dichter selbst, nicht wie sie ihrer eigenen Meinung nach waren, sondern wie sie ihrer eigenen Meinung nach nicht waren und wie sie also gerade durch diese Meinung in seltsamer Weise, wenn schon nur für einen Augenblick, wirklich gewesen sind. Denn aus uns selbst können wir niemals herausgehn und ebensowenig kann in dem schöpferischen Werk etwas sein, was in dem Schaffenden nicht war. Ja, ich [130] möchte sagen, daß eine Schöpfung, je objektiver sie zu sein scheint, um so subjektiver in Wirklichkeit ist. Shakespeare konnte Rosenkranz und Güldenstern auf heller Straße in London treffen, oder er konnte beobachten, wie die Diener feindlicher Häuser sich auf offenem Platze prügelten; aber Hamlet kam aus seiner Seele und Romeo aus seiner Leidenschaft. Sie waren Elemente seiner Natur, denen er sichtbare Form gab, Gefühlsmomente, die so stark in ihm wogten, daß er es, ob er wollte oder nicht, dulden mußte, daß sie ihre Energien zur Verwirklichung brachten, und zwar nicht auf der niedrigeren Bühne des tatsächlichen Lebens, wo sie gefesselt und beengt und darum unvollkommen gewesen wären, sondern auf der Phantasiebühne der Kunst, wo die Liebe in Wahrheit im Tode ihre reiche Erfüllung finden kann, wo man den Horcher hinter der Tapete erstechen, und in einem eben gemachten Grabe ringen kann; wo man einen schuldigen König sein eigenes Verderben trinken läßt, und in Mondschein und Nebel seines Vaters Geist von Wall zu Wall schreiten sieht. Tun, da es beschränkt ist, würde Shakespeare unbefriedigt und ohne Ausdruck gelassen haben; und gerade wie er, weil er nichts tat, imstande war, alles zu vollbringen, so offenbaren seine Stücke uns völlig ihn selbst, weil er von sich selbst nie spricht, und darum zeigen sie uns seine wahre Natur und Gemütsart weit vollständiger als sogar jene seltsamen und köstlichen Sonette, in denen er für helle Augen den verschwiegenen Schrein seines Herzens auftut. Ja, so ist es: was in der Form das Objektivste ist, ist das Subjektivste im Stoff. Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er sagt die Wahrheit.

[131] Ernst: Der Kritiker also, da er sich doch auf die subjektive Form beschränken muß, ist notwendigerweise weniger imstande, sich voll zum Ausdruck zu bringen als der Künstler, dem immer die unpersönlichen und objektiven Formen zu Gebote stehen.

Gilbert: Nicht notwendigerweise, und sicher überhaupt nicht, wenn er erkennt, daß jede Art der Kritik in ihrer höchsten Erscheinungsform nur eine Stimmung ist, und daß wir nie uns selbst treuer sind, als wenn wir inkonsequent sind. Der ästhetische Kritiker, der nur dem Prinzip der Schönheit in allen Dingen treu ist, ist immer auf der Suche nach neuen Impressionen, lernt von den verschiedensten Richtungen in der Kunst das Geheimnis ihres Reizes und beugt sich wohl auch vor fremden Altären oder schenkt, wenn ihm der Sinn so steht, seltsamen neuen Göttern seine Gunst. Was andere Menschen unsere Vergangenheit nennen, hat ohne Zweifel mit ihnen alles mögliche zu tun, aber nicht das geringste mit uns selbst. Wer sich um seine Vergangenheit kümmert, verdient keine Zukunft zu haben, nach der er vorwärts blickt. Wenn man für eine Stimmung einen Ausdruck gefunden hat, ist man fertig mit ihr. Du lachst; aber glaube mir, es ist so. Gestern hat uns der Realismus entzückt. Wir verdankten ihm den nouveau frisson, den hervorzubringen seine Aufgabe war. Wir analysierten ihn, erklärten ihn und wurden ihn satt. Am Ende des Tages kam der Luministe in der Malerei, der Symboliste in der Dichtung, und der Geist des Mittelalters, ein Geist, der nicht einer Zeit, sondern dem Gemüt angehört, erwachte plötzlich im gepeinigten Rußland und nahm uns einen Augenblick mit dem furchtbaren Reize des Schmerzes hin. Heute ertönt der Ruf nach Romantik, und schon zittern die Blätter im Tale, [132] und auf den Bergen schreitet die Schönheit mit schmalen, goldenen Füßen. Die alten Arten des Schaffens sind natürlich noch nicht gestorben. Die Künstler kopieren entweder sich selbst oder einander in langweiliger Wiederholung. Aber die Kritik ist immer in Bewegung, und der Kritiker steht nie stille.

Auch ist ferner der Kritiker nicht wirklich auf die subjektive Ausdrucksform beschränkt. Ihm gehört nicht bloß die epische, sondern ebensowohl die dramatische Form. Er kann den Dialog anwenden, wie es der tat, der Milton mit Marvel über den Charakter der Komödie und Tragödie diskutieren und Sidney und Lord Brooke unter den Eichen von Penhurst über Wissenschaften und Künste sich besprechen ließ; oder er kann die erzählende Form wählen, wie es Walter Pater gerne tut, von dessen „Imaginary Portraits“ – so heißt das Buch doch? – jedes einzelne uns in der phantastischen dichterischen Einkleidung ein schönes und köstliches kritisches Stück bietet: eins über den Maler Watteau, ein anderes über die Philosophie Spinozas, ein drittes über die heidnischen Elemente in der Frührenaissance, und das letzte und in manchem Betracht wirkungsvollste über die Herkunft der Aufklärung, die im letzten Jahrhundert in Deutschland heraufkam und der unsere Kultur so viel verdankt. Sicher kann der Dialog, diese entzückende literarische Form, die von Plato zu Lucian und von Lucian zu Giordano Bruno, und von Bruno zu dem großen alten Heiden, an dem Carlyle so viel Freude fand, die schöpferischen Kritiker der Welt immer angewandt haben, für den Denker nie seine Anziehung als Ausdrucksmittel verlieren. Vermittelst des Dialogs kann er sich zeigen, wie er ist, und kann sich verstecken und jeder Laune Form und jeder Stimmung Ausdruck geben. Vermittelst [133] des Dialogs kann er das Objekt von jedem Standpunkt beleuchten und es uns von allen Seiten zeigen, wie uns der Bildhauer die Gegenstände zeigt, und er gewinnt durch diese Methode allen Reichtum und alle Wirklichkeit der Wirkung mit Hilfe der Seitenwege, die sich im Fortschreiten des Hauptgedankens auftun und den Gedanken in Wahrheit vollständiger ins Licht setzen, oder mit Hilfe glücklicher nachträglicher Einfälle, die das Hauptthema reicher zutage fördern und dabei etwas von dem köstlichen Reiz des Zufalls haben.

Ernst: Und vermittelst des Dialogs kann er auch einen nicht vorhandenen Gegner erfinden, und ihn, wenn er will, durch irgend eine absurd sophistische Beweisführung bekehren.

Gilbert: Ach! Es ist so leicht, andere zu bekehren. Es ist so schwer, sich selbst zu bekehren. Um zu dem zu gelangen, was man wirklich glaubt, muß man mit Zungen sprechen, die nicht die eigenen sind. Um die Wahrheit zu kennen, muß man tausenderlei Falsches ersinnen. Denn was ist Wahrheit? In der Religion ist sie lediglich die Meinung, die sich überlebt hat. In der Wissenschaft ist sie die letzte Entdeckung. In der Kunst ist sie unsre letzte Stimmung. Und so siehst du jetzt, Ernst, daß dem Kritiker ebenso viele objektive Ausdrucksformen zu Gebote stehen wie dem Künstler. Ruskin brachte seine Kritik in die Form dichterischer Prosa und ist in seinen Wandlungen und Widersprüchen unübertrefflich; und Browning brachte die seine in Blankverse, und Maler und Dichter mußten uns darin ihr Geheimnis ausliefern; Renan benutzt den Dialog und Pater die novellistische Form, und Rossetti übersetzte die Farbe Giorgiones und die Zeichnung Ingres’ und ebenso seine eigene Farbe und Zeichnung in die Musik des Sonetts; [134] denn er fühlte mit dem Instinkt eines Mannes, der mehrerlei Ausdrucksformen beherrschte, daß die höchste Kunst die Literatur ist, und das intimste und stärkste Ausdrucksmittel die Worte sind.

Ernst: Gut, du hast nun dargetan, daß dem Kritiker alle objektiven Formen zu Gebote stehn; jetzt möchte ich etwas über die Eigenschaften hören, die für den wahren Kritiker kennzeichnend sind.

Gilbert: Was würdest du als solche nennen?

Ernst: Nun, ich meine, ein Kritiker sollte vor allen Dingen gerecht sein.

Gilbert: Ach! nicht gerecht. Ein Kritiker kann nicht gerecht sein im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Nur über Dinge, die einen nicht interessieren, kann man eine wirklich unparteiische Meinung aussprechen, was ohne Zweifel der Grund ist, warum eine unparteiische Meinung immer ganz und gar wertlos ist. Wer beide Seiten einer Frage sieht, sieht überhaupt gar nichts. Kunst ist eine Sache der Empfindung, und in Kunstdingen ist der Gedanke unausbleiblich vom Gefühl gefärbt und ist so eher fließend als fest und kann, da er von feinen Stimmungen und seltenen Augenblicken abhängt, nicht in die Starrheit einer wissenschaftlichen Formel oder eines theologischen Dogmas gepreßt werden. An was die Kunst sich wendet, ist die Seele, und die Seele kann ebenso Gefangener des Geistes werden als des Körpers. Man sollte natürlich keine Vorurteile haben; aber wie ein großer Franzose vor hundert Jahren bemerkte, geschieht es einem in diesen Dingen, daß man die oder jene Vorliebe hat, und wenn man eine Vorliebe hat, hört man auf, gerecht zu sein. Nur ein Auktionator auf einer Kunstversteigerung kann in gleicher Weise und unparteiisch alle Richtungen in der Kunst bewundern. [135] Nein, Gerechtigkeit ist keine der Eigenschaften des wahren Kritikers. Sie ist nicht einmal eine Bedingung der kritischen Tätigkeit. Jede Kunstform, mit der wir in Berührung kommen, beherrscht uns für den Moment bis zum Ausschluß jeder andern Form. Wir müssen uns dem Werk, es mag sein, wie es will, ganz und gar hingeben, wenn wir hinter sein Geheimnis kommen wollen. Solange dürfen, können wir fürwahr an nichts anderes denken.

Ernst: Der wahre Kritiker wird jedenfalls vernünftig sein; oder auch das nicht?

Gilbert: Vernünftig? Es gibt zwei Wege, Ernst, die Kunst nicht zu lieben. Der eine ist, sie nicht zu lieben. Der andre ist, sie vernünftig zu lieben. Denn die Kunst schafft, wie Plato nicht ohne Bedauern erkannt hat, im Zuhörer und Zuschauer eine Art göttlichen Wahnsinns. Sie entspringt nicht aus der Inspiration, aber sie versetzt die andern in diesen Zustand. Vernunft ist nicht die Kategorie, an die sie sich wendet. Wenn man die Kunst überhaupt liebt, muß man sie über alles in der Welt lieben, und gegen solche Liebe würde die Vernunft, wenn man auf sie hörte, rebellieren. Der Kultus der Schönheit hat nichts mit gesundem Verstand zu tun. Sie ist zu herrlich, um verständig zu sein. In wessen Leben sie eine beherrschende Rolle spielt, der wird der Welt immer ein wahnwitziger Schwärmer scheinen.

Ernst: Nun, mindestens wird der Kritiker ehrlich sein.

Gilbert: Ein bißchen Ehrlichkeit ist eine gefährliche Sache, und sehr viel davon ist schon völlig verhängnisvoll. Der wahre Kritiker ist selbstverständlich in seiner Hingebung an das Prinzip der Schönheit immer ehrlich, aber er sucht nach der Schönheit in jedem Zeitalter und in jeder Richtung und duldet nie, daß er durch [136] eine festgesetzte Denksitte oder starr gewordene Anschauungsart sich selber beschränke. Er verwirklicht sich in vielen Formen und auf tausend verschiedenen Wegen und ist immer neugierig auf neue Erlebnisse seiner Sinne und andere Standpunkte. Durch fortwährende Wandlung und allein dadurch findet er seine wahre Einheit. Er wird nie darein willigen, Sklave seiner eigenen Meinungen zu sein. Denn was ist Geist anders als Bewegung im Gebiete des Geistes? Das Wesen des Denkens wie das Wesen des Lebens ist Wachstum. Du mußt dich nicht durch Worte erschrecken lassen, Ernst. Was die Menschen Unehrlichkeit nennen, ist einfach ein Verfahren, durch das wir die Personen in uns vervielfachen können.

Ernst: Ich fürchte, ich bin mit den Attributen, die ich angab, nicht glücklich gewesen.

Gilbert: Von den drei Eigenschaften, die du nanntest, waren zwei, wenn nicht gänzlich moralisch, doch mindestens auf dem Grenzgebiet der Moral, und die erste Bedingung für die Kritik ist, daß der Kritiker einsehen kann, daß das Gebiet der Kunst und das Gebiet der Moral völlig getrennt und verschieden sind. Wenn sie durcheinander gebracht werden, bricht das Chaos wieder herein. Sie werden bei uns jetzt zu oft durcheinander gebracht, und obwohl unsre modernen Puritaner ein schönes Ding nicht wirklich zerstören können, können sie doch mit Hilfe ihrer außergewöhnlichen Lüsternheit die Schönheit vorübergehend beflecken. Hauptsächlich, ich muß es leider sagen, kommen diese Menschen durch den Journalismus zu Worte. Ich bedaure es, weil viel zugunsten des modernen Journalismus zu sagen ist. Er teilt uns die Meinungen der Ungebildeten mit und hält uns so auf dem laufenden über die Ignoranz der Gemeinschaft. [137] Er berichtet sorgsam die Vorfälle des gegenwärtigen Lebens und zeigt uns dadurch, von wie sehr geringer Bedeutung diese Vorfälle tatsächlich sind. Er erörtert unweigerlich das Überflüssige und läßt uns dadurch verstehen, welche Dinge für die Kultur erforderlich sind und welche nicht. Aber er sollte dem armseligen Tartuffe nicht erlauben, Artikel über moderne Kunst zu schreiben. Wenn er das tut, macht er sich lächerlich. Und doch haben Tartuffes Artikel und Chadbands Notizen wenigstens ein Gutes. Sie dienen dazu, zu zeigen, wie äußerst beschränkt die Domäne ist, in der die Moral und moralische Erwägungen einen Einfluß auszuüben beanspruchen dürfen. Die Wissenschaft ist außerhalb des Bereichs der Moral, denn ihre Augen sind auf ewige Wahrheiten gerichtet. Die Kunst ist außerhalb des Bereichs der Moral, denn ihre Augen sind auf schöne und unsterbliche und ewig wechselnde Dinge gerichtet. Zur Moral gehören die niedrigeren und weniger geistigen Gebiete. Indessen lassen wir diese puritanischen Schreier; sie haben ihre komische Seite. Wer kann sich des Lachens enthalten, wenn ein gewöhnlicher Journalist ernsthaft verschlägt, das Stoffgebiet, das dem Künstler zur Verfügung steht, zu beschränken? Einige Beschränkung könnte wohl und wird hoffentlich bald einigen unserer Zeitungen und Zeitungsschreiber auferlegt werden, denn sie geben uns die nackten, schmutzigen, widerwärtigen Tatsachen des Lebens. Sie berichten mit gemeiner Gier die Sünden der Menschen zweiten Ranges und geben uns mit der Gewissenhaftigkeit des schreibenden Pfuschers genaue und prosaische Einzelheiten über das Tun und Treiben von Menschen ohne irgend welches Interesse. Aber der Künstler, der die Tatsachen des Lebens akzeptiert und [138] sie doch in Gestalten der Schönheit verwandelt und sie zu Trägern von Mitleid oder Furcht macht und ihr Farbenelement und ihr Seltsames und auch ihren wahren ethischen Sinn aufdeckt und aus ihnen eine Welt baut, die wirklicher ist als die Wirklichkeit selbst und von stolzerer und edlerer Bedeutsamkeit – wer soll ihm Schranken setzen? Nicht die Apostel dieses neuen Journalismus, der doch nur der alte breitgetretene Quark ist. Nicht die Apostel dieses neuen Puritanismus, der bloß das Gewinsel des Heuchlers ist. Schon die Vorstellung bringt zum Lachen. Lassen wir dieses elende Volk und gehen zur Erörterung der künstlerischen Eigenschaften über, die der wahre Kritiker haben muß.

Ernst: Und was sind das für Eigenschaften? Sag es mir selbst.

Gilbert: Temperament ist das erste Erfordernis des Kritikers – ein Temperament, das für die Schönheit und die mannigfachen Impressionen, die die Schönheit uns gibt, selten empfänglich ist. Unter was für Bedingungen und durch welche Mittel dieses Temperament in einem Volke oder Individuum erzeugt wird, wollen wir jetzt nicht untersuchen. Es genügt festzustellen, daß es da ist, und daß in uns ein Schönheitssinn vorhanden ist, der von den andern Sinnen getrennt ist und über ihnen steht, der von der Vernunft getrennt und von edlerer Art ist, der von der Seele getrennt und von gleichem Wert ist – ein Sinn, der einige zum Schaffen und andere, die ich für die feineren Geister halte, zur bloßen Kontemplation führt. Aber um rein und vollkommen zu werden, bedarf dieser Sinn einer ausgesuchten Umgebung in irgendeiner Gestalt. Ohne das geht er zugrunde oder wird taub. Du erinnerst dich an die entzückende Stelle, an der Plato beschreibt, wie [139] ein junger Grieche ausgebildet werden soll, und mit welcher Eindringlichkeit er die Bedeutung des Milieus betont und uns darstellt, wie der Jüngling inmitten schöner Dinge für Auge und Ohr aufwachsen muß, auf daß die Schönheit körperlicher Dinge seine Seele zur Aufnahme der Schönheit, die geistig ist, vorbereiten könne. Unmerklich und ohne den Grund warum zu kennen, soll er die wahrhafte Liebe zur Schönheit in sich entwickeln, die, wie Plato nie müde wird, uns einzuprägen, das wahre Ziel der Ausbildung ist. Allmählich und stufenweise soll in ihm ein Temperament erzeugt werden, das ihn in natürlicher und einfacher Art dahin führen soll, das Gute dem Schlechten vorzuziehen, das Gemeine und Unharmonische zu verschmähen und in feinem instinktiven Geschmack all dem nachzugehn, was Grazie und Zauber und Lieblichkeit besitzt. Schließlich, in seinem rechten Walten soll dieser Geschmack kritisch und bewußt werden, aber zuerst soll er rein als gebildeter Instinkt da sein, und „wer diese wahre Bildung des inneren Menschen angenommen hat, wird in klarer und sicherer Anschauung die Lücken und Fehler in Kunst oder Natur gewahren, und während er das Gute lobt, seine Freude daran findet und es in seine Seele aufnimmt und so gut und adlig wird, wird er in unbeirrbarem Geschmack schon in den Tagen der Jugend, noch bevor er imstande ist, den Grund warum zu wissen, in rechter Art das Schlechte tadeln und hassen“ und so wird er später, wenn der kritische und bewußte Geist sich in ihm entfaltet, „ihn als einen Freund erkennen und grüßen, mit dem seine Ausbildung ihn lange vertraut gemacht hat.“ Ich brauche kaum zu sagen, Ernst, wie sehr wir bei uns hinter diesem Ideal zurückbleiben, und ich sehe das Lächeln [140] vor mir, das das glatte Gesicht des Philisters erhellen würde, wenn einer es unternähme, ihm beibringen zu wollen, das wahre Ziel der Erziehung sei die Liebe zur Schönheit, und das Verfahren, mit dem die Erziehung zu Werke gehn sollte, sei die Ausbildung des Temperaments, die Pflege des Geschmacks und die Erzeugung des kritischen Geistes.

Doch sogar auch für uns ist einige Schönheit der Umgebung übrig geblieben, und der Stumpfsinn von Hofmeistern und Professoren verschlägt sehr wenig, wenn man in den grauen Klostergängen von St. Magdalen sich ergehen und einer flötengleichen Stimme in Waynfleetes Kapelle lauschen kann oder auf der grünen Wiese mitten unter den seltsamen, wie Schlangenhaut gesprenkelten Kaiserkronen liegen und betrachten kann, wie der Sonnenbrand des Mittags die vergoldeten Wetterhähne des Turms zu leuchtenderem Golde schlägt, oder wenn man die Treppe von Christ Church unter die düsteren Fächer des Gewölbes hinaufsteigen oder durch das reichgeschmückte Tor von Lauds Bauwerk im College von St. John gehen kann. Aber nicht nur in Oxford oder Cambridge kann der Schönheitssinn gebildet und erzogen und vollendet werden. In ganz England erwacht eine Renaissance der dekorativen Künste. Die Stunde der Häßlichkeit hat geschlagen. Selbst in den Häusern der Reichen findet man Geschmack, und die Häuser derer, die nicht reich sind, sind freundlich, hübsch und behaglich gemacht worden. Caliban, der arme laute Caliban denkt, daß eine Sache, wenn er aufhört, über sie Gesichter zu schneiden, nicht mehr da ist. Doch wenn er nicht mehr höhnt, so deshalb, weil man ihm mit Hohn begegnet ist, der beißender und schärfer als sein eigener ist, und er für eine kurze Weile [141] in ein Schweigen gewiesen wurde, das ihm für immer den ungewaschenen Mund schließen sollte. Was bis jetzt geschehen ist, war hauptsächlich Bahnen des Wegs. Es ist immer schwerer zu zerstören als zu schaffen, und wenn das, was man zu zerstören hat, Gewöhnlichkeit und Dummheit ist, so erfordert die Zerstörungsarbeit nicht nur Mut, sondern sogar Verachtung gegen alles, was im Wege steht. Doch scheint es, daß wir in der Hauptsache hindurch sind. Wir sind das Schlechte losgeworden. Wir haben jetzt das Schöne zu machen. Und obwohl die Aufgabe der ästhetischen Bewegung ist, die Menschen zur Beschaulichkeit zu verlocken, nicht, sie zum Schaffen zu bringen, so ist doch, da der schöpferische Trieb im Kelten stark ist und da es der Kelte ist, der in der Kunst die Führung hat, kein Grund, warum nicht in künftigen Jahren diese seltsame Renaissance in ihrer Art fast ebenso mächtig werden sollte als die Wiedergeburt der Kunst, die vor etlichen Jahrhunderten in den Städten Italiens erwachte.

Ohne Frage, um der Ausbildung des Temperamentes willen müssen wir uns an die dekorativen Künste wenden: an die Künste, die uns unmittelbar berühren, nicht an die Künste, die uns belehren. Moderne Bilder sind ohne Zweifel schön anzusehen. Wenigstens einige. Aber es ist ganz unmöglich, mit ihnen zu leben; sie sind zu gescheit, zu aussagend, zu verstandesmäßig. Ihr Sinn ist zu selbstverständlich, und ihre Art, sich zu geben, zu klar umrissen. Man erschöpft, was sie zu sagen haben, in sehr kurzer Zeit, und dann werden sie so langweilig wie Verwandte. Ich liebe das Werk mancher impressionistischen Maler in Paris und London sehr. Feinheit und Geschmack sind der Schule immer noch treu geblieben. Einige ihrer Arrangements und [142] Harmonien können einen an die unerreichbare Schönheit von Gautiers Symphonie en Blanc Majeur erinnern, dieses makellose Meisterwerk der Farbe und Musik, das vielleicht das Vorbild des Typus wie der Namen mancher ihrer besten Bilder gewesen sein mag. Für eine Menschenklasse, die den Dilettanten mit freundlicher Eilfertigkeit begrüßt und das Bizarre mit dem Schönen verwechselt, haben sie es erstaunlich weit gebracht. Sie können Radierungen machen, die glänzend wie Epigramme sind, Pastelle, die wie Paradoxa bezaubern, und was ihre Porträts angeht, so kann niemand leugnen, die Abgedroschenheit mag gegen sie sagen, was sie will, daß sie den einzigen und wundervollen Reiz haben, wie er den Werken reiner Dichtung zukommt. Aber auch die Impressionisten, so ernst und fleißig sie sind, genügen nicht. Ich liebe sie. Ihr weißer Grundton, mit ihren Variationen in Lila, hat in der Farbengebung Epoche gemacht. Obwohl der Moment nicht den Mann macht, macht doch ohne Frage der Moment den Impressionisten, und was kann nicht für den Moment in der Kunst, und für das „Monument des Moments“, wie Rossetti es ausdrückte, gesagt werden? Sie haben auch Wirkung getan. Wenn sie nicht den Blinden die Augen geöffnet haben, so haben sie wenigstens die Kurzsichtigen sehr ermutigt, und wenn schon ihre Führer alle Unerfahrenheit alter Leute haben mögen, so sind doch ihre jungen Leute viel zu weise, um je vernünftig zu werden. Jedoch bestehen sie dauernd darauf, mit der Malerei umzugehen, als ob sie eine Art Selbstbiographie zum Nutzen derer wäre, die nicht lesen können, und sie schwatzen uns auf ihren rauben, grießigen Leinwänden immer von ihren überflüssigen Personen und gleichgültigen Meinungen, und verderben durch eine [143] recht ordinäre Übertreibung die feine Verachtung der Natur, die das Beste und das allein Bescheidene an ihnen ist. Man wird am Ende der Werke von Individuen müde, deren Individualität immer geräuschvoll und selten interessant ist. Viel mehr ist zugunsten der neueren Pariser Schule, der Archaicistes, wie sie sich nennen, zu sagen, die es ablehnen, den Künstler gänzlich vom Wetter abhängig zu machen und daher das Ideal der Kunst nicht bloß in atmosphärischen Wirkungen suchen, sondern mehr der poetischen Schönheit der Zeichnung und dem Zauber schöner Farbe nachtrachten; sie lehnen den öden Realismus derer, die bloß malen, was sie sehen, ab und suchen etwas zu sehen, was des Sehens wert ist, und es nicht nur mit ihren äußerlichen, körperlichen Augen zu sehen, sondern mit der edleren Anschauung der Seele, deren geistiges Gesichtsfeld ebensoviel weiter ist wie das, was auf den Wegen der Seele angelegt und vollbracht wird, herrlicher ist. Jedenfalls arbeiten sie unter dem dekorativen Zwange, den jede Kunst zu ihrer Vollkommenheit braucht, und haben soviel ästhetischen Instinkt, um die schmutzigen und dummen Beschränkungen, die der Wunsch, absolut modern zu sein, der Kunst auferlegt, nicht leiden zu wollen, Beschränkungen, an denen nicht wenige unter den Impressionisten zugrunde gegangen sind. Doch die Kunst, die frei heraus und völlig dekorativ ist, das ist die Kunst, mit der man leben mag. Sie ist unter allen sichtbaren Künsten die einzige Kunst, die Stimmung und Temperament in uns erzeugt. Reine Farbe, die nicht von einer Bedeutung befleckt ist und nicht mit bestimmter Form verbunden ist, kann auf tausend verschiedenen Wegen zur Seele sprechen. Die Harmonie, die in den köstlichen Verhältnissen von Linien und [144] Massen wohnt, wird im Geist widergespiegelt. Die Wiederholungen des Musters geben uns Ruhe. Die Wunder der Zeichnung beschwingen die Phantasie. Schon in dem bloßen Zauber des Materials, das verwandt wird, liegen Elemente der Kultur. Und das ist nicht alles. Durch ihre bewußte Weigerung, die Natur als Schönheitsideal anzuerkennen oder der Nachahmungsmethode des gewöhnlichen Malers zu folgen, bereitet die dekorative Kunst nicht nur die Seele darauf vor, Werke wahrhaft poetischer Kunst zu empfangen, sondern sie bringt in ihr auch den Sinn für Form heraus, der die Grundlage des schöpferischen und ebenso des kritischen Vollbringens ist. Denn ein wahrer Künstler ist, wer nicht vom Gefühl zur Form, sondern von der Form zu Geist und Pathos vorwärts geht. Er konzipiert nicht erst eine Idee und sagt dann zu sich: „Ich bringe meine Idee in ein zusammengehöriges Strophengebilde von vierzehn Zeilen“, sondern er ist der Schönheit des Sonettenschemas inne, konzipiert gewisse Sprachmelodien und Reimweisen, und die reine Form führt dann mit sich, womit sie sich erfülle und sich für Geist und Empfindung fertig ergänze. Von Zeit zu Zeit schimpft die Welt auf den oder jenen bezaubernden Künstler-Dichter, weil er, wie es in ihrer abgedroschenen, albernen Wendung heißt, „nichts zu sagen hat.“ Aber wenn er etwas zu sagen hätte, täte er es wahrscheinlich, und das Resultat wäre erbarmungswürdig. Gerade weil er nichts Neues zu künden hat, kann er ein schönes Werk schaffen. Er nimmt seine Inspiration aus der Form, lediglich aus der Form, wie es dem Künstler ziemt. Eine wirkliche Leidenschaft würde ihn zugrunde richten. Alles, was tatsächlich vorfällt, ist für die Kunst verdorben. Alle schlechte Poesie kommt von [145] ursprünglichem Gefühl. Natürlich sein heißt trivial sein, und trivial sein heißt unkünstlerisch sein.

Ernst: Ob du wirklich glaubst, was du sagst?

Gilbert: Warum zweifelst du? Nicht nur in der Kunst ist es so, daß der Körper die Seele ist. Auf jedem Gebiet des Lebens ist die Form der Anfang aller Dinge. Die rhythmischen harmonischen Bewegungen des Tanzes bringen, Plato sagt es uns, Rhythmus und Harmonie in den Geist. Formen sind die Nahrung des Glaubens, rief Newman in einem der großen Augenblicke der Ehrlichkeit, an denen wir den Mann erkannten und um derentwillen wir ihn bewunderten. Er hatte recht, obwohl er vielleicht nicht gewußt hat, wie furchtbar er recht hatte. Die Dogmen werden geglaubt, nicht weil sie vernünftig sind, sondern weil sie immer wiederholt werden. Jawohl: Form ist alles. Sie ist das Geheimnis des Lebens. Finde einem Schmerz Ausdruck, und du gewinnst ihn lieb. Finde einer Freude Ausdruck, und du verstärkst ihre Ekstase. Möchtest du lieben? Bediene dich der ewigen Litanei der Liebe, und die Worte erzeugen das Schmachten, von dem die Welt wähnt, es erzeuge die Worte. Hast du einen Kummer, der dein Herz zerfrißt? Tauche dich in die Sprache des Kummers, lerne seine Ausdrucksformen von Prinz Hamlet und Königin Konstanze, und du merkst, schon der Ausdruck ist eine Art Tröstung, und die Form, die die Gebärerin der Leidenschaft ist, ist auch der Tod des Leidens. Und so, damit wir in das Gebiet der Kunst zurückkehren, ist es die Form, die nicht nur das kritische Temperament, sondern auch den ästhetischen Instinkt erzeugt, diesen unfehlbaren Instinkt, der einem alle Dinge in der Gestalt der Schönheit offenbart. Gehe vom Kultus der Form aus, und es gibt kein Geheimnis [146] in der Kunst, das sich dir nicht enthüllt, und denke daran, daß in der Kritik wie in der schöpferischen Kunst das Temperament alles ist, und daß die Richtungen der Kunst nicht nach der Zeit ihres Entstehens, sondern nach den Temperamenten, an die sie sich wenden, historisch geordnet werden sollten.

Ernst: Deine Erziehungstheorie ist köstlich. Aber was für einen Einfluß wird dein Kritiker, der in dieser erlesenen Umgebung aufwächst, besitzen? Glaubst du wirklich, daß ein Künstler je von der Kritik berührt wurde?

Gilbert: Der Einfluß des Kritikers wird die bloße Tatsache seiner Existenz sein. Er repräsentiert den reinen Typus. In ihm sieht sich die Kultur des Jahrhunderts verwirklicht. Du mußt nicht von ihm erwarten, daß er irgend ein anderes Ziel habe als die Vervollkommnung seiner selbst. Die Forderung des Geistes ist, wie gut gesagt worden ist, lediglich, sich lebendig zu fühlen. Der Kritiker kann in der Tat den Wunsch haben, Einfluß auszuüben, aber, wenn das so ist, befaßt er sich nicht mit dem Individuum, sondern mit dem Zeitalter, das er zur Bewußtheit erwecken und sich entsprechend machen will, indem er in ihm neue Wünsche und Gelüste hervorruft und ihm sein eigenes weiteres Schauen und seine edleren Stimmungen leiht. Die gegenwärtige Kunst beschäftigt ihn weniger als die Kunst von morgen, weit weniger als die Kunst von gestern, und was den oder jenen Menschen angeht, der es sich zurzeit sauer werden läßt, was gehen ihn diese fleißigen Leute an? Sie tun ohne Frage ihr Bestes, und so ist es in Ordnung, daß wir das Schlechteste von ihnen empfangen. Mit dem besten Willen wird immer das schlechteste Werk getan. Und überdies, lieber Ernst, wenn ein Mann [147] an den Vierzigern ist oder Mitglied der Akademie wird, oder ein anerkannt beliebter Romanschriftsteller ist, dessen Bücher bei den Bahnhofsbuchhändlern der Provinz reißend abgehen, kann man sich das Vergnügen machen, ihm zu zeigen, wie er ist, aber man muß auf den Genuß verzichten, ihn zu bessern. Und das ist, wie ich wohl sagen darf, ein Glück für ihn; denn ich hege keinen Zweifel, daß Besserung eine viel schmerzlichere Prozedur ist als Strafe, in Wahrheit die schwerste und moralischste Form der Strafe ist – aus welcher Tatsache es sich erklärt, daß die Besserungsversuche der Gesellschaft an dem interessanten Typus, den man Gewohnheitsverbrecher nennt, so gänzlich fehlgeschlagen sind.

Ernst: Aber könnte es nicht sein, daß der Dichter der beste Beurteiler der Dichtung, und so der Maler der Malerei ist? Jede Kunst sollte in erster Linie sich an den Künstler wenden, der in ihr tätig ist. Sein Urteil wird doch gewiß das wertvollste sein?

Gilbert: Alle Kunst wendet sich lediglich an das künstlerische Temperament. Die Kunst richtet sich nicht an den Spezialisten. Sie beansprucht, universal und in all ihren Erscheinungsformen eins zu sein. In Wahrheit ist der Künstler so wenig der beste Kunstrichter, daß ein wirklich großer Künstler niemals die Werke anderer und in der Tat kaum seine eigenen beurteilen kann. Gerade die Konzentration der Anschauung, die jemanden zum Künstler macht, beeinträchtigt eben durch ihre Intensität seine Urteilsfähigkeit. Die Energie des Schaffens treibt ihn blindlings weiter bis zu seinem Ziel. Die Räder seines Wagens wirbeln den Staub wie eine Wolke rings um ihn. Die Götter sind vor einander verborgen. Sie können ihre Verehrer erkennen. Weiter nichts.

Ernst: Du sagst, ein großer Künstler könne die Schönheit [148] eines Werkes, das nicht sein eigenes ist, nicht erkennen?

Gilbert: Ja, das ist unmöglich. Wordsworth sah in Keats „Endymion“ nur ein hübsches Stück Heidentum, und Shelley mit seiner Abneigung gegen Aktualität war taub gegen das, was Wordsworth zu künden hatte, und fühlte sich von seiner Form abgestoßen, und Byron, dieser große, leidenschaftliche, menschliche, unvollkommene Mann, konnte weder den Wolkendichter noch den Seedichter verstehen, und Keats Zauber offenbarte sich ihm ebenso wenig. Der Realismus des Euripides war dem Sophokles verhaßt. In diesem Rinnen warmer Tränen lag keine Musik für ihn. Milton, mit seinem Sinn für großen Stil, konnte die Art Shakespeares nicht verstehen, ebensowenig wie Reynolds die Art Gainsboroughs. Schlechte Künstler bewundern immer gegenseitig ihre Werke. Das heißen sie, einen weiten Geist haben und vorurteilsfrei sein. Aber ein wahrhaft großer Künstler kann nicht fassen, wie man das Leben anders zeigen oder die Schönheit anders gestalten könne, als er es erwählt hat. Das Schaffen verbraucht all seine kritische Gabe auf seinem eigenen Gebiet. Es kann sie nicht auf dem Gebiet, das andern gehört, anwenden. Genau darum, weil jemand eine Sache nicht tun kann, ist er der rechte Richter für sie.

Ernst: Meinst du das im Ernst?

Gilbert: Ja, denn das Schaffen beschränkt, aber die Beschaulichkeit erweitert den Blick.

Ernst: Aber wie steht es mit der Technik? Sicher hat doch jede Kunst ihre besondere Technik?

Gilbert: Gewiß; jede Kunst hat ihre Grammatik und ihr Material. Keine hat ein Geheimnis an sich, und der Nichtfachmann kann immer das Rechte treffen. Aber [149] obwohl die Gesetze, auf denen die Kunst ruht, festgelegt und bestimmt sein können, müssen sie, um ihre wahre Verwirklichung zu finden, von der Phantasie zu solcher Schönheit erhoben werden, daß jedes einzelne von ihnen den Anschein der Ausnahme bekommt. Technik ist in Wahrheit Persönlichkeit. Das ist der Grund, weshalb der Künstler sie nicht lehren, der Schüler sie nicht lernen kann, und weshalb der ästhetische Kritiker sie verstehen kann. Für den großen Dichter gibt es nur eine musikalische Technik – seine eigene. Für den großen Maler gibt es nur eine Art zu malen – die er selbst anwendet. Der ästhetische Kritiker, und nur er, kann alle Formen und Techniken würdigen. Er ist es, an den die Kunst sich wendet.

Ernst: Nun habe ich, denke ich, keine Frage mehr an dich zu stellen. Und ich muß jetzt zugeben –

Gilbert: Oh! sage nicht, daß du mir zustimmst. Wenn die Menschen mir zustimmen, habe ich immer das Gefühl, ich muß im Unrecht sein.

Ernst: Wenn es so ist, werde ich dir gewiß nicht sagen, ob ich dir zustimme oder nicht. Aber ich möchte dir noch eine Frage vorlegen. Du hast mir klar gemacht, daß die Kritik eine schöpferische Kunst ist. Was für eine Zukunft hat sie?

Gilbert: Der Kritik gehört die Zukunft. Die Gegenstände, die der schaffenden Kunst zu Gebote stehen, werden von Tag zu Tag an Ausdehnung und Mannigfaltigkeit beschränkter. Die Vorsehung und Walter Besant haben den Alltag erschöpft. Wenn das Schaffen überhaupt weitergehen soll, dann nur unter der Bedingung, daß es weitaus kritischer wird, als gegenwärtig. Die alten Pfade und staubigen Landstraßen sind zu oft begangen worden. Ihr Reiz ist von Füßen, die sich [150] mühsam weiterschleppten, abgetreten worden, und sie haben das Element der Neuheit und Überraschung verloren, das der Dichtung so not tut. Wer uns jetzt im Roman ergreifen will, muß uns entweder einen völlig neuen Hintergrund geben, oder er muß uns die Menschenseele in ihrem innersten Wirken offenbaren. Das erste hat augenblicklich bei uns Rudyard Kipling getan. Wenn man in seinen „Plain Tales from the Hills“ liest, ist es einem, als säße man unter einem Palmbaum und läse unter prächtigen Blitzen banaler Gewöhnlichkeit vom Leben. Die schreienden Farben der Basare blenden das Auge. Die Anglo-Indier, abgehetzte Dutzendmenschen, wie sie sind, stehen in entzückendem Mißverhältnis zu ihrer Umgebung. Schon die Stillosigkeit des Erzählers gibt dem, was er uns berichtet, einen krausen Journalistenrealismus. Vom literarischen Standpunkt ist Herr Kipling ein Genie der Vorstadtsprache. Vom Standpunkt des Lebens ist er ein Reporter, der das gewöhnliche Volk besser kennt als irgend jemand vorher. Dickens kannte seine Kleider und seine Komik. Kipling kennt sein Wesen und seinen Ernst. Er ist unsere erste Autorität für Dutzendmenschen und hat erstaunliche Dinge durch Schlüssellöcher gesehen, und seine Hintergründe sind wirkliche Kunstwerke. Was die zweite Möglichkeit angeht, so haben wir Browning gehabt, und Meredith lebt uns noch. Aber auf dem Gebiete der Innenschau ist noch viel zu tun. Man sagt manchmal, die Romane werden zu pathologisch. Soweit die Psychologie in Betracht kommt, sind sie noch nie pathologisch genug gewesen. Wir haben nur die Oberfläche der Seele berührt, weiter nichts. In einer einzigen Elfenbeinzelle des Gehirns sind mehr wunderbare und schreckliche Dinge aufgehäuft als selbst die [151] geahnt haben, die, wie der Verfasser von „Le Rouge et le Noir“, die Seele an ihren geheimsten Orten aufspüren und das Leben seine liebsten Sünden beichten lassen wollten. Jedoch, Hintergründe, die noch neu und unverbraucht sind, gibt es auch nur in beschränkter Zahl, und es ist möglich, daß die Weiterentwickelung der Gewohnheit der Innenforschung für das schöpferische Talent verhängnisvoll wird, dem sie ein neues Stoffgebiet schaffen soll. Ich für meine Person bin geneigt zu glauben, daß dem Schaffen das Urteil gesprochen ist. Es entspringt aus einem zu primitiven, zu natürlichen Triebe. Wie dem auch sei, das ist sicher, daß sich die Gegenstände, die der schaffenden Kunst zu Gebote stehen, ständig vermindern, während der Gegenstand der Kritik täglich anwächst. Der ewig bewegliche Geist findet immer neue Stellungen und neue Gesichtspunkte. Die Aufgabe, das Chaos durch Form zu binden, wird, wie die Welt weiter geht, nicht geringer. Es hat nie eine Zeit gegeben, wo die Kritik nötiger war als heutzutage. Nur mit ihrer Hilfe kann sich die Menschheit des Punkts bewußt werden, auf dem sie angelangt ist.

Vor einigen Stunden fragtest du mich, Ernst, nach dem Nutzen der Kritik. Du hättest mich ebensowohl nach dem Nutzen des Denkens fragen können. Die Kritik schafft, wie Arnold hervorhebt, die geistige Atmosphäre der Zeit. Die Kritik macht, wie ich selbst eines Tages darzutun hoffe, den Geist zu einem feinen Werkzeug. Wir haben in unserm Erziehungssystem das Gedächtnis mit einer Masse unzusammenhängender Tatsachen beladen und haben uns mühselig angestrengt, unser mühsam erworbenes Wissen weiterzugeben. Wir lehren die Menschen, wie sie sich erinnern können, wir lehren sie nie, wie sie wachsen können. Es ist uns nie eingefallen, [152] im Geiste eine feinere Fähigkeit der Auffassung und Unterscheidung auszubilden. Das taten die Griechen, und wenn wir mit dem kritischen Intellekt der Griechen unsere Bekanntschaft machen, müssen wir gewahren, daß zwar unser Stoffgebiet in jedem Betracht größer und reicher ist als ihres, daß aber sie die einzige Methode besitzen, mittels derer die Gegenstände erklärt werden können. England hat eine Sache geleistet; es hat die öffentliche Meinung erfunden und festgesetzt, die ein Versuch ist, die Ignoranz der breiten Masse zu organisieren und sie zur Würde physischer Gewalt zu erheben. Aber die Weisheit hat sich immer vor England verborgen gehalten. Als Denkwerkzeug betrachtet ist der englische Geist roh und unentwickelt. Das einzige, was ihn läutern kann, ist das Anwachsen des kritischen Instinktes.

Die Kritik wiederum ist es, die durch Konzentration die Kultur möglich macht. Sie nimmt die ungefüge Masse der Werke der schaffenden Kunst und destilliert sie zu einer feineren Essenz. Wer, der irgend Sinn für Form bewahren will, könnte sich durch die ungeheuerlichen massenhaften Bücher durchwinden, die die Welt produziert hat, durch die Bücher, in denen das Denken stammelt oder die Ignoranz brüllt? Der Faden, der uns durch das mühevolle Labyrinth leiten soll, ist in den Händen der Kritik. Ja, noch mehr, wo es keinen Bericht gibt und die Geschichte entweder verloren oder nie geschrieben worden ist, kann die Kritik uns die Vergangenheit aus dem kleinsten Bruchstück sprachlicher oder künstlerischer Überlieferung wiederherstellen, und zwar gerade so sicher, wie der Mann der Wissenschaft uns aus einem kleinen Knochen oder dem bloßen Abdruck eines Fußes in einem Gestein den geflügelten [153] Drachen oder die Rieseneidechse rekonstruieren kann, die einst die Erde mit ihrem Tritt erschütterte, wie er Behemoth aus seiner Höhle rufen und Leviathan noch einmal durch das bäumende Meer schwimmen lassen kann. Die prähistorische Geschichte ist das Gebiet des philologischen und archäologischen Kritikers. Ihm offenbaren sich die Anfänge der Dinge. Die Überreste eines Zeitalters, die der Bewußtseinswelt angehören, sind fast immer irreführend. Durch philologische Kritik allein wissen wir mehr von den Jahrhunderten, von denen kein tatsächlicher Bericht auf uns gekommen ist als von den Jahrhunderten, die uns ihre Papierrollen hinterlassen haben. Sie kann für uns tun, was weder durch Physik noch durch Metaphysik geschehen kann. Sie kann uns die exakte Wissenschaft vom Geiste im Prozeß des Werdens geben. Sie kann für uns tun, wozu die Geschichte nicht imstande ist. Sie kann uns sagen, was der Mensch gedacht hat, bevor er das Schreiben gelernt hat. Du hast mich nach dem Einfluß der Kritik gefragt. Ich glaube, ich habe diese Frage schon beantwortet; aber das ist noch davon zu sagen. Die Kritik ist es, die uns kosmopolitisch macht. Die Manchesterschule versuchte es, die Menschen zur Verwirklichung der Brüderschaft der Menschheit zu bringen, indem sie die Vorteile des Friedens für den Handel betonte. Sie suchte die wundervolle Welt zu einem gewöhnlichen Marktplatz für Käufer und Verkäufer zu erniedrigen. Sie wandte sich an die niedrigsten Instinkte, und ihr Versuch schlug gänzlich fehl. Krieg folgte auf Krieg, und die Religion des Handels hielt Frankreich und Deutschland nicht davon ab, in blutiger Schlacht zusammenzuprallen. Es gibt in unsern Tagen andere, die an mehr gefühlsmäßige Zusammengehörigkeit appellieren [154] wollen, oder an die hohlen Dogmen irgend eines verschwommenen Systems abstrakter Moral. Sie haben ihre Friedensgesellschaften, die den Sentimentalisten so am Herzen liegen, und ihre Vorschläge für unbewaffnete internationale Schiedsgerichte, die bei denen so beliebt sind, die nichts von der Geschichte wissen. Aber bloße Gefühlsduselei wird es zu nichts bringen. Sie ist zu schwankend und zu eng den Leidenschaften verschwistert; und eine Behörde von Schiedsrichtern, die um des allgemeinen Wohles der Menschheit willen der Macht beraubt sein sollen, ihre Entscheidungen zur Durchführung zu bringen, wird keinen großen Erfolg haben. Nur ein Ding ist schlimmer als Ungerechtigkeit: die Gerechtigkeit, die nicht ihr Schwert in der Hand hat. Wenn Recht nicht Macht ist, ist es Verderben.

Nein: Gefühle werden uns nicht zu Weltbürgern machen, ebenso wenig wie es die Gewinngier vermocht hat. Nur durch die Pflege und Ausbildung der Gewohnheit geistiger Kritik werden wir imstande sein, uns über nationale Vorurteile zu erheben. Goethe – du wirst, was ich sage, nicht mißverstehen – war ein echter Deutscher. Er liebte sein Land – keiner mehr als er. Er liebte die Menschen seines Landes; und er war ihr Führer. Und doch, als Napoleon mit eisernen Hufen Weingärten und Kornfelder verwüstete, blieb sein Mund stumm. „Wie hätte ich Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß,“ sagte er zu Eckermann, und: „Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte.“ Dieser Ton, den in der modernen Welt Goethe zuerst angeschlagen hat, wird, glaube ich, der Ausgangspunkt [155] für das Weltbürgertum der Zukunft werden. Die Kritik wird die nationalen Vorurteile zunichte machen, sie wird uns die Einheit des Menschengeistes in der Mannigfaltigkeit seiner Formen einprägen. Wenn wir versucht sind, ein anderes Volk zu bekriegen, werden wir uns ins Gedächtnis rufen, daß wir ein Element unserer eigenen Kultur zu zerstören suchen, und möglicherweise ihr wichtigstes Element. Solange der Krieg als etwas Böses betrachtet wird, wird er immer anziehend sein. Wird er für etwas Ordinäres angesehen, dann hört er auf, volkstümlich zu sein. Die Wandlung wird natürlich langsam vor sich gehen, und die Menschen werden es kaum merken. Sie werden nicht sagen: „Wir wollen mit Frankreich keinen Krieg führen, denn die Franzosen haben eine vollkommene Prosaliteratur“, sondern weil die Prosaliteratur Frankreichs vollkommen ist, werden sie das Land nicht hassen. Die geistige Kritik wird Europa mit stärkeren Ketten zusammenbinden, als sie der Händler oder der Sentimentalist schmieden konnte. Sie wird uns den Frieden geben, der aus dem Verstehen kommt.

Und das ist nicht alles. Die Kritik, die keine Aufstellung als abschließend anerkennt und es ablehnt, sich von den hohlen Schibboleths einer Sekte oder Schule binden zu lassen, erzeugt den heiteren philosophischen Gemütszustand, in dem man die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sie darum nicht weniger liebt, weil man weiß: sie ist unerreichbar. Wie wenig haben wir von diesem Gemütszustand, und wie dringend brauchen wir ihn! Der englische Geist ist immer im Zustand der Wut. Der Volksintellekt ist in den schmutzigen und dummen Kämpfen der Politiker zweiten Ranges oder Theologen dritten Ranges verwüstet worden. Es war [156] einem Mann der Wissenschaft vorbehalten, uns das erhabene Beispiel „sanfter Vernunft und Friedfertigkeit“ zu geben, von der Arnold so weise und ach! so vergebens gesprochen hatte. Der Verfasser der „Entstehung der Arten“ war jedenfalls in diesem philosophischen Gemütszustand. Wenn man die gewöhnlichen Kanzeln und Tribünen in unserm Land betrachtet, überkommt einen das Gefühl der Verachtung eines Julian oder der Gleichgültigkeit eines Montaigne. Uns beherrscht der Fanatiker, dessen schlimmste Tugend die Ehrlichkeit ist. Was irgend dem freien Spiel des Geistes ähnlich sieht, ist bei uns im praktischen Leben unbekannt. Die Menschen schreien gegen die Sünder, aber nicht die Sündigen, sondern die Dummen sind unsere Schande. Es gibt keine Sünde außer der Dummheit.

Ernst: Ach! Was für ein Ketzer du doch bist!

Gilbert: Der künstlerische Kritiker ist wie der Mystiker immer ein Ketzer. Gut sein, nach dem gewöhnlichen Maßstab des Gutseins, ist selbstverständlich ganz leicht. Es erfordert nur eine gewisse Menge schmutzige Angst, einen gewissen Mangel an phantasievollem Denken und einen gewissen niedrigen Hang zu kleinbürgerlicher Ehrsamkeit. Die Ästhetik steht höher als die Moral. Sie gehört einem geistigeren Gebiet an. Die Schönheit eines Dinges zu gewahren, ist der höchste Punkt, zu dem wir gelangen können. Selbst der Farbensinn ist in der Entwicklung des Individuums wichtiger als der Sinn für Gut und Böse. Die Ästhetik verhält sich zur Moral auf dem Gebiet bewußter Zivilisation wahrhaftig so, wie sich auf dem Gebiet der äußeren Welt die geschlechtliche Auslese zur natürlichen verhält. Die Moral macht wie die natürliche Auslese das Dasein möglich. Die Ästhetik macht wie die geschlechtliche Auslese das [157] Leben liebenswürdig und wundervoll, erfüllt es mit neuen Formen und gibt ihm Fortschritt und Mannigfaltigkeit und Verwandlung. Und wenn wir die wahre Kultur erreichen, die unser Ziel ist, dann gelangen wir zu der Vollkommenheit, von der die Heiligen geträumt haben, zur Vollkommenheit derer, die nicht sündigen können, nicht weil sie die Entsagung der Asketen üben, sondern weil sie alles, was sie wollen, tun können, ohne der Seele Schaden zu tun, da die Seele eine so göttliche Wesenheit ist, daß sie imstande ist, in Elemente eines reicheren Erlebens oder einer feineren Erregbarkeit oder einer neueren Denkungsart Handlungen oder Leidenschaften zu verwandeln, die unter den Gemeinen gemein wären oder unter den Ungebildeten würdelos oder unter den Schändlichen lasterhaft. Ist das gefährlich? Ja, es ist gefährlich; ich habe es dir gesagt, alle Ideen sind gefährlich. Aber die Nacht will weichen, und das Licht flackert in der Lampe. Doch eins muß ich dir noch sagen. Du hast dich gegen die Kritik gewandt und hast sie unfruchtbar geheißen. Das neunzehnte Jahrhundert ist lediglich auf Grund der Arbeit zweier Männer, Darwins und Renans, ein Wendepunkt in der Geschichte. Der eine war der Kritiker des Buchs der Natur, der andere der Kritiker der Bücher Gottes. Wer das nicht einsieht, verkennt die Bedeutung eines der wichtigsten Abschnitte im Fortschritt der Welt. Die schöpferische Kunst bleibt immer hinter ihrer Zeit zurück. Die Kritik führt uns. Der kritische Geist und der Weltgeist sind eins.

Ernst: Und wer diesen Geist besitzt oder von ihm besessen ist, ergibt sich vermutlich dem Nichtstun?

Gilbert: Wie die Persephone, von der Landor uns erzählt, die sanfte, sinnende Persephone, um deren weiße [158] Füße Asphodelos und Amaranten ewig blühen, wird er dasitzen, „in die tiefe, regungslose Ruhe“ ergeben, „die Sterbliche beklagen und deren die Götter genießen.“ Er wird auf die Welt herabsehen und ihr Geheimnis kennen. Er wird göttlicher Dinge kundig sein und so selbst ein Göttlicher werden. Er wird vollkommenen Lebens genießen, und er allein.

Ernst: Du hast mir in dieser Nacht viel seltsame Dinge gesagt, Gilbert. Du hast mir gesagt, daß es schwerer ist, von einer Sache zu sprechen als sie zu tun, und daß ganz und gar nichts zu tun das schwerste Ding in der Welt ist; du hast mir gesagt, daß alle Kunst unmoralisch ist und alles Denken gefährlich; daß die Kritik schöpferischer ist als die schöpferische Kunst, und daß die Kritik höchster Art die ist, die in dem Kunstwerk offenbart, was der Künstler nicht hineingelegt hat; daß jemand gerade darum, weil er eine Sache nicht machen kann, ihr berufener Richter ist; und daß der wahre Kritiker ungerecht, unehrlich und nicht vernünftig ist. Lieber Freund, du bist ein Träumer.

Gilbert: Ja, ich bin ein Träumer. Denn ein Träumer ist, wer seinen Weg nur im Mondschein finden kann, und seine Strafe ist, daß er vor der übrigen Welt den Tag grauen sieht.

Ernst: Seine Strafe?

Gilbert: Und sein Lohn. Doch sieh, der Tag graut schon. Zieh die Vorhänge zurück und öffne die Fenster weit. Wie kühl die Morgenluft ist. Piccadilly liegt wie ein langes Silberband zu unsern Füßen. Ein leichter, purpurner Dunst hängt über dem Park, und die Schatten der weißen Häuser sind rötlich. Es ist zu spät, schlafen zu gehen. Wir wollen nach Covent Garden gehen und Rosen kaufen. Komm! Ich bin des Denkens müde.


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DIESES BUCH WURDE GEDRUCKT IN DER ROSSBERG’SCHEN BUCHDRUCKEREI ZU LEIPZIG. DIE TITEL UND DEN EINBAND ZEICHNETE FRITZ ADOLPHY.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ahnlichkeit
  2. Vorlage: Asthetik
  3. Vorlage: sehshundertmal