Zwei Familien
[92] Zwei Familien. (Mit Illustration S. 89.) Genau drei Wochen vor Ostern war es, als Mutter die sorglich gesparten Eier in das weiche Nest unter dem Herd legte und die große schwarze Henne darauf setzte. Drei Wochen sind eine lange Zeit. Wenn auch die Kinder anfangs noch oft unter den Herd geguckt und der Henne den und jenen Leckerbissen zugesteckt hatten, schließlich war das stille reglose Thier von ihnen gänzlich vergessen worden. Da eines Tags, wie Mutter eben den großen Kessel mit dem Badewasser vom Feuer nehmen will, hört sie zu ihren Füßen ein leises Piepen. Vorsichtig hebt sie die Henne vom Neste und, o Freude! – da kribbelt und krabbelt es in allen Farben durch einander, schwarz, gelb, braun und scheckig zwischen den zerbrochenen Eierschalen! Die Mutter zählt und zählt wieder, ja – weiß Gott! – das ganze Dutzend ist vollzählig, nicht ein einziges taubes Ei war im Neste, und wie munter zappeln die kleinen Kücken schon und purzeln, kopfüber, kopfunter, vom Neste herunter auf die Dielen. Nicht fünf Minuten vergehen, so ist die ganze Menschenfamilie in staunender Bewunderung versammelt um die piepende, pickende Hühnerfamilie, sogar der Vater verschmäht es nicht, die Sonntagspfeife im Munde, behaglich dem lustigen Treiben zuzuschauen.
Aber wie meisterhaft hat uns Weese die Art des Eindruckes geschildert, die jeder einzelne dieser Zuschauer empfängt! Das kleine Mädchen, welches so zärtlich das letztausgekrochene noch feuchte Küchlein in ihren Händen wärmt, wird die treueste Hüterin der Hühnerfamilie sein, während ihr bequem am Boden hingestreckter Bruder in seinen Schelmenaugen schon jetzt mehr als einen Schabernack ahnen läßt, den er sich später im Hühnerhof erlauben wird. Der älteste Knabe sieht mit ruhig gesetzter Miene zu, vielleicht überlegt er gar schon, wie viele Sonntagsbraten da mit der Zeit heranwachsen. Die Mutter aber drückt instinktiv ihr eigenes Nesthäkchen fester an die Brust und lächelt der treuen Mutter dort unten sympathisch zu. Entschieden kann es in der Thier- und Menschenwelt schwerlich zwei glücklichere Familien geben, als die beiden, welche unser Bildchen verewigt.
C. Michael.