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Zur Hebung der deutschen Nessel-Industrie

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Textdaten
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Autor: Moritz Lilie
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Titel: Zur Hebung der deutschen Nessel-Industrie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 159–160
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zur Hebung der deutschen Nessel-Industrie.


„Wache auf, urtica dioïca wache auf! Erhebe stolz dein Haupt! Du sollst jetzt aus deinem hundertjährigen Schlafe geweckt werden. Sollst wieder zu deinen alten Rechten erhoben sein, sollst wieder deine Kräfte im vielfach verschlungenen Tauwerk für Staats- und Volkswohl erproben, und sollst als feinstes Kleidungsstück dem Armen zum Verdienst, dem Reichen zum Schmucke prangen.“ Mit diesen Worten schloß die „Gartenlaube“ vor nahezu drei Jahren ihren Aufsatz „Ein Dornröschen der Cultur[160] (Jahrg. 1878, Nr. 12), in welchem sie zur Verarbeitung der Nesselfaser zu Garnen und Stoffen anregte.

Damals hatte das Ausland das Geheimniß, mit Hülfe von Maschinen die Nesselfaser zu verarbeiten; heute bringen wir den Lesern eine willkommene Nachricht von den ersten Anfängen einer deutschen Nesselindustrie. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es nämlich um die Mitte des Jahres 1879 einem intelligenten deutschen Geschäftsmanne nach großen Opfern aus der Nesselfaser ein Gespinnst herzustellen, das allen Ansprüchen an ein derartiges Fabrikat genügte, und so entstand endlich das erste Etablissement dieser Art auf vaterländischem Boden unter der Firma: Erste deutsche Chinagras-Manufactur, F. E. Seidel, zu Dresden.

Es war in den ersten Tagen des Januar, als ich, einer Einladung des technischen Leiters der Fabrik folgend, mich nach dem in der Nähe der neuen großartigen Militäretablissements gelegenen Grundstücke begab und sowohl von dem Chef als von dem Dirigenten mit großer Liebenswürdigkeit in den verschiedenen Räumen umhergeführt und mit dem Verfahren bekannt gemacht wurde. Das hier neben unserer gemeinen Brennnessel vorzugsweise verarbeitete Material ist die chinesische Nessel oder Chinagras, urtica nivea, die nach den bis jetzt vorliegenden Resultaten ein bei weitem festeres und schöneres Gespinnst liefert, als unsere deutschen Brennnesselarten. In Ballen zwischen Bambusstäben, die mit chinesischen Schriftzeichen bemalt sind, verpackt, wird das Chinagras in bedeutenden Quantitäten aus dem himmlischen Reiche eingeführt, ein Umstand, welcher der hohen Spesen wegen für jetzt noch einigermaßen hemmend auf die Concurrenzfähigkeit der Nesselgewebe einwirkt. Hoffentlich wird jedoch diesem Uebelstande bald abgeholfen werden, denn vielfache Versuche, urtica nivea, in Deutschland zu acclimatisiren, haben zu sehr erfreulichen Resultaten geführt, und besonders erzielte der Rittergutsbesitzer Adler auf Plohn im Voigtlande schöne und kräftige Gespinstpflanzen

Aber auch unsere gemeine Brennnessel, urtica dïoca besitzt bekanntlich eine sehr schätzenswerthe Faser, die sich bei richtiger Behandlung ganz vortrefflich zu Geweben mittelfeiner und stärkerer Art eignet. Nur in der Länge und Stärke der Faser steht sie ihrer chinesischen Rivalin nach, indessen läßt sich schon jetzt mit Sicherheit annehmen, daß durch sorgfältigere Pflege unsere Brennnessel ebenso gut wie die meisten anderen Pflanzen veredelt werden kann. Die praktischen Versuche, welche Frau Roeßler-Lade in Langenschwalbach, Frau von Polenz aus Cunewalde bei Bautzen und der schon erwähnte Herr Adler angestellt haben, lassen auch darüber keinen Zweifel zu.

In der Fabrik werden die verschiedenen Nesselarten, je nach Maßgabe der Güte der Faser, stärker oder milder mit Bädern oder Dämpfungen behandelt. Durch dieses Verfahren wird die Faser zunächst von dem ihr anhaftenden Gummistoffe befreit und dieselbe zugleich gespalten, während durch die nun folgende Behandlung mit Chlorverbindungen und schwefeligen Dämpfen die reine weiße Farbe und der seidenartige Glanz des Gespinnststoffes erzielt wird. Ganz besonders aber wird hierdurch ein Haupterforderniß für die Bearbeitung erreicht, nämlich die denkbar feinste Spaltung der Faser, welche jetzt ein Gespinnst bis zu Nr. 100, das heißt einen Faden von 100,000 Meter Länge aus ein Kilo Gewicht liefert.

Nach diesen Vorbereitungsstadien beginnt der eigentliche Spinnproceß, wobei das Hauptaugenmerk darauf zu richten ist, daß die Faser möglichst wenig zerreißt, vielmehr in ihrer ursprünglichen Länge gelassen wird. Nicht weniger als zwölf verschiedene Apparate und Maschinen hat der Rohstoff zu passiren, ehe er zur Verarbeitung geeignet ist. Schon nachdem die Stengel die ersten Kunstgetriebe durchlaufen haben, liefern sie eine Wolle von außerordentlicher Weiche und Feinheit, die durch jeden neuen Apparat, der den Faserstoff aufnimmt, erhöht werden.

Es ist hier nicht der Ort, die zum Theil äußerst sinnreich construirten Maschinen zu beschreiben, um so weniger, als damit doch nur ein unvollkommenes Bild entworfen werden könnte; nur so viel sei bemerkt, daß die Erzeugnisse dieser ersten Chinagras-Manufactur denen der englischen Fabriken in keiner Weise nachstehen, sie vielleicht sogar in der Festigkeit des Gespinnstes und der Sorgfalt der Bleiche noch übertreffen.

Die außerordentliche Verwendbarkeit der Nesselfaser ist bekannt, und es dürfte wohl keinen Zweig der Textilindustrie geben, in welchem dieselbe nicht mit glänzendem Erfolge benutzt worden wäre. Vom Schiffstau und Fischernetz bis hinauf zu der zarten, wie aus Sonnenfäden gewebten geklöppelten Spitze, die ganze lange Scala der verschiedenartigsten Stoffe hindurch, giebt die Faser ein brauchbares Material, dessen Festigkeit, wie es durch zahlreiche Versuche in englischen Arsenalen bewiesen worden, sogar die des russischen Hanfes bei Weitem übertrifft.

Eine weitere werthvolle Eigenschaft des Nesselgarnes besteht darin, daß es sich mit großer Leichtigkeit färben läßt und sowohl die feurigsten und brillantesten, wie auch die zartesten und empfindlichsten Farben annimmt. Eine Mustercollection von Garnen und fertigen Geweben welche mir in der Fabrik vorgelegt wurde, zeigte das prachtvollste Colorit in allen Schattirungen.

So dürfte denn jetzt, wo das Problem der Verspinnung gelöst ist, die Zukunft dieses neu anhebenden Industriezweiges in Deutschland gesichert sein und der Nessel, diesem Aschenbrödel der Pflanzenwelt, wieder derjenige Platz angewiesen werden, den sie tatsächlich verdient. Dem Landwirte, dem kleinen Garten- und Feldbesitzer aber eröffnet sich in dem Anbau der Urticeen eine Aussicht auf neuen lohnenden Verdienst, der auch namentlich den ärmeren Volksclassen zu Gute kommen wird.

Wie viel Land giebt es nicht, das unbenutzt liegt! Halden Raine, Hecken, nicht mehr abbaufähige Stein- und Sandgruben wenn sie eine auch noch so dünne Humusschicht haben, sind die Stätten welche durch Anbau der Nessel ertragsfähig gemacht werden können Und wie leicht ist dabei die Cultur der gewöhnlichen großen Brennnessel, die von den in Deutschland vorkommenden Arten für die Zwecke der Textilindustrie allein zu verwenden ist! Die Anpflanzung muß im Frühjahr geschehen, und der Garteninspector Bauché giebt darüber folgende kürze Anleitung: „Die zum Anpflanzen erforderlichen Nesselpflanzen werden im Frühlinge, sobald sie an den natürlichen Standorten erkennbar sind, mit dem Spaten ausgehoben, in kleine Stücke mit vier bis sechs Trieben getheilt und alsdann gepflanzt, was in lockerem Boden mit der Hand oder in schwerem mit Hülfe eines Spatens geschehen kann. Bei einiger Sorgsamkeit ließe sich das Anpflanzen auch wohl dadurch bewirken, daß mit dem Pfluge sechszehn Centimeter tiefe Furchen gezogen würden, um die Pflanzen einzulegen. Beim Pflanzen ist darauf zu achten daß die Pflanzen weder zu hoch noch zu tief zu stehen kommen und möglichst fest angedrückt oder behutsam angetreten und begossen werden, damit sich die Erde zwischen den Wurzeln einschlemmt.“

Das Schneiden der Stengel hat nach den bisherigen Erfahrungen am zweckmäßigsten kurz vor der Samenreife, also Ende August oder Anfang September, zu erfolgen. Zu dieser Zeit hat dann nicht nur die Pflanze ihr Wachsthum beendet, sondern auch die Faser ihre größte Festigkeit erlangt, sodaß eine weitere Vervollkommnung nicht mehr zu erwarten steht. Das Gefühl des Brennens, welches die Nessel der menschlichen Haut bei der Berührung erregt, könnte Manchen abschrecken, sich ihrer Cultur zu widmen, indessen verliert die Nessel im welken Zustande sofort ihre unangenehme Eigenschaft und kann also bald nach dem Schneiden, das am besten mit der Sense geschieht, ohne die Gefahr des Brennenerregens, mit den Händen angefaßt werden.

Lohnender freilich, aber auch viel mühsamer, dürfte der Anbau der chinesischen Nessel sein, von welcher durch die Firma: Erste deutsche Chinagras-Manufactur in Dresden, Lärchenstraße 4, Samen zu beziehen ist. Die Versuche mit dieser Art sind indessen noch nicht abgeschlossen, und es ist daher auch noch nicht erwiesen, welcher Boden und welche Behandlung ihr am meisten zusagt.

Die Schwierigkeit, das gewonnene Product zu verwerten, ließ eine Massencultur der Nessel bis jetzt nicht aufkommen. Inzwischen hat sich die Sachlage sehr bedenkend verbessert, die junge Industrie blüht und erstarkt immer mehr, und die bis jetzt noch einzige deutsche Fabrik dieser Gattung sieht sich durch die immer steigende Nachfrage nach Nesselgarn genötigt, nicht nur das eigene Etablissement wesentlich zu vergrößern, sondern auch an geeigneten Plätzen weitere Anlagen derselben Art in's Leben zu rufen Also hat die Nessel auch auf deutschem Boden den Kampf mit der amerikanischen Baumwolle aufgenommen, und vielleicht wird bald der Zeitpunkt eintreten, wo ein Theil der jährlich für Baumwolle in's Ausland fließenden Millionen zum Nutzen unserer schwer bedrängten Ackerwirthschaft im Lande verbleibt.

Moritz Lilie.