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Ein „nordischer Grimm“

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Textdaten
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Autor: Dr. Fr. Winkel-Horn
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Titel: Ein „nordischer Grimm“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 161–163
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein „nordischer Grimm“.

Von Dr. Fr. Winkel-Horn.[1]

Am 15. Januar 1870 war es, als die Studenten der Universität Christiania den Mann, dem diese Zeilen gewidmet sind, mit einer Ovation ehrten, die für das geistige Leben des europäischen Nordens eine gewisse Bedeutung hat; galt es doch an jenem 15. Januar, dem achtundfünfzigsten Geburtstage Asbjörnsen’s, ein Ehrenfest der nordischen Literatur zu feiern; denn fünfundzwanzig Jahre waren mit diesem Lebensabschnitte des Gefeierten verflossen, seitdem er seine „Norwegischen Waldgeistersagen“ herausgegeben hatte. Der „Studentenverein“ der norwegischen Hauptstadt hielt am Abende jenes 15. Januar gerade eine Sitzung ab, und Björnsterne Björnson, der damals schon berühmte Dichter, welcher als Präsident des Vereins fungirte, schlug der Versammlung vor, dem Jubilar durch eine Massendeputation einen Glückwunsch zu überbringen, ein Vorschlag, der begeisterte Aufnahme fand.

Vierhundert Mann stark, begab sich der improvisirte Zug vor Asbjörnsen’s Wohnung, wo zur Feier des Tages ein Kreis von Freunden des Jubilars versammelt war, und brachte ihm „den Dank der Jugend – käme er auch spät, so sollte er dafür den Abend seines Lebens überdauern und von dem einen jungen Geschlecht nach dem andern wiederholt werden“. Björnson führte sebstverständlich im Namen der Jüngeren das Wort und benutzte die Gelegenheit, um über sein eigenes Verhältniß zu Asbjörnsen die bedeutungsvollen Worte zu sprechen: „Es wäre fürwahr nicht viel aus mir geworden; wenn Du nicht gewesen wärest.“ Der nachstehende kurze Umriß von dem Leben und der schriftstellerischen Thätigkeit Asbjörnsen’s dürfte den Beweis liefern, daß diese Worte Björnson’s nicht übertrieben sind, insofern sie nämlich die Andeutung enthalten, daß die neuere norwegische Literatur zum großen Theil jenem Manne ihr eigenthümliches Gepräge verdankt, aber damit nicht genug: während Asbjörnsen für sein eigenes Volk von hervorragender Bedeutung ist, hat er sich durch eine Seite seiner schriftstellerischen Thätigkeit sogar einen Platz in der Weltliteratur erworben, und weil er das allgemein Menschliche zu ergründen weiß, das von Jedem verstanden wird, welcher Sinn dafür hat, verdient er von Allen gekannt zu werden.

Peter Christen Asbjörnsen wurde in Christiania am 15. Januar 1812 geboren. Er war ein begabter, aufgeweckter Knabe, und seine Eltern wollten ihn daher studiren lassen; seine Kränklichkeit aber und beschränkte häusliche Verhältnisse verzögerten seine Ausbildung, sodass er erst nach dem einundzwanzigsten Jahre die Universität beziehen konnte. Die Noth zwang ihn jedoch alsbald, eine Hauslehrerstelle auf dem Lande anzunehmen, und erst nach vier Jahren konnte er zu seinen Studien zurückkehren. Jener Aufenthalt auf dem Lande war aber von entschieden günstiger Einwirkung auf die Entwickelung der geistigen Anlagen und der Persönlichkeit Asbjörnsen’s, der schon früh einen offenen Blick für die Natur und das Menschenleben in seinen verschiedenen Formen an den Tag legte.

Diese glückliche Begabung des Knaben fand reiche Nahrung auf den Wanderungen in den an Naturschönheiten so reichen, bald wildromantischen, bald anmuthigen norwegischen Landschaften und in dem Umgang mit den natürlichen unverdorbenen Menschen, welche die von den Vätern ererbte Eigenthümlichkeit in Sitten und Anschauungsweise sich noch ziemlich ungeschwächt erhalten haben.

So wurde Asbjörnsen mit der Natur und den Bewohnern seines Landes auf’s Innigste vertraut, und die tiefe Kenntniß aller ihrer Eigenschaften, die er durch zahlreiche Reisen stets wieder auffrischte, ist einer der Züge, welche seinen Schriften ihren hohen Werth verleihen.

Schon in seinem zwanzigsten Jahre, also ehe er noch Student geworden war, hatte Asbjörnsen sich mit der Aufzeichnung norwegischer Volkssagen beschäftigt. Der nächste Anlaß dazu war die von den Brüdern Grimm am Schluß der zwanziger Jahre unter dem Titel „Irische Elfenmärchen“ herausgegebene Bearbeitung von Crofton Croker’s „Fairy Legends“, durch welches Buch er zuerst auf die Bedeutung dieser Art von Volksdichtung aufmerksam gemacht wurde. Sein mehrjähriger Aufenthalt auf dem Lande gab ihm dann die beste Gelegenheit, seine Forschungen und Sammlungen zu erweitern und zu vermehren, und es zeigte sich bald, daß Norwegen ein außerordentlich sagenreiches Land sei.

An seinen Schulcameraden und Jugendfreunde, dem jetzigen Bischof in Christianssand, Jörgen Moe (geboren 1818), fand Asbjörnsen einen ebenso eifrigen wie tüchtigen Mitarbeiter, und im Jahre 1840 ließen sie im Vereine eine Aufforderung zur Subscription auf eine Sammlung „Norwegischer Volks-und Kindermärchen“ ergehen. Diese wurde aber von dem norwegischen Publicum so kühl aufgenommen, daß man die Ausführung des Planes vorläufig aufgeben mußte. Nur sehr Wenige hatten eine Ahnung davon, daß beim gemeinen Volke reiche Schätze der Poesie [162] verborgen seien, die nur darauf warteten, daß man sie zu Tage förderte, um allgemein anerkannt zu werden; die Märchen, denen Niemand große Beachtung geschenkt hatte, wurden gemeiniglich für müßiges Ammenstubengeschwätz angesehen, das nicht von verständigen Leuten beachtet zu werden verdiente, und es ist deshalb sehr erklärlich, daß das Interesse, mit welchem Asbjörnsen und Moe die Sache erfaßten, von den Meisten als ein wunderlicher Einfall betrachtet wurde. Die beiden Männer aber ließen sich nicht abschrecken und erkalteten in ihrem Eifer nicht, bis sie die materiellen Schwierigkeiten, die sich der Ausführung des Werkes entgegengestellt, überwunden hatten.

Im Jahre 1842 ward das erste Heft „Norwegische Volksmärchen, gesammelt von P. Chr. Asbjörnsen und Jörgen Moe“ herausgegeben. Sobald dies geschehen war, schlug die Stimmung des Publicums, die dem Unternehmen so abhold gewesen war, völlig um. Dieselben Leute, die bisher von diesen Offenbarungen der im Volke lebenden Poesie nichts hatten wissen wollen, mußten jetzt erkennen, daß hier eine Goldmine entdeckt sei, und daß die beiden Männer, die es unternommen hatten, sie auszubeuten, in einem seltenen Grade im Besitz der zur Hebung der Schätze nothwendigen Bedingungen seien.

Dem ersten Hefte folgten schnell zwei andere, sodaß schon im nächsten Jahre das Buch abgeschlossen werden konnte. Später sind mehrere neue und vermehrte Auflagen desselben erschienen. Auch außerhalb Norwegens wurde es mit großem Beifall aufgenommen. Deutsch kam es 1847 in Berlin, mit einem Vorwort von Ludwig Tieck versehen, heraus, nachdem schon die Gebrüder Grimm (in der Vorrede zur deutschen Mythologie und zur 6. Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen) sich mit größter Wärme vortheilhaft über dasselbe ausgesprochen hatten, als eine Sammlung, „die mit ihrem frischen vollen Vorrath alle Sammlungen fast überboten hat“. Im Jahre 1871 erschien eine neue Collection norwegischer Volksmärchen, von Asbjörnsen allein herausgegeben, aber mit Beiträgen von Moe’s Reisen und Aufzeichnungen versehen. Sein großes Talent als selbstständiger Dichter legte Asbjörnsen durch seine Sammlungen „Norwegischer Waldgeistermärchen und Volkssagen“, welche er schon 1845 zu publiciren anfing, an den Tag. Von diesen erschien 1870 eine vollständige Ausgabe, und 1879 gab er einen Auszug aus seiner ganzen Märchenproduction mit trefflichen Illustrationen der hervorragendsten norwegischen Künstler heraus. Dieses in jeder Beziehung ausgezeichnete Buch liegt jetzt auch in deutscher Uebersetzung[2] vor.

Leider gestatteten Asbjörnsen’s Verhältnisse es ihm nicht, sich ganz und gar der Erforschung der norwegischen Volksdichtung zu widmen. Es fehlte ihm allerdings nicht an mannigfacher Anerkennung; auch fanden seine Bestrebungen theilweise Unterstützung, sodaß er sogar einige Reisen zum Behufe der Märchenforschung auf öffentliche Kosten unternehmen konnte, allein dies reichte doch bei Weitem nicht aus, um ihm eine unabhängige Stellung zu schaffen, in der er sich ganz jener Thätigkeit hätte hingeben können.

Nachdem Asbjörnsen 1837 das zweite (sogenannte philosophische) Examen an der Universität bestanden hatte, mußte er sich für ein Brodstudium entscheiden. Er wühlte die Medicin, zunächst wohl darum, weil die damit verbundenen naturwissenschaftlichen Studien, die ihm stets besonders zugesagt hatten, ihm die Gelegenheit boten, seiner Lust, im Walde und auf dem Felde umherzustreifen, volle Befriedigung zu gewähren. Doch brachte er es nie zur Ablegung des medicinischen Examens, mit um so größerem Eifer aber widmete er sich der Zoologie, und die Früchte seiner Forschungen traten in einer ganzen Reihe populärer Darstellungen hervor, welche ungemein viel dazu beigetragen haben, den Sinn der Norweger für die sie umgebende Natur zu wecken. Besonders dazu geeignet war seine „Naturgeschichte für die Jugend“ (6 Bände, 1839 bis 1849), welche eine anregende Einwirkung auf mehrere der tüchtigsten jüngeren Naturforscher Norwegens hatte. Alle diese Schriften Asbjörnsen’s zeugen von seiner scharfen Beobachtungsgabe und von klarer geistvoller Auffassung der Erscheinungen, während die Darstellung selbst lebhaft und anziehend ist.

Besondere wissenschaftliche Bedeutung erhielten seine Forschungen in dem Thierleben des Meeres, und ein von ihm in großer Meerestiefe gemachter Fund gab einen der ersten Anstöße zu einer Menge weitgehender Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten vorgenommen worden sind. Asbjörnsen fand nämlich 1853 im Hardangerfjord einen prachtvollen bis zu der Zeit unbekannten Seestern, welchen er nach dem (wie die Sage erzählt) von Lote auf dem Meeresgrunde verborgen gehaltenen Busenschmuck Freja’s „Brisinga“ nannte. Es ergab sich, daß dieser Seestern in so fern einer sonst ausgestorbenen Thierwelt angehörte, als er in gerader Linie von der Fauna der Tertiärperiode abstammte. Dadurch und durch andere ähnliche Funde ward ein eigenthümliches Licht auf die Kreidebildung der Vorzeit und der Jetztzeit geworfen, was wiederum zum Theil den Anlaß gab, daß der Professor Wyville Thomson bei der Royal Society in London den Vorschlag einbrachte, die erste Expedition zur Erforschung des Thierlebens im Meere in großen Tiefen auszurüsten.

Asbjörnsen war jedoch genöthigt, sich nach einer festen Lebensstellung umzusehen, und mußte daher seine zoologischen Studien allmählich einschränken, um sich praktischen Beschäftigungen zuzuwenden, die allerdings mit seinen Neigungen und seiner bisherigen Thätigkeit übereinstimmten. Mit einem reichlichen Staatsstipendium ausgerüstet, begab er sich 1856 nach Deutschland, um das Forstwesen zu studiren. Etwas über ein Jahr hielt er sich auf der Forstakademie zu Tharand auf und bereiste dann ebenso lange die interessantesten Wald- und Berggegenden Deutschlands. Nach seiner Rückkehr ward er zum Forstmeister ernannt, eine Stellung, die er noch jetzt bekleidet, und in welcher er ganz außerordentlich viel zur zweckmäßigen Ordnung des Forstwesens in Norwegen, sowie überhaupt zur verständigen Ausnutzung der reichen natürlichen Hülfsquellen seines Vaterlandes beigetragen hat. Von besonderer Wichtigkeit waren seine Untersuchungen der norwegischen Torfmoore, über welche er ein höchst gediegenes, auf öffentliche Kosten herausgegebenes Werk verfaßt hat.

Wir sehen, wie verschiedenartig und vielseitig die Thätigkeit Asbjörnsen’s bisher gewesen ist und wie sich stets an seine praktischen Beschäftigungen eine ihnen entsprechende literarische Darstellung schloß. Bisweilen erschien er als Schriftsteller sogar auf Gebieten, die ihm scheinbar sehr fern lagen. So gab er eine Beschreibung von der Expedition eines norwegischen Kriegsschiffes nach dem Mittelländischen Meere im Jahre 1849, an welcher er theilgenommen, heraus, und 1864 erschien ein von ihm verfaßtes „Zeitgemäßes Koch- und Haushaltungsbuch“. Beide Schriften machten ein ganz außerordentliches Aufsehen, die erste namentlich darum, weil sie außer sehr lebendigen Schilderungen der Gegenden, welche die Expedition berührt hatte, eine Menge von Enthüllungen über die damals in der norwegischen Marine herrschenden lächerlich kleinlichen Verhältnisse enthielt.

Die rücksichtslose Satire der Schrift trug viel dazu bei, daß jenen Uebelständen abgeholfen wurde, während die Marine selbst natürlich von einem Unwillen gegen den Verfasser erfüllt wurde, der sich erst allmählich verlor. Auch das Kochbuch erregte anfangs Erbitterung, und zwar bei der Damenwelt, weil aber die in demselben ausgesprochenen Grundsätze höchst verständig waren, legte sich der Sturm bald, und das Buch hat sowohl in Norwegen wie in Dänemark und Schweden zur Einführung einer rationelleren Speisebereitung ungemein viel beigetragen.

Asbjörnsen gehört zu den angesehensten und populärsten Schriftstellern seines Landes. Seine größte Bedeutung aber für die norwegische Literatur hat er durch seine Märchenerzählung erlangt, und auf diesem Gebiete hat sich sein großes Talent am reichsten entfaltet. Mit vollem Rechte kann man ihn als den „nordischen Grimm“ bezeichnen, nicht allein weil er seinem Volke zuerst die Sagenwelt erschlossen hat, sondern auch weil seine Erzählungen vollendete Kunstwerke sind. Es ist eine sehr schwere Aufgabe, diese Art der Volksdichtung in der rechten Weise wiederzugeben, und derjenige, welcher sie lösen soll, muß viele seltene Eigenschaften in sich vereinigen. Die Märchen sind zum großen Theil Gemeingut der ganzen Welt, in den verschiedenen Ländern aber der Individualität des Volkes gemäß ausgebildet und ihr angepaßt. Wenn die Arbeit des Märchensammlers daher wissenschaftlichen [163] Werth haben soll, und zwar einen höheren, als ihn die treue und genaue Aufzeichnung dessen, was dem Volksmunde unmittelbar abgelauscht ist, immerhin besitzt, so setzt sie ein umfassendes, weit über die Grenzen des betreffenden Landes hinausgehendes Wissen voraus. Für die richtige Behandlung dieser vom Volksgeiste durchdrungenen Dichtungen ist es aber andererseits nicht minder nothwendig, daß der Forscher das eigenthümliche Wesen seines Volkes aus dem Grunde kennt, und daß er mit den Naturverhältnissen, die es bedingen, vertraut ist.

Diese durchaus unerläßlichen Voraussetzungen für die wissenschaftliche Seite der Thätigkeit eines Märchensammlers besitzt Asbjörnsen in hohem Grade. Er hat aber nicht blos ein Material gesammelt, welches für die vergleichende Märchenerforschung von Bedeutung ist, sondern er hat den Stoff auch der gebildeten Leserwelt in einer Form vorgelegt, die ebenso kunstvoll wie echt volksthümlich ist. Hier genügte es nicht, die Märchen ganz so in der Fassung wiederzugeben, wie der Sammler sie seinen Quellen entnahm; denn seine Gewährsmänner waren meistens ganz ungebildete Leute, und auch die Zeiten waren nicht spurlos an diesen im Volksmunde bewahrten Dichtungen vorübergegangen. Um die Aufgabe, die Asbjörnsen sich gestellt hatte, in der rechten Weise zu lösen, war es nothwendig, daß er sich so in den Geist des Volkes und der Volksdichtung hineingelebt hatte, daß er, aus dem vollen Verständnis; derselben heraus, der ursprünglichen Form des Märchens, trotz aller willkürlichen Zusätze und verschiedener Versionen in den einzelnen Gegenden des Landes, auf den Grund gehen konnte. Nur wenn man, wie Asbjörnsen, die Bildung des Gelehrten und das unmittelbare Gefühl des Poeten für die idealen Forderungen der Dichtung in sich vereinigt, kann man den Schatz der Volkspoesie heben und seinem Volke das Märchengold zurück geben, welches so oft mit Moos und Staub überdeckt ist, daß es sich für den Uneingeweihten wie werthloses Gestein ausnimmt.

Von Asbjörnsen’s poetischer Begabung legt jede seiner „Waldgeistersagen“ Zeugniß ab. Während die „Volksmärchen“ sich unmittelbar an die Volkstradition anschließen, führen die „Waldgeistersagen“ in dichterischem Gewande dem Leser eine Reihe von Bildern aus der Natur und dem Volksleben vor, und die Bilder sind mit wirkungsvollster realistischer Sicherheit in allen Einzelnheiten entworfen, zugleich aber von einer solchen Stimmung durchdrungen, daß die alten Märchen und Sagen, denen sie als Rahmen und Hintergrund dienen, wie natürlich aus den Umgebungen hervortreten. Als Muster dieser Art können wir auf das auch in die illustrirte deutsche Ausgabe aufgenommene Stück „Eine Sommernacht im Krogwalde“ hinweisen. Mit wahrer Meisterschaft sind hier die Sagen mit der Schilderung der Gegend und der Personen verflochten, sodaß ein harmonisches, in hohem Grade stimmungsvolles Kunstwerk daraus entsteht. Und mehr oder weniger gilt dies von Allein, was Asbjörnsen von dieser Art geschrieben.

Die literarischen Verhältnisse Norwegens waren zu der Zeit, wo die Volks- und Waldgeistersagen erschienen, ganz eigenthümlicher Art. Bis 1814 war Norwegen bekanntlich mit Dänemark verbunden, und die gemeinschaftliche Literatur hatte ein durchaus dänisches Gepräge; ein exclusiv norwegisches Element war nur im Keime vorhanden. Als das Land dann seine Selbstständigkeit erhielt, versuchte man es alsbald, sich von der literarischen Verbindung mit Dänemark völlig frei zu machen. Die Voraussetzungen für die Entwickelung einer selbstständigen norwegischen Literatur fehlten aber gänzlich, und die Bestrebungen, eine solche zu schaffen, führten zunächst nur zu einer rhetorischen bombastischen Poesie, welche in der lächerlichsten Weise Norwegen als das herrlichste Land und seine Bewohner als die vortrefflichsten Menschen der Welt darzustellen sich bemühte. Erst in den dreißiger Jahren fing die Erkenntniß an sich geltend zu machen, daß eine norwegische Literatur nicht aus dem Nichts emporwachsen könne, und daß man, um ein ergiebiges Material zu beschaffen, die Vorzeit und das Leben des gemeinen Volkes gründlich erforschen müsse. Für diese Studien, welche die nationalen Eigenthümlichkeiten Norwegens nach allen Richtungen hin zu ergründen strebten, war Asbjörnsen’s literarische Thätigkeit, namentlich als Märchenerzähler, von der größten Bedeutung. Nachdem erst Asbjörnsen und sein Mitarbeiter Moe den Sinn ihrer Landsleute für die Natur und das Volk Norwegens geweckt hatten, fanden sie bald Nachfolger, welche von verschiedenen Seiten bis zum Kern eindrangen, und die poetische Literatur Norwegens schlug die Bahn ein, auf der sie einen hohen Grad von Originalität und eine stets wachsende Fülle erreichte. Björnson hatte Recht, als er in die Worte ausbrach: „Es wäre fürwahr nicht viel aus mir geworden, wenn Asbjörnsen nicht gewesen wäre,“ und die übrigen norwegischen Dichter der Jetztzeit könnten dasselbe sagen. Der Märchenerzähler ist auch für sie der Bahnbrecher gewesen.



  1. Wir ergreifen mit Vergnügen die sich uns bietende Gelegenheit, um auf das neueste wissenschaftliche Werk unseres geschätzten Mitarbeiters kurz hinzuweisen. Dr. Fr. Winkel Horn hat sich im vergangenen Jahre dem Publicum eine „Geschichte der Literatur des skandinavischen Nordens von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (Leipzig, Bernhard Schlicke) übergeben und damit dem deutschen Volke die erste erschöpfende Literaturgeschichte der Stammesgenossen eines Tegner und Runeberg geboten. War, was wir über die Wesen und Charakter der nordischen Literatur und ihrer Repräsentanten bisher im deutschen Schriftthum überliefert erhielten, ausschließlich in kurzgefaßten Charakteristiken und Würdigungen einzelner nordischer Dichter oder in allgemein gehaltenen, fragmentarischen Untersuchungen über die skandinavische Literatur niedergelegt, so begegnen wir in dem oben genannten Werke einem systematisch geordneten und feinen Gegenstand umfassend behandelnden Gesammtgemälde des literarischen Schaffens in Schweden, Norwegen und Dänemark. Deutsches Denken und Fühlen ist dem skandinavischen in vielen Punkten so verwandt, daß eine Geschichte der Literatur des Nordens dem deutschen Volke mit Naturnothwendigkeit eine Fülle von Berührungspunkten bieten muß, und dieses Band geistiger Zusammengehörigkeit, das unser Volk mit den Bewohnern jener nördlichen Himmelsstriche Europas verbindet, giebt dem ebenso gediegenen wie interessanten Buche unseres verehrten Mitarbeiters die sichere Anwartschaft auf eine allgemeine Verbreitung in deutschen Landen.
    Die Redaction.
  2. Auswahl norwegischer Volksmärchen und Waldgeistersagen von P. Chr. Asbjörnsen. Aus dem Norwegischen übersetzt von H. Denhardt. Mit 106 Illustrationen nach Arboe, Gude, Lerche, Petersen, Schneider, Sinding, Tidemand, Werenskiold. Leipzig, Adolph Refelshöser, 1881.) – Mit gütiger Erlaubniß des Herrn Verlegers entnehmen wir diesem durch seinen werthvollen Inhalt wie durch seine künstlerische Ausstattung gleich empfehlenswerthen, hochinteressanten Werke das dem gegenwärtigen Artikel beigefügte Portrait Asbjörnsen’s. Möchte diese verdienstvolle deutsche Ausgabe norwegischer Volksmärchen den Sinn für die Poesie des Nordens in unserm Vaterlande kräftig wecken helfen!
    D. Red.