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Zur Geschichte der Familie Stübel. Teil 1

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Aus Julius Schnorrs Tagebüchern. Teil 2 Zur Geschichte der Familie Stübel (1897) von Otto Richter
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 2 (1897 bis 1900)
Nachträgliches über Hofbaumeister Thormeyer
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[25]
Zur Geschichte der Familie Stübel.
Von Dr. Otto Richter.

Unsre Stadt steht im Begriff, dem vor zwei Jahren dahingeschiedenen Oberbürgermeister Dr. Paul Alfred Stübel ein Denkmal zu errichten – gewiß eine ungewöhnliche Ehre für den, dessen Wirken sich nie über den engen Kreis seiner Heimath hinaus erstreckt hat. Aber dieser Oberbürgermeister war auch ein seltener Mann, ausgezeichnet ebenso durch berufliche Tüchtigkeit wie ganz besonders durch treffliche Eigenschaften des Charakters und des Herzens, die ihn zu einer von seinen Mitbürgern verehrten Persönlichkeit gemacht hatten. Schon von seinem Vater und Großvater werden solche Tugenden gerühmt, und manches davon ist deshalb gewiß als ein Erbtheil der Vorfahren zu betrachten. Wo in dieser Weise eine Familie durch gute Ueberlieferungen allmählich emporgehoben worden, lohnt es sicherlich, ihrer Vergangenheit und ihrem Ursprunge nachzuforschen. Da mit dem Tode Alfred Stübels der hervorragendste Zweig der Familie abbricht, lag der Gedanke nahe, nun einmal die Anfänge ihrer Geschichte aufzusuchen.

Die Familie selbst vermochte bisher ihren Stammbaum nur bis auf einen Johann Gottfried Stübel zurückzuführen, der seit dem dritten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts als kurfürstlicher Accisinspektor in Kamenz lebte. Bei der früheren Seltenheit des Namens in unsrer Gegend bestand aber von vornherein die Wahrscheinlichkeit, daß schon die beiden gleichnamigen bekannten Gelehrten, die Mitte des 17. Jahrhunderts in Dresden geboren waren, dieser Familie angehörten, und es erschien nicht ohne Reiz, wenn es gelänge, ein Geschlecht, aus dem zuletzt eine so namhafte Persönlichkeit von ausgeprägter Dresdner Art wie der verewigte Oberbürgermeister hervorgegangen war, in seinem Ursprunge wieder auf unsre Stadt zurückzuführen. Die angestellten Nachforschungen haben nun ergeben, daß die Bürgerfamilie Stübel in der That aus Dresden stammt.

Ein von den Wogen des dreißigjährigen Krieges hierher verschlagener Bauernbursche, Andreas Stübel aus Oberndorf in Niederbaiern, ist ihr Begründer. Diese Herkunft aus Süddeutschland giebt auch dem Namen seine Erklärung: Stübel ist gleichbedeutend mit unserem Stübchen. Man wird sich die Entstehung des Namens vielleicht so zu denken haben, daß in der Zeit, wo die Familiennamen sich bildeten, also im 14., 15. oder erst im 16. Jahrhundert, einer der Vorfahren als Auszügler im Bauernhofe das Stübchen („Austragstüb’l“) bewohnte und zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Sohne etwa „Andreas im Stübel“ genannt wurde, eine Bezeichnung, die dann in verkürzter Form als Familienname Stübel auf die Nachkommen überging. In dieser Weise wenigstens läßt es sich in Dresden aus den Bürgerlisten des 15. Jahrhunderts mit Sicherheit nachweisen, daß aus einem „Peter im Keller“ allmählich ein Peter Keller, aus einem „Andreas bie der Bach“ ein Andreas Bach geworden ist.

Ueber den Grund, warum Andreas Stübel seine Heimath verließ, lassen sich nur Vermuthungen äußern. Vielleicht geschah es um des Glaubens willen, denn es ist auffällig, daß er, den wir später als frommen Protestanten kennen lernen, aus der streng katholischen Passauer Gegend stammt. Vielleicht war es aber auch nur die Noth jener schweren Zeit überhaupt, die den [26] armen Bauernburschen zwang, in der Fremde sein Fortkommen zu suchen, indem er bei einem der das Reich durchziehenden Söldnerheere Dienste nahm. Genug, Andreas Stübel kam nach Sachsen, trat hier als „reisiger Knecht“ in kurfürstlichen Dienst und ließ sich, wie er selbst sagt, „bei der Leibklepperei gebrauchen“. Auf ihn könnte man die Worte seines berühmten Zeitgenossen Oberst Buttler sinngemäß anwenden:

„Ich kam, ein schlechter Reitersbursch’, aus Irland...
Vom niedern Dienst im Stalle stieg ich auf,
Durch Kriegsgeschick, zu dieser Würd’ und Höhe,“

wenn nur er selbst und nicht erst seine Nachkommen die „Höhe“ erreicht hätten.

Andreas Stübel war um das Jahr 1601 geboren. Im Alter von etwa 36 Jahren mochte er des Reiterdienstes überdrüssig sein und sich nach einem ruhigeren Erwerb sehnen. Durch eine Heirath gelang es ihm, sein Dasein gegen die Wechselfälle des damals noch immer andauernden Krieges zu sichern. Er warb mit Glück um eine wohl nicht mehr ganz junge Wittwe, die auf der Weißegasse gegenüber der Rathsbaderei ein Haus besaß und darauf das Gewerbe des Beherbergens von Boten betrieb. Nach dem städtischen Geschoßbuche muß es die Wittwe des Schneiders Georg Ranisch gewesen sein. Mit dieser „Botenherberge“ verhielt es sich so: Zahlreiche Orte des Landes, namentlich in dem vom großen Verkehr abgelegenen Erzgebirge und Vogtlande, unterhielten eine direkte Verbindung mit der Hauptstadt durch laufende Boten, denen man Briefe, Gelder und allerhand Aufträge zur Besorgung übergab, während die Güterbeförderung durch die langsameren Botenfuhrleute vermittelt wurde. Diesen Boten war es wegen der Gefahr der Verbreitung ansteckender Krankheiten, namentlich der häufig auftretenden Pest, früher untersagt, in der Stadt selbst zu wohnen; sie mußten im „Weißen Rößchen“ vor dem Wilsdruffer Thore einkehren, das zu ihrer Beherbergung privilegirt war. Während des Krieges aber, wo der Schluß der Festungsthore strenger gehandhabt werden mußte, war das Bedürfniß entstanden, den Boten, die ihre Aufträge nicht immer vor Thorschluß zu erledigen vermochten, auch innerhalb der Festung Gelegenheit zum Uebernachten zu bieten, und so war jener Frau Ranisch auf ihr Ansuchen in der kurfürstlichen Kanzlei mündlich die Erlaubniß ertheilt worden, ihr Haus in der Weißegasse[1] zu einer Botenherberge einzurichten. Andreas Stübel, der bei seinem Berufe gewiß mit manchen der fremden Boten bekannt geworden war, mag dort bisweilen sein Gläschen getrunken und die Zuneigung der Wirthin gewonnen haben. Die Ehe der beiden war aber nicht von langer Dauer: schon nach wenigen Jahren starb die Frau und er selbst übernahm nun das Haus, freilich auch die noch darauf haftenden Schulden. Er mußte jetzt Bürger werden; bei seiner am 23. Februar 1641 erfolgten Vereidigung ist er im Bürgerbuche eingetragen als „Andreas Stubell von Oberndorff im Ambt Klebergk, ein reisiger Knecht, brennet Brantewein und helt Gastung.“

Eine Reihe von Jahren hatte Stübel seine Botenherberge bewirthschaftet, da fingen auch andere Hausbesitzer, besonders einige Wittwen an, Boten bei sich aufzunehmen und ihm dadurch in unliebsamer Weise den Verdienst zu schmälern. Er richtete daher im Jahre 1655 an den Kurfürsten das Gesuch, diesen Mitbewerb zu verbieten und ihm das alleinige Recht zum Beherbergen von Boten innerhalb der Stadt zu ertheilen; er machte dafür hauptsächlich geltend, der Hof und andere vornehme Auftraggeber müßten zur Vermeidung von Zeitverlust und Schaden jederzeit wissen, wo sie die Boten finden könnten, und man dürfe ihnen deshalb nicht gestatten, in der ganzen Stadt verstreut zu wohnen. Der Kurfürst ertheilte ihm das gesuchte Privilegium, jedoch mit dem Bedeuten, daß er sein hölzernes Haus gut gegen Feuersgefahr verwahren solle. Dagegen aber erhoben zahlreiche Boten, die bisher anderwärts gewohnt hatten, in einer von ihnen allen unterzeichneten Eingabe lebhafte Vorstellung, wobei sie sein Haus als nicht geräumig und sicher genug bezeichneten. Stübel suchte ihre Behauptungen zu entkräften: nach seinen Angaben kamen täglich 10 bis 12 Boten bei ihm an, er trug ihre Namen in ein „Register“ ein und schickte sie jeden Tag auf einem Zettel verzeichnet „an gehörige Orte“. In der Unterstube könne er über 30 Mann beherbergen, ebensoviele in der Oberstube, und außerdem habe er noch eine Stube und acht Kammern zur Verfügung. Niemals sei Geld, das ihm zur Aufbewahrung anvertraut worden, verloren gegangen, auch sei sein Haus immer von der bösen Seuche verschont geblieben. „Ich vertraue“, schrieb er, „Gott dem Allerhöchsten und lasse in meinem Hause fleißig beten, singen, Gott loben und preisen, der wird mich und alle, die bei mir ein- und ausgehen, vor allem Unfall gnädiglich behüten und bewahren.“ Die Regierung erachtete aber die Verhältnisse in der Botenherberge Stübels doch für unzureichend, sie nahm das ihm ertheilte Privilegium zurück und gab das Herbergsgewerbe frei[2].

In den damaligen Bittgesuchen weist Stübel darauf hin, daß er noch „kleine unerzogene Kinder“ zu ernähren habe. Er hatte nämlich, anscheinend Anfangs der fünfziger Jahre, wieder geheirathet. Seine zweite [27] Frau Anna Sibylle, eine Tochter Melchior Müllers[3], schenkte ihm außer einer Tochter, die sich später mit Meister Tobias Ehrlich, einem Senkler, verehelichte, zwei Söhne: Johann Jakob, geboren am 13. April 1652, und Andreas, geboren am 15. Dezember 1653. Die geistige Atmosphäre in einem solchen Gasthause niedersten Ranges war einer guten Erziehung der Kinder an sich gewiß nicht förderlich, um so mehr zeugt es von Einsicht und Strebsamkeit der Eltern, daß sie beide Söhne auf die Kreuzschule schickten, um sie studiren zu lassen. Das war damals in ihrem Stande keineswegs etwas Gewöhnliches, ließ doch sogar der Rektor der Kreuzschule selbst, M. Johann Bohemus, seine beiden Söhne Handwerker werden!

Johann Jakob Stübel verließ nach seiner Konfirmation die Kreuzschule, deren Leistungen zu jener Zeit höheren Ansprüchen nicht genügten, und bezog zu Michaelis 1666 die Fürstenschule zu Meißen. Seit 1670 studirte er in Wittenberg die schönen Wissenschaften und daneben Theologie. Bereits 1671 wurde er Magister, und wegen seiner dichterischen Begabung erhielt er den Ehrentitel eines gekrönten Poeten. Der Professor der Theologie D. Wilh. Leyser nahm ihn in sein Haus und vertraute ihm den Unterricht seiner Söhne an. Nach Beendigung der Studien kehrte er in seine Vaterstadt zurück und übernahm hier zunächst eine Hofmeisterstelle beim Hofrath Samuel Hund und alsdann beim Geheimen Rath, Oberhofrichter und Oberkonsistorialpräsidenten Gottfried Hermann von Beichlingen, die er sieben Jahre lang inne hatte. Von dem Beichlingischen Gute Zschorna aus bewarb er sich in einem Schreiben vom 10. Februar 1681 – freilich vergeblich – um das damals freigewordene Tertiat bei der Kreuzschule; dem Bewerbungsschreiben war als Probe seines Könnens eine soeben in Meißen gedruckte lateinische Gratulationsschrift für den neuernannten Oberhofprediger D. Lucius beigelegt[4].

Um diese Zeit hatte er Gelegenheit, seinem alten Vater in einem Rechtsstreite beizustehen. In dessen Namen richtete er am 5. September 1681 an den Kurfürsten eine Beschwerde über den Nachbar Andreas Stübels, den Weißbäcker Roitzsch, der ihm widerrechtlich hart an die Wand seines Hauses einen neuen Backofen gebaut und ihm so zwei Fenster versetzt habe; es werde ihm dadurch in seinem hohen Alter – er war über 80 Jahre alt, schwerhörig und bereits etwas gedankenschwach – große Unlust, Feuersgefahr und Abgang seiner wenigen Nahrung über den Hals gezogen, so daß er nicht mehr im Stande sein würde, die auf seinem schlechten und baufälligen Hause haftenden 210 Schocke zu versteuern. Ein zweites Schreiben richtete M. Stübel am folgenden Tage an den Rath, worin er gegen das Vorgehen des Nachbars Verwahrung einlegte. Die Behörden ließen sich aber durch die lebhaften Schilderungen des jungen Schulmeisters nicht irre machen; der Rath beauftragte seine Bauverständigen mit der Schlichtung des Streites, und diese wiesen Stübels Widerspruch ab, weil die ihm angeblich verbauten Fenster weiter nichts als Löcher seien, die er selbst widerrechtlich durchgebrochen habe[5]. Die Hitze des nachbarlichen Backofens mag dem alten Manne die letzten Tage recht verbittert haben.

M. Joh. Jakob Stübel blieb nach dem bald nachher erfolgten Tode des Vaters nicht mehr lange in Dresden: auf Empfehlung des Präsidenten von Beichlingen ward er am 27. Mai 1682 Rektor in Annaberg. Die dortige Schule soll unter seiner Leitung einen großen Aufschwung genommen haben, er selbst aber bestrebte sich bald, anderwärts eine bessere Stelle zu erlangen. Nach dem Tode des Rektors Egenolf bewarb er sich am 12. September 1688 um das Rektorat an der Kreuzschule[6] – wieder ohne Erfolg: der Prophet galt eben nichts in seinem Vaterlande. Kein Wunder, daß er nach solchen Erfahrungen unschlüssig wurde, ob er nicht lieber den Beruf des Lehrers mit dem des Geistlichen vertauschen solle. Da erging an ihn ein Ruf zum Konrektorat an der Meißner Fürstenschule, und er trat dieses Amt am 23. August 1699 an. Schon am 5. August 1705 rückte er zum Rektor der Schule auf und hat als solcher mit großer Treue und gutem Erfolge gewirkt, bis er am 31. Oktober 1721 das Zeitliche segnete. In einer seiner Schriften sagt er einmal, er wäre zwar auf vielfache Art verleumdet worden, aber Fleiß und Emsigkeit in Ausrichtung seines Amts hätten ihm selbst seine Feinde zugestanden. Es wird von ihm berichtet, er sei von Natur sehr ausdauernd und ungewöhnlich mäßig gewesen; er habe sehr wenig gegessen und getrunken und wöchentlich einen Tag gefastet, so daß er bis tief in die Nacht studiren und täglich früh um 3 Uhr habe aufstehen können[7]. Als Frucht seines Fleißes hinterließ er eine große Anzahl Programme und andere kleine Schriften, meist theologischen Inhalts; namentlich aber machte er sich durch Herausgabe der lateinischen Reden des ebenfalls aus Dresden gebürtigen berühmten Wittenberger Professors der Poesie und Eloquenz August Buchner verdient, die damals an der Meißner Fürstenschule höher geschätzt und mehr gelesen wurden als die Reden [28] Ciceros. Die ersten beiden Bände dieser Reden hatte er schon 1682, als er noch in Dresden war, veröffentlicht, den dritten ließ er 1705 erscheinen und leitete ihn ein durch Abdruck einer eigenen wohlstilisirten Rede de exscensionibus alumnorum nocturnis, über das höchst verwerfliche nächtliche Aussteigen der Schüler über die Gartenmauer der Fürstenschule. Wenn er geahnt hätte, daß noch 11/2 Jahrhundert später seine eigenen Nachkommen dieser übermüthigen Sitte huldigen würden!

Hof- und Justizrath Dr. Christoph Karl Stübel.
Nach einem Pastellbilde im Besitz der Familie.

Zu größerem Rufe noch als Johann Jakob gelangte sein jüngerer Bruder Andreas Stübel. Auch er verließ im 15. Lebensjahre die Kreuzschule, der er sechs Jahre lang als Alumnus angehört hatte, und besuchte von 1668 an die Meißner Fürstenschule, von der er 1673 mit ausgezeichnetem Lobe entlassen wurde. Darauf widmete er sich fünf Jahre lang philosophischen, philologischen und theologischen Studien an der Universität Leipzig. Nach deren Beendigung bekleidete er mehrere Jahre das Hauslehreramt bei dem Kanzler Freystein in Weißenfels und dann bei dem Prokuraturamtmann Finsinger in Meißen und trat 1682 an die Stelle seines Bruders als Hofmeister beim Präsidenten von Beichlingen in Dresden. Auch er meldete sich 1681 zu dem erledigten Tertiat an der Kreuzschule; auf den Mitbewerb seines Bruders hinweisend, meinte er, jeder von ihnen würde dem andern die Erlangung der Stelle gönnen[8]! Schon 1682 wurde er dann als Tertius an die Nikolaischule in Leipzig berufen, und nur zwei Jahre später erhielt er das Konrektorat an der Thomasschule. „Durch seine Ernennung zum Baccalaureus der Theologie erlangte er 1687 die Berechtigung, an der Universität theologische Vorlesungen zu halten. Bald aber verwickelten ihn seine heterodoxen Ansichten über die Apokalypse und das tausendjährige Reich Christi, die er sowohl mündlich vor seinen Zuhörern als auch in seinen Schriften verfocht, in widerwärtige Streitigkeiten, die schließlich 1697 seine Enthebung von seinem Schulamte, allerdings unter Beibehaltung seiner Besoldung, zur Folge hatten. Auch die Fortsetzung seiner theologischen Vorlesungen wurde ihm untersagt. Stübel ließ sich dadurch in seinen Wunderlichkeiten nicht irre machen und hielt sich allen Ernstes für einen Propheten. So weissagte er aus Anlaß der terministischen Streitigkeiten, daß für die Pietisten das Gnadenziel ganz sicherlich am 15. August 1700 eintreten werde. Und als die Schweden wenige Jahre darauf in Sachsen einbrachen, hielt er König Karl XII. und seine Gefährten für die Könige vom Aufgang der Sonne, von denen in der Offenbarung Kapitel 16, Vers 12 die Rede ist, und die Oder für den Euphrat, der vor ihnen ausgetrocknet sei. Im übrigen war er ein braver und rechtschaffener Mann, und seine chiliastische Schwärmerei hinderte ihn nicht, sich mit unermüdlichem Eifer seinen wissenschaftlichen Beschäftigungen zu widmen“[9]. In der Philologie nimmt er eine sehr bedeutende Stellung ein. „In dieser Hinsicht ist es in der That ganz richtig, was in einem ihm gewidmeten Nachrufe gesagt wird, daß er unter den Zeitgenossen nicht viel seinesgleichen gehabt hat. Seine Schulbücher Latinismus in nuce und Graecismus in nuce wurden mehrmals aufgelegt, und auch sein Novum vocabularium Lipsiense fand in den Schulen Eingang. Sein Hauptwerk aber, das als eine wahrhaft schätzenswerthe Förderung der lateinischen Lexikographie angesehen werden muß, bildet seine Ausgabe von Basilius Fabers Thesaurus, die 1710 in [29] einem starken Foliobande zu Leipzig erschien; Stübel selbst giebt in der Vorrede die Zahl der von ihm hinzugefügten Worte auf über 7000 an“[10]. Er starb am 31. Januar 1725. Sein Wunsch, 90 Jahre alt zu werden, wurde ihm also nicht erfüllt. In einem 1698 herausgegebenen originellen Catalogus seiner Bücher und Schriften sagt er nämlich: „Sollte nun dem allerliebsten Vater im Himmel gefällig sein, noch einmal 45 Jahre zu meinem Alter zuzulegen, so daß etwa 10 Jahr länger bliebe als mein 80jährig gewesener Vater, so dürfte ja noch wohl Zeit haben, mancherlei Sachen auch wohl in allen Fakultäten zu schreiben.“ Er fügt dem Verzeichniß seiner bereits veröffentlichten Schriften im voraus die Liste derer bei, die er noch schreiben möchte, und darunter befindet sich folgende: „Historia paterna“ oder Beschreibung meines weiland von Gott gelehrten und erleuchteten Vaters, Herrn Andreä Stübels oder Stiefels des ältern, Bürgers und Gastwirths in Dreßden auf der weißen Gasse, sobald ich seiner schriftlichen Urkunden aus dem Konsistorio zu Leipzig wieder habhaft werde.“ Hieraus geht hervor, daß auch der Vater sich mit theologischen Spekulationen befaßt und sogar Schriften hinterlassen hatte, die dem Sohne offenbar bei der vom Konsistorium gegen ihn geführten Untersuchung mit abgenommen worden waren. Die theologischen Sonderbarkeiten des jüngeren Andreas Stübel sind somit allem Anscheine nach ein ihm von seinem Vater überkommenes Erbtheil gewesen. Wenn er sich in dem erwähnten Kataloge „Stübel oder Stiefel“ nennt, so geht daraus hervor, daß ihm die oberdeutsche Herkunft seiner Familie und die Bedeutung des Namens schon nicht mehr gegenwärtig war.

Geh. Justizrath Dr. Karl Julius Stübel.
Nach einer Photographie.

Beide Brüder Stübel waren reich mit Nachkommenschaft gesegnet. Andreas war von seiner Frau Magdalene Sophie, geb. Thilo, mit sieben Kindern beschenkt worden, von denen drei Söhne und zwei Töchter ihn überlebten. Dem älteren Johann Jakob hatte seine Gattin Johanne Sophie, geb. Schilling, sogar zwölf Kinder geboren, wovon er zehn am Leben hinterließ. Von ihnen allen interessirt uns hier nur der eine, der als Vorfahr der Dresdner Familie Stübel bekannt war, dessen Herkunft aber man bisher nicht hatte feststellen können, nämlich der schon genannte Johann Gottfried Stübel. Nach Ausweis des Annaberger Kirchenbuchs ist er als Sohn des Rektors Johann Jakob Stübel kurz vor dessen Uebersiedelung nach Meißen in Annaberg geboren und am 8. März 1699 getauft worden[11]. Er hat später in Leipzig studirt und ist laut Matrikel der Universität am 1. August 1720 dort inskribirt worden[12]. Aus Akten des Königlichen Hauptstaatsarchivs geht hervor, daß er sich nach Beendigung des Studiums am Wohnorte seines Vaters, in Meißen, als Advokat niedergelassen hat und 1726 zum kurfürstlichen Accisinspektor in Kamenz ernannt worden ist[13]. Ueber seine Lebensverhältnisse und die Zeit seines Todes giebt das in Kamenz vorhandene Aktenmaterial ebensowenig wie die dortigen Kirchenbücher die geringste Auskunft[14]. Nur soviel ist noch bekannt, daß er sich 1723 mit Johanne Elisabeth Kirchner, Tochter des Fleischhauers Christoph Kirchner in Eilenburg, verheirathet hatte[15]. Schon bald nach der Verheirathung aber scheinen sich die Ehegatten getrennt zu haben, denn nach Ausweis der Kirchenbücher zu Eilenburg ist Frau Stübel dort, am Wohnorte ihrer Eltern, eines Söhnleins genesen, das in der Taufe am 10. August 1727 die Namen Gottfried Immanuel erhielt, und dort ist sie auch im Alter von 501/2 Jahren gestorben und am [30] 21. April 1753 begraben worden. Wenn sie als „Hr. Johann Gottfried Stübels, Accis-Inspektoris in Kamenz, Fr. Eheliebste“ in das Sterberegister eingetragen ist, so weist dies darauf hin, daß er selbst damals noch am Leben war.

Ebensowenig wie der Vater ist auch der Sohn Gottfried Immanuel Stübel hervorgetreten; er war seit 1760 Pfarrer in Pausitz bei Wurzen und starb im Jahre 1786. Aber er hinterließ wieder einen Sohn, der den Namen Stübel von neuem in weiten Kreisen bekannt machte:

Christoph Karl Stübel, geboren zu Pausitz am 3. August 1764. Er erhielt seine Vorbildung auf dem Gymnasium zu Torgau und studirte von 1785 bis 1788 auf der Universität zu Wittenberg die Rechte. Schon 1789 habilitirte er sich dort als Privatdozent bei der Juristenfakultät, wurde 1791 Doktor und 1795 ordentlicher Professor der Rechte. Als solcher las er über Rechtsencyklopädie, Institutionen, Pandekten, Sächsisches und Deutsches Kriminalrecht und Prozeß. Seine wissenschaftlichen Arbeiten bewegten sich hauptsächlich auf dem Gebiete des Kriminalrechts: hervorragend sind zwei von ihm veröffentlichte Werke „über den Thatbestand der Verbrechen“ und „über das Kriminalverfahren in deutschen Gerichten mit besonderer Berücksichtigung Sachsens“. Als die Universität Wittenberg in Folge der Landestheilung 1815 aufgehoben wurde, war er bestimmt, als Rechtslehrer nach Leipzig zu gehen. Ehe er jedoch dahin übersiedelte, erhielt er den ehrenvollen Auftrag, im Verein mit den Hof- und Justizräthen Eisenstuck und Tittmann den Entwurf zu einem Strafgesetzbuche für das Königreich Sachsen auszuarbeiten. Zugleich ward er mit der Aufgabe betraut, den Söhnen des Prinzen Maximilian, Friedrich August und Clemens, dann auch dem Prinzen Johann, der sich später selbst als tüchtiger Jurist bewährt hat, Vorlesungen über die gesammte Rechtswissenschaft zu halten[16].

So wurde mit ihm die Familie Stübel wieder nach Dresden verpflanzt. Im Jahre 1817 wurde er zum Hof- und Justizrath in der königlich sächsischen Landesregierung ernannt, der damit verbundenen Dienstgeschäfte aber, die ihm keine Befriedigung gewährten, 1819 wieder enthoben und angewiesen, die Gesetzgebungsarbeit allein fortzusetzen. Er vollendete den Entwurf des Strafgesetzbuchs im Jahre 1826 und erlebte die Freude, ihn von der Fachkritik sehr günstig beurtheilt zu sehen. Freilich kam das Gesetzbuch erst nach mehrfachen Umarbeitungen, an denen sich die Prinzen Friedrich August und Johann lebhaft betheiligten, im Jahre 1838 zu stande, galt aber dann auch im Auslande als mustergiltig. Am 5. Oktober 1828 schied der ausgezeichnete Mann nach längerem Leiden aus dem Leben[17]. Der Einfluß, den er auf die sächsische Gesetzgebung wie auf die Sinnesrichtung der beiden späteren Könige Friedrich August und Johann auszuüben berufen war, hat noch lange nach seinem Tode segensreich nachgewirkt.

Ganz heimisch war der Wittenberger Gelehrte in Dresden, der eigentlichen Vaterstadt seines Geschlechtes, noch nicht geworden, um so enger verknüpften sich dann die Geschicke seiner Nachkommenschaft mit ihr. Einer von seinen vier Söhnen war Karl Julius Stübel, geboren zu Wittenberg am 11. März 1802. Dieser ließ sich nach Beendigung seiner juristischen Studien als Advokat in Dresden nieder und wurde im Jahre 1830 Mitglied des Rathes und des Munizipalstadtgerichts. Eine lange Reihe von Jahren, zuletzt mit dem Titel eines Geheimen Justizraths, verwaltete er das Amt eines Vorstandes der Abtheilung für Vormundschafts- und Nachlaßsachen beim königlichen Bezirksgericht. In dieser Stellung hatte sich der durch ebenso [31] leutseliges als vornehmes Wesen ausgezeichnete Mann das Vertrauen und die Zuneigung der Bürgerschaft in so hohem Grade erworben, daß sie ihm, als er Ende 1874 nach 53jähriger Dienstzeit aus dem Amte schied, ihren Dank durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Stadt zu erkennen gab. Noch steht sein Bild vor Aller Augen, denn erst am 6. Januar 1891 ist er hochbetagt aus dem Leben geschieden. Niemand ahnte, daß sein damals noch in voller Rüstigkeit wirkender Sohn ihm so bald ins Grab nachfolgen würde!

Mit ihm, dem unvergeßlichen Paul Alfred Stübel, hatte die Familie an äußerem Ansehen wie an innerer Tüchtigkeit den Höhepunkt erreicht, nicht in plötzlichem Aufschwunge, sondern in allmählichem Vorwärtsstreben seit mehr als zwei Jahrhunderten. Den Grund zu dieser aufsteigenden Entwicklung hatte schon der Stammvater Andreas Stübel gelegt, indem er über die Anforderungen seines Standes hinaus den Söhnen eine höhere Erziehung gab, worauf seine Nachkommen in sechs Generationen ohne Unterbrechung den gelehrten Berufsarten angehört haben. So bescheiden die Rolle war, die er selbst, der ehemalige Bauernbursche und reisige Knecht, in der bürgerlichen Gesellschaft spielte – als der Begründer einer unsrer besten Bürgerfamilien hat es dieser treffliche Mann wohl verdient, in der Geschichte unsrer Stadt genannt zu werden.


  1. Zuletzt Weißegasse Nr. 2, abgebrochen bei Anlegung der König Johann-Straße.
  2. Rathsakten C. XLI. 3.
  3. Siehe die Lebensbeschreibung Andreas Stübels d. J. in dem 1725 erschienenen Auktionskataloge seiner Bibliothek.
  4. Rathsakten D. XII, Bl. 63.
  5. Rathsakten F. I. 1, Bl. 85 flg.
  6. Rathsakten D. XII, Bl. 224.
  7. J. A. Müller, Geschichte der Fürstenschule zu Meißen, Bd. 2 (1789), S. 123 flg.
  8. Rathsakten D. XII, Bl. 67.
  9. F. Koldewey in der Allgemeinen deutschen Biographie, Bd. 36, S. 703.
  10. F. Koldewey in der Allgemeinen deutschen Biographie, Bd. 36, S. 703.
  11. Freundliche Mittheilung des Herrn Superintendent Oberpfarrer Dr. Schmidt in Annaberg.
  12. Desgl. des Herrn Privatdozent Dr. Brandenburg in Leipzig.
  13. Verpflichtungsregistrande in Accissachen 1721–31, Bl. 187 (Lokat 36468).
  14. Mittheilung des Herrn Stadtbibliothekar Klix in Kamenz.
  15. Desgl. des Herrn Oberbibliothekar Dr. Stübel in Dresden.
  16. Ueber diese Thätigkeit äußert er sich in einem Briefe, den er am 20. August 1819 an seinen Freund, den berühmten Theologen Karl Immanuel Nitzsch in Wittenberg (gest. 1868 als Professor und Oberkonsistorialrath in Berlin), richtete und von dem ich eine Abschrift Herrn Pfarrer D. Buchwald in Leipzig verdanke: „Mir ist es seit unserer Trennung, ich kann nicht sagen unglücklich, nach meinen Gefühlen aber auch nicht ganz glücklich, sondern sonderbar gegangen. Gott hat mich aus der Wittenberger Studir- und Facultätsstube in die große Welt und unter die fürstlichen Personen geführt. Das war nicht mein Wunsch. Und was das Wichtigste ist, ich bin auch dazu nicht geschaffen. Es kann nicht fehlen, daß ich oft anstoße. So wenig ich mich ferner über die neuen Verhältnisse freute, so war ich wegen derselben doch dem Neide und drückenden Kabalen ausgesetzt. Ich wünschte nicht, Instructor vom Prinzen zu werden, machte sogar dagegen Vorstellung, und große Leute suchten es zu hindern, ward es aber doch. Man suchte mich sogar, nachdem meine Vorlesungen beendiget waren, zu entfernen, allein der König machte mich ohne Denomination zum Hof- und Justizrath und hat mir neuerlich wieder aufgetragen, dem jüngsten Prinzen Johann juridische Vorlesungen zu halten. So laße ich mich herum treiben! In der Landesregierung befinde ich mich nicht wohl. Die täglichen Sessionen laßen mir auch keine Stunde zum Studiren übrig. Und die Arbeiten sind mir zum Theil fremd. Dafür sehe ich mich aber in der Familie des Prinzen Max sehr entschädiget. Man ist mit meinen Bemühungen zufrieden und weit entfernt, mein aufrichtiges und gerades Benehmen lästig zu finden. Ich bin unter den Prinzen ganz der Alte und mache mir es sogar zur Pflicht, ihnen nichts zu verhalten, und sie nehmen das wohl auf. Sie sind an Kopf und Herz ausgezeichnete Menschen. Der König selbst hat sich mehrere mal mit an Tisch gesetzt und Stunden lang zugehöret. Der Vater hat den mehresten Stunden beygewohnet und ließ sich durch die Prinzen entschuldigen, wenn er nicht erscheinen konnte. Ich habe ihnen unter andern das allgemeine Staats- und Völkerrecht mit der größten Unbefangenheit vorgetragen. Die Vorträge waren mit manchfaltigen Repetitionen verbunden, bey denen ich die Herren fragte und wie Schüler behandelte.“
  17. Eisenhart in der Allgemeinen deutschen Biographie, Bd. 36, S. 704.