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Zur Beurtheilung Georg Grote’s und seiner Griechischen Geschichte

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Autor: Robert Pöhlmann
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Titel: Zur Beurtheilung Georg Grote’s und seiner Griechischen Geschichte
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aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 3 (1890), S. 1–27
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br.
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[1]
Zur Beurtheilung Georg Grote’s und seiner Griechischen Geschichte.
Von
Robert Pöhlmann.


In einer akademischen Rede hat Dietrich Schäfer als das „eigentliche Arbeitsgebiet“ der Geschichte die Entwicklung des Staates bezeichnet, deren Verständniss andererseits – nach seiner Ansicht – wesentlich dadurch gewonnen wird, dass man Werden, Wachsen und die Bedingungen der Macht des Staates erforscht. Denn das Wesen des Staates sei die Macht und die Politik die Kunst, ihn zu erhalten.

Ich lasse hier die Frage ganz unberührt, ob nicht eine solche Abgrenzung der Aufgabe des Geschichtschreibers überhaupt eine zu enge ist. Diese Frage hat bereits in der vortrefflichen Schrift Gothein’s „über die Aufgaben der Culturgeschichte“ (1889) eine meines Erachtens vollkommen zutreffende Beantwortung gefunden. Aber ist auch nur vom Standpunkte der „rein politischen“ Geschichte aus diese Begrenzung des Arbeitsgebietes zulässig?

Man hat gegen Schäfer schon mit Recht bemerkt, dass aus der blossen Machtentfaltung, d. h. aus der Fähigkeit des Staates, seine Kräfte zu concentriren und nach Aussen zu verwenden, unmöglich das Wesen des Staates am besten zu erkennen ist, weil dieselbe gar nicht der Staatszweck sein darf, sondern nur die Vorbedingung einer fruchtbaren Thätigkeit des Staates ist[1]. Diese Thätigkeit ist aber auf eine Ausgestaltung des Gesammtlebens [2] des Volkes gerichtet, deren Ziele weit über das Mass dessen hinausgehen, was durch die blosse „Erhaltung“ des Staates gefordert wäre. Es ist doch keineswegs so unlogisch gedacht, wie Schäfer meint, wenn Macaulay die Politik für eine Wissenschaft erklärt, deren Gegenstand das menschliche Glück sei. Gerade der letzte und höchste Massstab, den wir an den Staat als das Hauptorgan der Cultur anlegen müssen, ist durch die Frage gegeben, was er an seinem Theile für die gemeinsame Arbeit der Menschheit an ihrer Vervollkommnung zu leisten vermocht hat.

In höherem Grade als das Moment der Macht kommen daher die Ideen in Betracht, welche sich durch den Staat – mit Hilfe seiner Machtmittel – Geltung zu verschaffen suchen. Vor Allem wird derjenige, der die Entwicklung und das Wesen des geschichtlichen Staates verstehen will, die Frage beantworten müssen, inwieweit durch denselben die Staatsidee selbst ihre Verwirklichung gefunden hat oder nicht. Und seine Untersuchung wird sich dabei nur zu oft weniger mit der Gewalt des Staates, als vielmehr mit der Macht desjenigen menschheitlichen Organismus zu beschäftigen haben, mit dem die Staatsordnung so enge verwachsen ist, dass seine Gestaltung und die Bedingungen seiner Macht auch von dem politischen Geschichtschreiber mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt werden müssen, wie die des Staates selbst.

Dieser Organismus ist die Gesellschaft. Die Gesellschaft als die Vertreterin der Sonderinteressen der Individuen und Classen, als die Verkörperung der mit der Vertheilung des Besitzes und der Ordnung des Erwerbes nothwendig gegebenen Ungleichheit und Unfreiheit steht in einem beständigen Widerspruch und Kampf mit der Idee des Staates, als des natürlichen Vertreters des Gesammtinteresses, der Freiheit und Gleichheit. Das Princip des Staates bedeutet die Erhebung aller Einzelnen zur Freiheit und zu einem möglichst hohen Grade persönlicher Entwicklung, das Princip der Gesellschaft dagegen ist die Unterwerfung der Einzelnen unter die Einzelnen, die Vollendung der Persönlichkeit des Individuums durch die Abhängigkeit und das Zurückbleiben der Anderen. In diesem Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft, in welchem diese letztere beständig die Tendenz zeigt, den Staat und seine Machtmittel von sich abhängig [3] und ihrem Interesse dienstbar zu machen, fällt nur zu häufig der Sieg der Gesellschaft zu. Je seltener die Staatsidee selbständige Organe besitzt, die über die gesellschaftlichen Interessen vollkommen erhaben sind, um so leichter vermag die Gesellschaftsordnung der Verfassung und Verwaltung des Staates ihr Gepräge zu geben, die Staatsgewalt auf Kosten ihrer höheren Bestimmung zu beeinflussen. So ist denn – abgesehen von der reinen Despotie – die Staatsordnung von jeher mehr oder minder Ausdruck der bestehenden Gesellschaftsordnung, ist die politische Entwicklung der Völker in hohem Masse bedingt gewesen durch die Vertheilung der Güter und der Gesellschaftsclassen. Es ist daher auch ein Haupt- und Grundproblem der politischen Geschichtschreibung, nachzuweisen, wie sich der Staat zu den Elementen der Gesellschaft, wie diese sich zu ihm verhalten.

Wenn aber so die Erforschung des Organismus der Gesellschaft und ihrer Macht recht eigentlich zum Arbeitsgebiete des politischen[WS 1] Geschichtschreibers gehört, so eröffnet sich für ihn zugleich eine weitere Aufgabe, der er sich nicht ungestraft entziehen kann. Die Gesellschaft erhält ihre Ordnung hauptsächlich durch das Verhältniss zwischen dem Eigenthum und der erwerbenden Arbeit; und damit gewinnt auch dieses Moment einen weitgreifenden Einfluss auf die Gestaltung des politischen Lebens selbst, wird zu einem wesentlichen Objekt der geschichtlichen Erforschung des Staates. Wenn unsere Zeit, wie Schäfer selbst mit Recht bemerkt, die Voraussetzungen staatlichen Lebens klarer, tiefer und vielseitiger erfasst hat, als es je zuvor geschehen, so ist das wahrlich der wirthschaftsgeschichtlichen Forschung im hohen Grade mit zu verdanken! Hat sich etwa unserem Niebuhr das tiefere Verständniss des Entwicklungsganges der Römischen Republik durch eine einseitige Betrachtung der politischen und militärischen Machtentfaltung Roms erschlossen, und nicht vielmehr durch seine Studien über das römische Eigenthumsrecht und die Ackergesetze?

Was wäre heute überhaupt die Geschichte der antiken Völker, wenn ihre Erforschung und Darstellung durch die dürftige Formel bestimmt worden wäre, mit der Schäfer das Arbeitsfeld der Historie umgrenzen will, wenn sie nicht seit den Tagen Niebuhr’s und Böckh’s auch von den Meistern der politischen Geschichte [4] als das behandelt worden wäre, was sie – nach der treffenden Bemerkung auf dem ersten Blatt von Mommsen’s Römischer Geschichte – sein soll und muss, als die „Culturgeschichte der Anwohner des Mittelmeeres“?[WS 2]

Am wenigsten reicht jene Formel aus gegenüber der Geschichte des antiken Republikanismus. Denn nirgends tritt ja die Macht der Gesellschaft im Staat und über den Staat klarer und entschiedener zu Tage, als in der Republik, auch in der demokratischen, in der zwar ideell die sogenannte Volkssouveränität, in Wirklichkeit aber die Souveränität der Gesellschaft, beziehungsweise der jeweilig herrschenden Gesellschaftsclassen die eigentliche Grundlage der Staatsordnung und des politischen Lebens bildet.

Von diesem Gesichtspunkt aus wird man an jede Geschichtsschreibung, welche die Entwicklung der antiken Republiken zu ihrem Gegenstand macht, die Forderung stellen müssen, dass sie zugleich eine Geschichte der Gesellschaft und der socialen Bewegung enthalte. In diesem Sinne hat Mommsen die innere Geschichte des Römischen Staates zugleich als die Geschichte des Römischen Bauernstandes geschrieben. Und neben ihm hat Nitzsch in seiner feinsinnigen Weise an dem tragischen Ringen der capitalistischen und bäuerlichen Elemente des Römischen Volkes gezeigt, wie hier die furchtbare Naturgewalt der materiellen Interessen in ihrer ganzen verhängnissvollen Bedeutung für die sittliche Persönlichkeit des Einzelnen, für Gesellschaft und Staat zu Tage tritt. – Eine Betrachtungsweise, die den ewig unvergänglichen Bildungswerth der Geschichte von Hellas und Rom gewiss noch ungleich mehr zur Geltung zu bringen vermag, als selbst das wohlredendste Pathos plutarchischer Schilderungen der „Bürgertugend, die in ihren glänzendsten Epochen unübertrefflich strahlt“[2].

Wenn wir daher den richtigen Massstab für die Beurtheilung des Geschichtschreibers der Athenischen Demokratie gewinnen [5] wollen, so werden wir ein Hauptgewicht auf die Frage legen müssen, ob und inwieweit er in der Geschichte des Staates die der Gesellschaft gesucht hat[3].

Es könnte auf den ersten Blick scheinen, dass sich Grote dieser Aufgabe in der That voll und ganz bewusst war, wenn wir in seiner berühmten Kritik Mitford’s lesen, dass eine Griechische Geschichte ein vollständiges Bild der Erscheinungen und des „Mechanismus“ der Gesellschaft geben müsse[4]. Allein es erregt doch sofort Bedenken, wenn nun Grote in der „History of Greece“ selbst erklärt, die Wirksamkeit eines „socialen Systems“ schildern zu wollen, welches durch den Schutz und die Freiheit, die es dem Individuum gewährte, den schöpferischen[WS 3] Trieben des Genius den mächtigsten Anreiz gab und höher stehenden Geistern hinreichenden Spielraum liess, sich in Religion und Politik von der Tradition zu emancipiren, die Schranken der Zeit zu durchbrechen[5]. Denn dieses „social system“ ist nicht der Organismus, den wir als die „Gesellschaft“ in ihrer Selbständigkeit gegenüber dem Staat und im Unterschied vom Staat bezeichnen, sondern umfasst die sociale und politische Ordnung in gleicher Weise. Wenn daher Grote von dem „mechanism of society“ spricht, so hat er auch dabei Gesellschafts- und Staatsordnung als ein ununterschiedenes Ganzes im Auge, wie er denn auch geradezu den Ausdruck „political society“ gebraucht. Man vermisst demnach in seiner Auffassung von vornherein das, was die erste Voraussetzung für die Lösung der angedeuteten Aufgabe bildet, die scharfe Trennung de Begriffes der Gesellschaft von dem des Staates; eine Unterscheidung, ohne welche eine wirkliche Einsicht in das Wesen und die Macht der Gesellschaft nicht möglich ist.

Diese mangelhafte Grundanschauung ist es, in welcher die Illusionen der Grote’schen Geschichtschreibung über den culturpolitischen Werth der Demokratie wurzeln. Er weiss die Segnungen der demokratischen Republik als der „reinsten“ Verkörperung [6] der Freiheit und Gleichheit in das hellste Licht zu setzen, und geht gleichzeitig leichten Herzens über all’ die Unfreiheit und Ungleichheit hinweg, die in diesem „freien Spiel der Kräfte“ (the free play of individual impulse) in der Gesellschaft aufwucherte, und die um so verhängnissvoller auf das Griechische Staatsleben zurückgewirkt hat, je machtloser der republikanische Staat der Gesellschaftsordnung gegenüberstand.

Eine einigermassen genügende Analyse der Elemente und Lebensgesetze der Gesellschaft sucht man bei Grote vergeblich. Der Glaube an das demokratische Verfassungsprincip und an die Macht der politischen Formen und des formalen Rechtes lässt eine derartige Betrachtungsweise nirgends aufkommen. Bezeichnend dafür ist der Satz, welchen Grote Mitford’s allerdings einseitiger Beurtheilung der Athenischen und der Griechischen Demokratie überhaupt entgegenhält, dass nämlich die „Volksversammlung im demokratischen Staate immer dasselbe Interesse gehabt habe, wie die Gesammtheit“. Die ungeheure Mehrheit der Bürgerschaft (wie Grote meint 99 Procent) wird dabei als eine einheitlich gesinnte Masse hingestellt, die trotz der Verschiedenheit der socialen und wirthschaftlichen Lage der Einzelnen durchaus harmonisch hätte zusammenleben können (could live harmoniously together), wenn nur nicht „die wenigen Allerreichsten“ (the few richest men) beständig auf eine Störung dieser Harmonie hingearbeitet hätten[6]. Daher habe in der die Gesammtgemeinde ausser den Reichsten repräsentirenden Demokratie (the remaining community minus the riches) der Staatsgedanke die reinste Verwirklichung gefunden; „denn das Interesse von 99 Procent der Gesammtheit müsse doch immer dasselbe gewesen sein, wie das des Ganzen selbst“[7].

[7] Dass die hier der Hellenischen Demokratie zugeschriebene Homogenität der Gesinnungen und Interessen in der That vorhanden sein musste, wenn dieselbe eine Verwirklichung der Idee der „reinen“ Demokratie (pure democracy) darstellen sollte, leuchtet ein. Denn wenn gemäss dem Princip der Volkssouveränität der Wille des Staates die Gesammtheit aller Einzelwillen darstellt, so ist die nothwendige Bedingung für die innere Einheit des Staatswillens die Identität des Interesses aller Einzelnen. Wo hätte aber jemals in der wirklichen Republik, im geschichtlichen Staat diese Identität der Interessen bestanden? Schuf nicht allein der Gegensatz von Besitzenden und Nichtbesitzenden Interessen, die sich gegenseitig ausschlossen und die eben dadurch, dass sie sich naturgemäss den Staatswillen dienstbar zu machen suchten, der reinen Verwirklichung des Gedankens der Volkssouveränität feindlich entgegenstanden? Ist nicht die innere und äussere Geschichte des demokratischen Athens – von anderen Hellenischen Staaten ganz zu schweigen – ein fortlaufender Commentar zu dieser das gesammte Volks- und Staatsleben beherrschenden Thatsache der Gesellschaftsordnung, die selbst Grote bei der Darstellung der geschichtlichen Vorgänge im Einzelnen nicht völlig ignoriren kann? – Mit Grote’s eigenen Anschauungen, z. B. über die nachtheiligen Einflüsse des Interesses der Besitzenden auf die Athenische Geschworenenjustiz[8], mit der zeitweilig nicht minder fühlbaren Abhängigkeit der Dikasterien von dem Interesse der nichtbesitzenden Volksclasse steht es doch sehr wenig im Einklang, wenn Grote meint, selbst falsche Aussprüche der Volksgerichte hätten der öffentlichen Meinung Athens niemals als ungerecht erscheinen können, weil die Ursachen solcher Verirrungen der Justiz immer nur in Empfindungen wurzelten, welche mit den Geschwornen die Gesammtheit der Bürgerschaft theilte![9] Eine Ansicht, die allerdings [8] die logische Consequenz der Grote’schen Theorie von der Homogenität der demokratischen community darstellt, aber desswegen nicht weniger unhistorisch ist.

Diese ganze Auffassung der Demokratie bei Grote ist eben eine reine Abstraction, ein Erzeugniss des Optimismus, den er mit den philosophischen Radicalen seiner Zeit überhaupt gemein hat, sowie ihrer Unfähigkeit, die socialen Factoren und Kräfte richtig zu beurtheilen. Wenn die durch die Demokratie geschaffene Harmonie des öffentlichen Lebens nur durch das kleine Häuflein verbissener Oligarchen gestört wurde, wie kommt es dann, dass seit dem Ende des 5. Jahrhunderts sich in der öffentlichen Meinung von Hellas eine so starke antidemokratische Strömung fühlbar macht, die sich mitunter bis zu einem förmlichen „Hass gegen Agora und Rednerbühne“ steigerte?[10] Wie erklärt sich bei Grote’s Auffassung das Urtheil des Xenophontischen Sokrates über die Volksversammlung, den „unwissenden und ohnmächtigen Haufen von Walkern, Schustern, Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Händlern und Krämern, Leuten, die nie über Politik nachgedacht haben“?[11] Haben etwa nur engherzige Oligarchen so empfunden, oder ist nicht vielmehr dieses Urtheil der Ausdruck eines tiefgehenden Gegensatzes innerhalb des Bürgerthums selbst, den der Widerspruch des absoluten Majoritätsprincips und der Souveränität des Demos mit den höheren staatlichen Interessen unvermeidlich zur Folge hatte?

Doch dafür hat die Grote’sche Geschichtschreibung ebensowenig ein Auge, wie für die weitere Thatsache, dass im Schoosse der demokratischen community selbst – unter den Bedingungen des antiken Güterlebens – die schlimmsten Gegensätze emporwuchern mussten. Grote übersieht gerade das, was bei der geschichtlichen Beurtheilung dieser Fragen in erster Linie stehen sollte: Die unter der Einwirkung der Sklavenwirthschaft auf die Lage der erwerbenden freien Arbeit sich vollziehende Zersetzung [9] der Gesellschaft, das Zusammenschwinden des Mittelstandes und die Entwicklung der Geldmacht auf der einen, des Proletariats auf der anderen Seite, die gegenseitige Entfremdung der verschiedenen Gesellschaftsschichten durch Classenneid und Classenhass, das Heraustreten dieser Classengegensätze aus der socialen Sphäre in das staatliche Gebiet und das Ringen derselben um den Besitz der Staatsgewalt, wodurch der politische Kampf zum Classenkampf zwischen Arm und Reich, zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden entartete. – Statt diese Erscheinungen zu verfolgen, feiert Grote die „Stabilität der Demokratie“ und die „Einigkeit in der Demokratie“ ohne Rücksicht darauf, dass in Folge der angedeuteten Entwicklung sich ein ebenso unversöhnlicher Gegensatz zwischen dem wohlhabenden Bürgerthum und dem Proletariate herausbildete, wie zwischen der oligarchischen Plutokratie und dem freiheitlich gesinnten Mittelstand, dass neben der alten politischen Demokratie eine sociale Demokratie erwuchs, deren Umsturztendenzen der Volksfreiheit selbst das Grab bereiten halfen.

Es ist, als ob für Grote jene grosse seit den Zeiten des peloponnesischen Krieges stetig wachsende Masse gar nicht vorhanden wäre, deren Lage wie ein Hohn auf das Princip der Freiheit und Gleichheit erscheint, eine Classe, die sich eines Gegensatzes nicht bloss gegenüber „wenigen Reichen“, sondern mehr und mehr auch gegenüber allen denen bewusst wurde, welche durch Besitz und sociale Unabhängigkeit wirklich „frei“ waren. Dieser Widerspruch innerhalb der demokratischen Gesellschaft selbst machte sich natürlich minder fühlbar in einer Zeit, in der die Unterschiede des Vermögens noch geringer waren und der mittlere und kleine landwirthschaftliche Besitz der grossen Masse der Bevölkerung eine ausreichende wirthschaftliche Existenz gewährte. Allein er ist dann nur um so furchtbarer zu Tage getreten, je rascher und intensiver sich diese Verhältnisse mit dem zunehmenden Uebergewicht capitalistischer Tendenzen geändert haben. – Als das Capital sich der meisten Erwerbszweige, besonders des Grundbesitzes immer ausschliesslicher zu bemächtigen wusste, als das selbständige bäuerliche Eigenthum zusammenschmolz und der Bauer zum Proletarier wurde, als auch in den städtischen Nahrungszweigen durch die Entwicklung des Grossbetriebes und der Sklavenconcurrenz die Abhängigkeit und Hoffnungslosigkeit [10] der besitzlosen freien Arbeit stetig zunahm, da drängte sich in den Städten eine Bevölkerung zusammen, die sich zum Theil sehr entschieden als das Opfer eines socialen Unrechtes fühlte und daher aus dem demokratischen Gleichheitsprincip noch ganz andere Consequenzen zog als das freiheitlich gesinnte besitzende Bürgerthum. Ein elendes dem Pauperismus rettungslos verfallenes Proletariat, dem, wie Isokrates, der „Stimmführer der Gebildeten“, treffend bemerkt, das Gemeinwesen gleichgültig war, wenn es nur Brot hatte[12], dem nichts ersehnter war, als Beraubung der Vermögenden[13].

Es leuchtet ein, wie sehr diese socialen Gegensätze auch auf der Agora sich fühlbar machen mussten, als in Folge der angedeuteten Concentrirung der besitzlosen Elemente der Gesellschaft in der Volksversammlung die Zahl derer immer grösser wurde, denen die wirthschaftlichen und socialen Bedingungen eines unabhängigen Bürgerthums vollkommen fehlten. Nur wer solche fundamentale Thatsachen des Gesellschaftslebens so gänzlich ignorirt, wie es Grote thut, kann sich dem Wahne hingeben, dass „die Volksversammlung immer dasselbe Interesse hatte, wie die Gesammtheit“.

Grote’s Darstellung erweckt überall den Eindruck, als ob der Grundcharakter der entwickelten Hellenischen Demokratie immer der gleiche geblieben wäre, und alle Zeit ein solch einheitliches Gepräge gezeigt hätte, wie etwa die Englische Demokratie vor der Reformbill, als die besitzende Bourgeoisie mit ihrem Interesse an individueller Freiheit und die besitzlose Masse mit ihrer Forderung politischer Gleichheit noch einig Hand in Hand gingen. Und doch hätten gerade die Erfahrungen der Jahre, in welche die Entstehung seines grossen Werkes fällt, den Geschichtschreiber belehren können, dass die Freiheitsliebe der wirthschaftlich Stärkeren, der Besitzenden und Gebildeten und der Gleichheitsdurst der niederen Massen niemals auf die Dauer miteinander Hand in Hand gehen können, weil die Freiheit stets die Tendenz in sich trägt, zur Herrschaft der Starken über die Schwachen, die Gleichheit aber die, zur Freiheitsbeschränkung der Stärkeren zu entarten. Wenn nicht auch die Hellenische Demokratie diesen inneren Widerspruch enthalten hätte, wie würde [11] sich sonst die Thatsache erklären, dass gerade auf dem Höhepunkte der Athenischen Demokratie kein Problem die edelsten Geister mehr beschäftigt hat, als das Recht des Individuums gegen die Gesammtheit und ihr Gesetz?

Die Grote’sche Auffassung der Geschichte lässt uns solchen Erscheinungen gegenüber vollkommen im Stich. Es ist für unsere heutige Anschauungsweise kaum mehr begreiflich, wie blind und theilnahmslos diese Geschichtschreibung an den bedeutsamsten Thatsachen des Volkslebens vorübergeht, wenn sie ausserhalb des Gesichtskreises der Doctrin liegen. So ist doch gewiss, um ein bezeichnendes Beispiel zu wählen, an der Korinthischen Bundesverfassung von 338 beziehungsweise 336, durch welche Hellas sich unter die Makedonische Monarchie gebeugt hat, vor allem der Umstand von Interesse, dass das socialpolitische Moment in derselben in ganz besonderer Weise betont wird. Die neue durch den Sieg der Monarchie verbürgte Ordnung der Dinge schafft neue Garantien für die Sicherheit des Eigenthums gegen socialrevolutionäre Tendenzen, gegen die im Classenkampf immer häufiger werdenden Gewaltacte der Güterconfiscation und Ackervertheilung, des Schuldenerlasses und der revolutionären Sklavenbefreiung. – In der Inhaltsangabe des Bundesvertrages können diese Dinge natürlich auch von Grote nicht übergangen werden; bei der historischen Würdigung des Vertrages jedoch sind sie für ihn nicht mehr vorhanden, ebensowenig wie das ganze social-ökonomische System, dessen Symptome sie sind[14].

Bricht doch seine Darstellung der Griechischen Geschichte schon mit diesem Zeitalter ab, obgleich die letzten Consequenzen der ganzen bisherigen socialen und politischen Entwicklung gerade seit dieser Epoche immer deutlicher zu Tage treten, und obgleich eine Griechische Geschichte, für welche das 3. und 2. Jahrhundert nicht mehr vorhanden ist, zu einem allseitigen Urtheil über das Werthresultat jener Entwicklung unmöglich gelangen kann.

Kein Wunder, dass man bei Grote für die schon im 4. Jahrhundert überall lautwerdenden Klagen über die Massenarmuth [12] neben prunkendem Reichthum, über die allgemeine Zunahme des Vagabunden- und Reisläuferthums eine einigermassen genügende Erklärung vergeblich sucht. Kein Wunder auch, dass Grote in seinem Doctrinarismus so weit geht, der Griechischen Staatslehre jener Zeit einen förmlichen Vorwurf daraus zu machen, dass sie nicht nur von einer Partei der „Reichen“, sondern auch der „Armen“ wisse, während doch nur von einem Gegensatz der oligarchischen Reichen und der demokratischen „Nichtreichen“ die Rede sein könne[15]. Eine Behauptung, die sich seltsam genug ausnimmt, wenn man ihr die Kritik gegenüberhält, welche die einsichtigen Kreise der damaligen Gesellschaft überhaupt an den politischen Zuständen des 4. Jahrhunderts geübt haben. – Ist es etwa eitel Schwarzseherei, wenn uns da von den Demagogen erzählt wird, welche die wirthschaftliche Nothlage der Masse benutzen, um dieselbe auf Kosten des Gemeinwesens und der Besitzenden an sich zu fesseln und gegen die staatserhaltenden Elemente zu hetzen, Politiker, die an eine ernstliche Bekämpfung des Pauperismus gar nicht denken, sondern nur daran, „wie die Besitzenden den Armen gleich zu machen seien“[16]? – Sind das nicht Erscheinungen, die sich aus der damaligen Gestaltung der socialen Frage mit innerer Nothwendigkeit ergaben?

Freilich ist diese Frage für die Grote’sche Geschichtschreibung so gut wie nicht vorhanden. Grote kennt in seiner demokratischen community der 99 Procent „Nichtreichen“ nur einzelne bettelhafte Existenzen, wie sie in keiner Gesellschaft fehlen, aber weiss nichts von einem Proletariat als einer socialen Gruppe, die ihr besonderes Classenbewusstsein und ihre besonderen Classenforderungen hat[17]. Daher gewinnt man aus seiner Darstellung kaum eine Ahnung davon, wie gewaltig sich die Opposition gegen die Grundlagen alles Bestehenden innerhalb der Hellenischen Republiken allmählig entwickelte, bis schliesslich [13] die – schon in den communistischen Tendenzen des 4. Jahrhunderts so bedeutsam hervortretende – Forderung einer gewaltsamen wirthschaftlichen Ausgleichung von Staatswegen im 3. und 2. Jahrhundert das allgemeine Feldgeschrei der Massen geworden ist.

So sind denn auch die, so recht aus diesen Verhältnissen heraus geschriebenen Erörterungen der Aristotelischen Staatslehre über die wirthschaftliche und sociale Differenzirung der Gesellschaft und deren Einfluss auf das politische Leben für Grote ebenso wenig vorhanden, wie die Klage des Aristosteles über das Zusammenschwinden des Mittelstandes und seine socialreformatorischen Ideen und Vorschläge zur Errettung der freien Arbeit aus hoffnungsloser Besitzlosigkeit. Grote kommt daher auch nicht entfernt dazu, die Entwicklung der politischen Parteikämpfe und den Wechsel der Verfassungsformen nach dem Beispiel des Aristoteles im Zusammenhang mit der Wirthschafts- und Gesellschaftsordnung zu erfassen und zu beurtheilen. Sein Massstab ist vielmehr stets ein ganz einseitig politischer.

Die Frage nach der Entwicklung der „constitutionellen Sittlichkeit“ und der Freiheit der Debatte ist für ihn das einzige in Betracht kommende Moment, von dem allein es abhängen soll, ob im politischen Leben die Staatszwecke oder Ehrgeiz und Leidenschaft obsiegen. Ich erinnere z. B. an die Schilderung der greuelvollen Auswüchse des Parteikampfes in Korkyra[18] und Argos[19]. Grote sieht in diesen Schreckensscenen nur das Werk grimmiger politischer Leidenschaft, wie sie bei einer Bevölkerung begreiflich sei, die weder Geschmack für Beredsamkeit gehabt, noch gewöhnt gewesen sei, Reden auf sich wirken zu lassen, jede Frage friedlich für und wider discutiren zu hören. Habe ja doch auch Cicero gesagt, dass ihm nie etwas von einem argivischen Redner zu Ohren gekommen![20]

Wie unendlich dürftig erscheint eine derartige Causalerklärung, [14] die ohne Ahnung von dem furchtbaren Ernste der socialökonomischen Zustände jener Zeit und dem typischen Charakter der in diesen Zuständen wurzelnden Ausartungen des Parteikampfes alles Gewicht auf ein Moment legt, welches gegenüber der entfesselten Gewalt der elementaren Kräfte der Gesellschaft doch immer nur von höchst problematischer Bedeutung sein kann! Soll uns die Geschichte der Hellenischen Verfallszeit weiter nichts lehren, als dass „die Ursachen all dieser düsteren Erscheinungen tief im menschlichen Geiste liegen und wahrscheinlich von Zeit zu Zeit in verschiedener Gestalt wiederkehren werden, wenn nicht die Grundlagen der constitutionellen Moralität sicherer und fester gelegt werden sollten, als es bisher geschehen“[21]?

Grote selbst hat sich in seinen letzten Lebensjahren dem Gefühle nicht ganz entziehen können, dass eine derartige doctrinäre Beurtheilung politischer Probleme dem wirklichen Leben nicht gerecht zu werden vermag. Eine Thatsache von höchstem Interesse, auf die in dem – noch immer ungeschlichteten – Streit über die Berechtigung der Grote’schen Darstellung der Athenischen Demokratie merkwürdigerweise noch von keiner Seite hingewiesen worden ist[22], obwohl sie der Grote’schen Schule den Boden unter den Füssen wegzieht.

Die vortreffliche Darstellung seines Lebens von H. Grote macht uns die überraschende Mittheilung, dass durch die Anschauungen, welche im Laufe der Jahre Zeit, Erfahrung und Nachdenken in dem Geschichtschreiber gereift hatten, das politische Glaubensbekenntniss seiner früheren Periode (d. h. der Abfassungszeit der Griechischen Geschichte) vielfach umgestaltet und eine Reihe früherer Illusionen zerstört worden sei[23]. So erklärte [15] Grote im Jahre 1867 im Hinblick auf die amerikanische Demokratie, dass er „seinen Glauben an die Wirksamkeit einer republikanischen Regierung als eine Schranke gegen die gemeinen Leidenschaften einer Majorität in der Nation überlebt habe“. Er gibt jetzt die Möglichkeit zu, dass die „höchste Gewalt, wenn sie in republikanischen Händen ruht, auf gerade ebenso verderbliche Weise ausgeübt werden kann, als durch einen despotischen Herrscher“[24].

Nicht minder bezeichnend ist das Geständniss Grote’s (aus dem Jahre 1870), er sei zu der Einsicht gelangt, dass im Englischen Volke der Ausfall politischer Wahlen weniger zu bedeuten habe, als er ehemals vorauszusetzen pflegte. „Nimm einen Bruchtheil der Gesellschaft, mache einen Durchschnitt von ihm von oben bis unten und prüfe dann die Zusammensetzung der aufeinanderfolgenden Schichten. Sie sind von Anfang bis zu Ende einander sehr ähnlich. Die Anschauungen gründen sich sämmtlich auf die gleichen socialen Instinkte, niemals auf eine klare und erleuchtete Erkenntniss der Interessen des Ganzen. Jede besondere Classe verfolgt ihre eigenen, und das Resultat ist ein allgemeiner Kampf um die Vortheile, welche aus der Herrschaft einer Partei erwachsen“[25].

Welch’ ein Gegensatz zwischen dieser Auffassung des greisen Staatsmannes und dem Optimismus der Anschauungen seines Jugend- und Mannesalters, wie sie für sein Geschichtswerk massgebend gewesen sind! Soweit freilich ist Grote immer Doctrinär geblieben, dass er auch dann noch die republikanische Regierungsform unbedingt allen anderen vorzog, nachdem er wesentliche Punkte seines republikanischen Glaubensbekenntnisses als Illusionen erkannt hatte[26].

Es macht angesichts dieses Entwicklungsganges Grote’s selbst einen eigenthümlichen Eindruck, wenn wir in der „Griechischen Geschichte“ von dem bekannten Staatsmann Dion lesen, dass derselbe nur desshalb den Werth des reinen Volksstaates in Frage gestellt habe, weil seine Anschauungen nicht durch die Erfahrungen des praktischen Lebens und der „besten praktischen [16] Staatsmänner“, sondern durch die Lehren der Akademie und Plato’s bestimmt worden seien[27]. Diesen Vorwurf erhebt eine Geschichtschreibung, deren Grundanschauungen in der einseitigsten und abstractesten Theorie wurzeln!

Wie sehr gerade Grote im Banne der Schule stand, zeigt sich ausser in seinem politischen Radicalismus ganz besonders deutlich in seiner Abhängigkeit von der allmächtigen Zeitdoctrin der orthodoxen Wirthschaftslehre: eine Thatsache, die schon um desswillen eine eingehendere Darlegung verlangt, weil eigentlich sie erst den Schlüssel für das volle Verständniss von Grote’s Geschichtsauffassung an die Hand gibt. – Seine Lehrer in der „Metaphysik“ der politischen Oekonomie, wie er sich selbst bezeichnenderweise ausdrückt[28], waren – abgesehen von Adam Smith und Jeremias Bentham – Ricardo, der ältere Mill, Macculloch und der Franzose J. B. Say[29], Männer, mit denen Grote auch in dem lebhaftesten persönlichen Verkehr und Ideenaustausch stand. Es sind die Begründer jener individualistischen Nationalökonomie, welche mit ihrer Vorstellung von einer Naturwissenschaft (science) der Gesellschaft und den daraus abstrahirten Lehren von dem Naturgesetz der freien Concurrenz und der natürlichen Harmonie der Interessen, mit ihrer Anschauung von der Vermehrung des Reichthums als massgebenden Zweckes menschlichen Gemeinschaftslebens für den jungen Banquier unmöglich der Weg zu einer wahrhaft geschichtlichen Staats- und Gesellschaftsansicht werden konnte.

Am wenigsten vermochte Grote durch eine Lehre, welche die ökonomischen Erscheinungen von den anderen socialen Phänomenen so vollkommen isolirte, zu einer tieferen socialpolitischen Auffassung zu gelangen. Ricardo und seine Schüler waren Geschäftsleute, die aus dem wirthschaftlichen Leben diejenigen Erscheinungen herausgriffen, welche das Interesse des Geschäftsmannes erregen. Die Dinge, die diesem Interesse ferner lagen, traten bei ihnen mehr oder minder in den Hintergrund oder wurden auch geradezu als nicht vorhanden angesehen. Für [17] sie standen die Fragen des Geld- und Bankwesens, die abstracten Theorien der Grundrente, des Lohns und Capitalgewinns allen anderen voran: eine Einseitigkeit, die in Verbindung mit dem rein privatwirthschaftlichen Charakter der Lehre die „Political Economy“ immer mehr zum Ausdruck der Classenanschauungen und Classeninteressen des besitzenden städtischen Bürgerthums, zur Dienerin des mobilen Kapitals gemacht hat.

Nun ist zwar Grote, obgleich er als Banquier und Finanztheoretiker, als langjähriger Vertreter der City im Parlament mitten in den Geschäftsinteressen von Lombardstreet stand, durch seine umfassende classische Bildung und seinen humanen und edlen Sinn davor bewahrt geblieben, der herrschenden Wirthschaftslehre bis zu der Vergötterung des Capitals zu folgen, welche das letzte Ergebniss dieser öden Geldwechslerökonomie ist. Für seine Empfindungsweise hatte der Cynismus, den er selbst gelegentlich an der Schule Bentham’s beklagt[30], etwas Abstossendes. Auf der anderen Seite aber begegnete die abstracte Methode der Entwicklung wirthschaftlicher Gesetze, wie er sie in den Schriften seiner Freunde fand, einer sehr verwandten Richtung in seinem eigenen Geistesleben. Seine metaphysischen Neigungen konnten keine bessere Befriedigung finden, als durch diese Wissenschaft, welche so recht ihre Aufgabe in der logischen Correctheit der deductiv gewonnenen Lehrsätze, in der Aufstellung von Axiomen erblickte, aus denen alles Weitere sich mit logischer Nothwendigkeit ergab. Zudem standen die wirthschaftlichen Probleme, mit welchen sich Grote schon aus berufsmässigem Interesse beschäftigte[31], so sehr auch für die herrschende Schule im Vordergrunde der wissenschaftlichen Diskussion, dass es kaum noch des persönliche Verkehres mit Bentham, Ricardo, James Mill u. A. bedurft hätte, um Grote auf das mächtigste zu beeinflussen und in den Bannkreis der Schuldoctrin hinein zu ziehen. [18] Von James Mill, der dem Geschichtschreiber durch seine speculative Richtung besonders nahestand, sagt die Grote’sche Lebensbeschreibung, dass die zwingende Gewalt seiner Dialektik den scharfen logischen Verstand des jungen Grote in einer Weise bezauberte, dass „demselben die Gedankenreihen seines Bildners fast ohne Wahl gewissermassen eingeimpft wurden“ und nach ein paar Jahren engen Verkehrs „nur noch ein geringer Unterschied in den Anschauungen von Lehrer und Zögling bestand“[32].

Diese Uebereinstimmung tritt denn auch bei dem politischen Denker und Geschichtschreiber Grote überall klar zu Tage. So erklärt er sich z. B. gegenüber dem französischen Oekonomisten J. Bapt. Say, der noch einige Ausnahmen von der unbeschränkten Verkehrsfreiheit zugegeben hatte, für die absolute Freiheit der wirthschaftlichen Bewegung und folgerichtigerweise auch für die Lehre von der Harmonie der Interessen[33]. Den Wählern der City versichert er zwar in dem Wahlmanifest gelegentlich seiner Candidatur für das Parlament (1832), dass die Hebung der arbeitenden Classen in seinen Augen ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit sei, aber er weiss in dieser Richtung nichts vorzuschlagen, als Verbreitung volkswirthschaftlicher Bildung, – ein Lieblingsgedanke der Political Economy, für welche diese Bildung natürlich identisch ist mit dem Glauben an die orthodoxe Lehre und der Aneignung ihres Optimismus, – ferner Beseitigung der Steuern auf Lebensbedürfnisse und last not least möglichste Emancipation des wirthschaftlichen Lebens vom Staat, dessen Aufgabe Grote bei dieser Gelegenheit in rein manchesterlicher Weise dahin definirt, dass „er die natürliche Vertheilung des Capitals begünstige, statt sie zu stören“[34]. In der fast [19] gleichzeitigen Abhandlung über die Parlamentsreform wird weiter ausgeführt, dass das Volk selbst vom Staate in der Hauptsache weiter nichts verlange, als Sicherheit von Person und Eigenthum und möglichste Verallgemeinerung der Bildung unter den ärmeren Classen. Den letzteren im Kampfe gegen die Noth zu Hilfe zu kommen, sei nicht Sache des Staates; denn durch eine richtig geleitete Erziehung könnten die arbeitenden Classen gewöhnt werden, ihre Vermehrung so zu regeln, dass die Löhne von selbst auf einer genügenden Höhe erhalten würden[35]!

Noch ein Vierteljahrhundert später steht Grote genau auf demselben doctrinären Standpunkt, trotz der scharfen Kritik, welche inzwischen die herrschende Lehre durch Thomas Carlyle, Thompson u. A. gefunden hatte. Bezeichnend für dieses Stehenbleiben Grote’s ist die zustimmende Anerkennung, welche er in einem Briefe an John Stuart Mill (Oct. 1857) der Schrift Wilhelm v. Humboldt’s über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates ausspricht. Er rühmt die Tendenz eines Werkes, welches die staatsscheue Gesinnung des Individualismus mit einer radicalen Einseitigkeit zum Ausdruck bringt, wie wir sie heutzutage kaum mehr begreifen können, und wie sie ja W. v. Humboldt selbst später zum guten Theil wieder abgestreift hat[36]! Das, was wir als eines der bedeutsamsten Verdienste der Hellenischen Staatswissenschaft preisen, dass sie es verstand, „das höchste Princip der Verwaltung, das „εὖ ζῆν“, neben das höchste der Verfassung zu stellen“[37], ist demnach für den Geschichtschreiber Griechenlands von vornherein nicht vorhanden. Wäre er überhaupt diesem Gedanken bei den Alten näher nachgegangen, so hätte er von seinem Standpunkt aus nur über Verirrungen berichten können. Kein Wunder, dass uns die Erörterungen Grote’s über die Griechische Staatslehre, z. B. ihre Stellung zum monarchischen Princip, so völlig unbefriedigt lassen. Aus seiner Darstellung erhält man keine Ahnung davon, in welch’ bedeutungsvoller Weise die Idee einer starken Regierungsgewalt, insbesondere der [20] sociale Beruf des Königthums als einer wirksamen Vertretung der durch Capitalisten- oder Pöbelherrschaft gefährdeten Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit von Seiten Plato’s und Aristoteles’ entwickelt worden ist[38].

Es ist daher durchaus consequent, wenn Grote für den Geschichtschreiber Griechenlands keine höhere Aufgabe kennt, als die Darstellung des individualistischen Principes und seiner Verwirklichung in der Hellenischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Sein manchesterliches Glaubensbekenntniss verschliesst ihm vollkommen den Blick für die gerade in der Griechischen Geschichte so klar zu Tage tretende Thatsache, dass die blosse Entfesselung der productiven Kräfte, die nackte Freiheit allein keine Bürgschaft für eine gesunde Entwicklung gewährt, sondern den Concurrenzkampf nur immer ungleicher und erbitterter gestaltet. Die an sich ja wohlberechtigte Sympathie für „die Freiheit des individuellen Denkens und Handelns“ (liberty of individual thought and action, liberty and diversity of individual life) lässt bei Grote nirgends den Gedanken aufkommen, dass diese Freiheit, wenn sie sich zu einer solchen Emanzipation der Gesellschaft vom Staate steigert, wie in Hellas, in sich selbst wieder ein freiheits- und culturfeindliches Moment erzeugt: die Herrschaft der Gesellschaft über den Staat. Er hat daher auch keine Ahnung davon, dass die für die letzte Entwicklungsphase des Hellenischen Staatslebens so verhängnissvollen Folgen dieser Allmacht der Gesellschaft, insbesondere die Entfesselung des socialen Kampfes, mit innerer Nothwendigkeit zu einer Reaction führen mussten, welche von Neuem eine starke Regierungsgewalt und zwar in der schlimmen Form der Militärdictatur ins Leben rief. Das, was Grote zur Erklärung der „jüngeren Tyrannis“ anführt, lässt gerade diesen ausschlaggebenden socialpolitischen Gesichtspunkt vollkommen bei Seite.

Bezeichnend für die Anschauungsweise, welche der Grote’schen Geschichtsauffassung zu Grunde liegt, ist die Ausführlichkeit, mit der er die Verdienste der Athenischen Demokratie um die Befreiung des Geldgeschäftes von Zins- und Wucherbeschränkungen, um die Heilighaltung der Schuldverträge und des Privateigenthums [21] behandelt[39], während die Frage nach der Art und Weise der Vertheilung des Eigenthums und ihrer Bedeutung für das demokratische Bürgerthum so gut wie gänzlich ignorirt wird. Grote erscheint hier durchaus als der echte Schüler Ricardo’s und der Lehre von der Sicherheit des Eigenthums als des wahren Grundsteins nationaler Wohlfahrt. Von einer höheren socialwissenschaftlichen Betrachtung der Dinge ist daher dieser Geschichtschreiber des radicalen Liberalismus im Grunde ebenso weit entfernt, wie etwa der conservative Burke.

Nun steht aber Grote nicht bloss in Beziehung auf die allgemeinen Principien im Banne der herrschenden Schule, sondern er theilt auch in hohem Grade ihre sonstigen Einseitigkeiten, insbesondere ihre socialen Sympathien und Antipathien, unter denen die unbefangene geschichtliche Auffassung nothwendig leiden musste.

Es ist bekannt, wie wenig diese Theoretiker der Wechselkurse, der Banknotendeckung und Edelmetallproduction den socialen Problemen der Agrarwirthschaft gerecht zu werden vermochten. Wir finden bei ihnen geradezu eine Abneigung gegen die grundbesitzenden Classen, zumal seitdem in dem grossen Kampf um die Reformbill und die Kornzölle der Antagonismus zwischen Grundbesitz und beweglichem Kapital in voller Schärfe zu Tage trat. Von Ricardo, durch dessen Schriften Grote zuerst in das Studium der Political Economy eingeführt wurde[40], hat man nicht ganz mit Unrecht bemerkt, dass sein berühmtes Grundrentengesetz geradezu von dem Hass des Geldcapitalisten gegen den Grundbesitzerstand dictirt worden sei, dass es darauf hinausläuft, die Grundrente als einen Raub an den anderen Classen hinzustellen[41]. Und mit der gleichen Missgunst wird der Grundbesitz gegenüber dem Geldcapital behandelt in dem literarischen Organ des individualistischen Liberalismus, in welchem die Principien der manchesterlichen Doctrin ihre Anwendung auf das politische Gebiet fanden, in der Westminster Review Bentham’s, [22] unter deren Mitarbeitern als warmer Freund und Parteigenosse uns auch der Geschichtschreiber Griechenlands begegnet[42].

Für die Tendenz dieser ganzen Literatur ist schon bezeichnend die Definition des Capitals, welche den grundlegenden Glaubenssatz derselben bildet. Capital ist für die Schule Bentham’s und Ricardo’s „ersparte Arbeit“,[WS 4] und zwar hat sie dabei wesentlich den Besitz von Handel- und Gewerbetreibenden, sowie von Pächtern im Auge, im Gegensatz zu dem Grundbesitz. Dass der heutige Grund und Boden in derselben Weise durch vorangegangene Culturarbeit zu einem Werthobjekt geworden ist, wie die Werkzeuge des Handels und der Industrie durch die auf ihr Material verwandte Arbeit, das wird einfach ignorirt und der Boden als „Geschenk der Natur“ hingestellt[43]. Und wenn hier auch aus begreiflichen Gründen nicht die Consequenz gezogen wird, die später der Socialismus aus Ricardo’s Lehre abstrahirt hat, dass das Grundeigenthum überhaupt im Widerspruch mit der natürlichen Gerechtigkeit steht, so wird doch der Grundbesitz innerhalb der capitalistischen Gesellschaft als ein berechtigter selbständiger Factor socialer Classenbildung nicht anerkannt.

Allerdings richtet sich die Polemik der Lehre vor allem gegen die unproductiven Landlords, welche „Jagdwild einhegen, Füchse jagen und sich Kornzölle decretiren“; wenn aber gleichzeitig von jeder grundbesitzenden Aristokratie behauptet wird, dass ihr Interesse jederzeit ein dem Interesse aller anderen Stände der Gesellschaft entgegengesetztes sei, so bleibt doch auch kein Raum mehr für jene wahrhafte Aristokratie, die „working aristocracy“, um mit Carlyle zu reden, – welche für eine gedeihliche Entwicklung von Staat und Gesellschaft von so wesentlicher Bedeutung ist. Und greift nicht die Consequenz der Lehre noch weiter? „Das Capital als Frucht der Arbeit definiren heisst das Capital, d. h. hier das mobile Capital, hinstellen als die höchste Frucht der Arbeit, als natürliche Spitze und wohlthätige Beherrscherin der Arbeit“[44]. Es gibt nur noch zwei Factoren wirthschaftlicher Classenbildung: Capital und Arbeit; ersteres repräsentirt durch die besitzende Bourgoisie, die von der Doctrin [23] zugleich als die natürliche Führerin des Volkes zu Freiheit, Reichthum und Bildung gefeiert wird, – letztere, die Arbeit, vertreten durch die lohnarbeitenden Classen, welche das eigentliche Volk bilden.

Daher werden denn auch die socialen Verhältnisse des platten Landes durchweg von diesem capitalistischen Gesichtspunkt aus beurtheilt. Die Schule Ricardo’s geht geradezu von der Voraussetzung aus, dass alle landwirthschaftlich benutzten Grundstücke von technisch gebildeten Capitalisten bewirthschaftet und von blossen Lohnarbeitern bestellt werden[45]; eine Voraussetzung, der ja allerdings die thatsächlichen Zustände Englands in hohem Grade entsprechen. Man sieht, hier ist auch nicht mehr die Rede von einem eigentlichen Bauernstand, wie wir ihn als den festesten Unterbau von Staat und Gesellschaft, als Grundpfeiler ihres gesicherten Bestandes nimmermehr entbehren möchten. Solche socialpolitische Erwägungen kennt die abstracte individualistische Theorie nicht. Für sie ist dasjenige agrarische System das beste, welches den Capitalisten einen möglichst hohen Unternehmergewinn sichert; und das ist eben der Betrieb der Landwirthschaft im Grossen, der für Credit- und Handelsoperationen, für rationelle Arbeitstheilung und Maschinenverwendung, kurz für intensivste Capitalnutzung den weitesten Spielraum gewährt. Dass mit der Entwicklung der grossen Güterwirthschaft der Untergang des Bauernstandes Hand in Hand ging, erscheint für diese Auffassung bedeutungslos, ja sogar als ein Fortschritt. Ein Geschichtschreiber der Manchesterschule, Buckle, geht über diese Thatsache mit der lakonischen Bemerkung hinweg, dass „die Gesellschaft beseitigt, was sie nicht länger braucht“. Selbst ein so humaner Staatsmann, wie Lord Dufferin, nennt es einen „krankhaften Hunger nach einem Bissen Land“, wenn jeder Feldarbeiter wünscht, ein Pächter, jeder Pächter, ein Grundeigenthümer zu werden[46].

Bei Grote zeigt sich der Einfluss der geschilderten Schulmeinungen zunächst in der heftigen Antipathie gegen das aristokratische Element in der agrarischen Gesellschaft; ein Widerwille, [24] der ihm besonders bei seinem Meister James Mill bis zu fanatischer Verachtung und Feindschaft gesteigert entgegentrat, und den auch er während der ganzen Periode seines reiferen Mannesalters – der Abfassungszeit der Griechischen Geschichte – in einem Masse getheilt hat[47], wie es mit einer wahrhaft geschichtlichen Auffassung nicht vereinbar war. So ist ja z. B. die Darstellung der Misswirthschaft der Althellenischen Grundaristokratie an sich vollkommen berechtigt. Aber es wird dabei nicht berücksichtigt, dass jede Classenherrschaft zu ähnlichen Ergebnissen führen muss: das unentbehrliche Gegenstück, eine Schilderung der Sünden des Capitalismus und der capitalistischen Speculation sucht man vergeblich.

Allerdings ist Grote, wie Ricardo und so viele englische Capitalisten, selbst Grundbesitzer geworden und hat sich als solcher sogar mit der Theorie des Anbaus beschäftigt. Aber man sieht nirgends, dass ihn der „bukolische Reiz“, den ihm die Arbeiten der Landwirthschaft einflössten[48], zu tieferen Studien über die socialen Verhältnisse des platten Landes geführt hätten. Auch lassen einzelne seiner Aeusserungen, z. B. über die Klagesucht der Landleute, nicht darauf schliessen, dass er sich von der optimistischen Anschauung der herrschenden Wirthschaftslehre über die Agrarverhältnisse zu befreien vermocht hat und zu einer unbefangenen geschichtlichen Würdigung der Lage der niederen Landbevölkerung Englands gelangt ist. Wenn Grote in einem Schreiben an den Historiker Lewis (1852) zur Charakteristik seiner ländlichen Umgebung sagt, die Landleute schienen ihm nicht gerade die Benennung äusserst glücklicher Menschen (excessively fortunate men) zu verdienen, die Virgil ihnen seiner Zeit beilegte, aber hinsichtlich der Klagesucht (querulousness), über welche sich dieser beschwert, hätten sie sich sehr wenig verändert[49]; und wenn er dann seine Betrachtung mit dem Satze schliesst: das, was sich am meisten seit der Zeit Virgil’s [25] verändert habe, sei die Erde, welche sicherlich jetzt weder mit höchster Gerechtigkeit lohne, noch leichte Nahrung abwerfe, – so ist das ganz die äusserliche Art, wie sich die individualistische Anschauungsweise auf dem socialen Gebiete mit den Dingen abzufinden pflegt, ohne den eigentlichen Kern der Frage zu berühren. Grote hätte unmöglich so schreiben können, wäre er sich voll und klar bewusst gewesen, was es für Volk und Staat zu bedeuten hat, wenn die Masse der freien Bauern dem nationalen Boden entfremdet und zu land- und rechtlosen Kleinpächtern (tenants at will) herabgedrückt ist, „ein steter Vorwurf für den Namen der Briten“ (Leslie).

Es ist bekannt, dass noch in den vierziger Jahren – bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Griechischen Geschichte – eine Reaction gegen die Vorurtheile der Ricardoschen Schule eintrat und eine tiefere, socialpolitische Auffassung der Agrarfragen sich Bahn zu brechen begann, welche den Werth der Landbausysteme nicht mehr in erster Linie nach dem Ertrag des im landwirthschaftlichen Betrieb angelegten Capitals, sondern nach dem moralischen und physischen Wohlsein der ackerbauenden Classe selbst beinass und die hohe Bedeutung eines unabhängigen bäuerlichen Grundbesitzes wieder zu würdigen vermochte. Trotzdem lässt die History of Greece nirgends erkennen, dass dieser Umschwung, der allerdings – abgesehen von John Stuart Mill – die Kreise Grote’s sehr wenig berührte, auf das Geschichtswerk desselben noch einen nennenswerthen Einfluss geübt hat.

Ich erinnere z. B. an die Art und Weise, wie von Grote die bedeutsame Umwandlung erklärt wird, die sich in der Zeit von Perikles bis Demosthenes im Charakter der Athenischen Bürgerschaft vollzogen hat. Er sucht die Ursachen des Sinkens der Thatkraft, der politischen und militärischen Leistungsfähigkeit des Athenischen Bürgerthums einzig und allein in den entmuthigenden Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges[50], in der übermässigen Hingabe des Volksgeistes an die Tendenzen des Friedens und friedlicher Erwerbsthätigkeit, an den Genuss eines gesteigerten Luxus des häuslichen Lebens. Und als ob er selbst fühlte, dass diese Erklärung zum vollen Verständniss der Erscheinung nicht ausreicht, eröffnet Grote der Phantasie des Lesers [26] noch eine weitere, ziemlich unbestimmte Perspective, indem er bemerkt, Athen sei eben gewissermassen alt geworden. „The Demostenic Athenian of 360 B. C. had as it were grown old[51]“. Dass der veränderte Geist des Demosthenischen Athens wesentlich auch mit Veränderungen zusammenhängt, welche die ganze Structur der bürgerlichen Gesellschaft erlitten hatte, davon erhält man keine Ahnung.

Der Schüler Ricardo’s konnte eben unmöglich einen Blick dafür haben, was es für Athen zu bedeuten hatte, dass jenes ehrenfeste und wehrhafte Bürgerthum früherer Zeit, jenes starke Bauernthum, wie es uns in den Prachtgestalten des Dramas und der älteren Comödie entgegentritt, „hart wie Eichenholz, spröde wie Ahorn“, in Folge zerstörender Krisen der Landwirthschaft, in Folge der Invasion des städtischen Capitals in den Grundbesitz und der Ausbeutung durch die Geldspeculation zum grossen Theil seinen Untergang gefunden, dass die Geldherrschaft, – um ein treffendes Wort Plato’s zu gebrauchen – den Staat mit Drohnen und Bettlern erfüllte. Vom Standpunkt der Bourgeois-Nationalökonomie konnte das Athen des 4. Jahrhunderts mit seinem glänzenden gewerblichen Aufschwung und seinem steigenden Reichthum in wirthschaftlicher Hinsicht nur günstige Vorstellungen erwecken. Dass gerade an diesem Athen das manchesterliche Ideal der schwachen Regierung und des wohlhabenden Volkes, der Atomisirung der Gesellschaft und der Anarchie des wirthschaftlichen Wettbewerbs seine verhängnissvollen Wirkungen gezeigt hat, das kommt der Groteschen Geschichtschreibung nicht zum Bewusstsein. –

Und doch handelt es sich bei alledem um Erscheinungen, in denen der eminente Bildungswerth der antiken Geschichte so recht deutlich zu Tage tritt. Nur wer die principiellen Mängel übersieht, welche die Geschichtsauffassung Grote’s nach dieser Seite hin zeigt, kann mit einem grossen akademischen Genossen Grote’s der Ansicht sein, dass die History of Greece „als politische Geschichte wahrscheinlich für immer einzig und unerreicht bleiben werde“[52]. Wir verkennen die Vorzüge des grossen Werkes nicht, aber sie sollen uns nicht länger über die Thatsache hinwegtäuschen, [27] dass die Gegenwart mit ihrer vertieften und erweiterten Erkenntniss der concreten Grundbedingungen und der Zwecke staatlichen Lebens ein anderes und höheres Ideal politischer Geschichtschreibung geschaffen hat, als es für das Zeitalter Grote’s erreichbar war. Warum sollte ein neues Geschlecht aus seinem starken Staatsgefühl, aus seiner höheren Auffassung von Wesen und Beruf des Staates, aus der vervollkommneten Einsicht in den verschlungenen Lebensprocess socialer Organismen nicht den Anreiz und die Kraft schöpfen können, mit einer Geschichtschreibung um den Lorbeer zu ringen, die bei aller Genialität doch nicht zu verleugnen vermag, dass ihre Staats- und Gesellschaftsansicht zum guten Theil nicht aus der vollen lebendigen Wirklichkeit gewonnen ist und daher auch für das Verständniss der lebendigen Wirklichkeit nicht ausreicht?

Wenn Grote’s Werk in so raschem Fluge die Gunst der Zeitgenossen errang und „ein Textbuch und eine Autorität an den höchsten Sitzen der Nationalerziehung Englands“[53] geworden ist, so lag dies eben wesentlich daran, dass es den herrschenden Geist seines Zeitalters in vollendeter Weise zum Ausdruck brachte. Ebendarum aber kann es der Gegenwart nicht mehr genügen, weil uns der Fortschritt der socialen und geistigen Bewegung über den Ideenkreis dieser Zeit weit hinausgeführt hat, und weil wir – im Interesse einer allseitigen Erkenntniss der Antike und im Interesse unserer nationalen Erziehung – in einer Griechischen Geschichte gerade diejenigen Lebensfragen der Menschheit voll und ganz berücksichtigt wissen wollen, welchen die Grote’sehe Geschichtschreibung nicht gerecht zu werden vermochte.



Anmerkungen

  1. Gothein a. a. O. S. 9.
  2. Vgl. Schäfer a. a. O. S. 25, wo es gewissermassen beklagt wird, dass „die Neigung unserer Zeit zu materieller und mechanischer Geschichtserklärung besonders auf dem Gebiete des Alterthums manches von dem früheren Nimbus zerstört hat“. Wenn der Nimbus zum Theil ein falscher war, so war die Zerstörung der falschen Vorstellungen doch gewiss nicht das Werk einer einseitigen Geschichtsbetrachtung!
  3. Nur um diese bisher kaum beachhtete Seite der Grote’schen Geschichtsschreibung handelt es sich hier für uns, nicht um eine Gesammtwürdigung derselben.
  4. Vgl. Westminster Review 1826 S. 304: „exhibit a full view of the phenomena of society“ und S. 331: „unfold the mechanism of society.“
  5. Band I der Ausgabe von 1883. Preface p. V.
  6. Westminster Review a. a. O. S. 291.
  7. Grote findet hier offenbar das Ideal verwirklicht, das er in der Abhandlung über die Parlamentsreform 1831 aufstellt, nämlich „the necessity of a total number of voters, so great as not to be capable of having a separate interest from the country, and of taking their votes, not in classes, but as individuals. Als ob das allgemeine Stimmrecht die Abstimmung nach Classengruppen und Classeninteressen verhindern könne! Vgl. George Grote, Minor Works ed. Bain p. 37. Cf. ib. p. 22: To me it appears, that the poorer classes in general have an understanding sufficiently just docile and unprejudiced to elect and to submit to the same legislators, whom the middling classes themselves, if they voted apart and voted secretly, would single out.
  8. W. R. a. a. O. S. 302. Grote hat sich zu diesen Ausführungen allerdings halb wider Willen durch den Widerspruch gegen Mitford’s Auffassung von dem proletarischen Charakter der Dikasterien hinreissen lassen, und er hat sie, obwohl sie bis zu einem gewissen Grade nur zu berechtigt sind, in seinem Geschichtswerk nicht wiederholt.
  9. Hist. of Gr. Bd. V p. 526. And as the verdicts of the dikasts, even when wrong, depended upon causes of misjudgement common to them with the general body of the citizens, so they never appeared to pronounce unjustly, nor lost the confidence of their fellow-citizens generally.
  10. Vgl. die bezeichnende Bemerkung in Plutarch’s Timoleon c. 22 über die Syrakusaner: φρίκη καὶ μῖσος εἶχε πάντας ἀγορᾶς καὶ πολιτείας καὶ βήματος κτλ.
  11. Xenophon. Memorab. III, 7.
  12. Areopag. § 83.
  13. Archidamos c. 28.
  14. Bezeichnend für diese einseitige Auffassungsweise ist die Behauptung: Among the various causes of sedition or mischief in the Grecian communities, we hear little of the pressure of private debt. H. of Gr. Bd. III p. 117.
  15. W. R. a. a. O. S. 291.
  16. Isokrates Περὶ εἰρήνης § 129 ff.; wo es am Schlusse der gerade für unsere Zeit höchst lehrreichen Ausführung von diesen Demagogen heisst: οὐ γὰρ τοῦτο σκοποῦσιν, ἐξ οὗ τρόπου τοῖς δεομένοις βίον ἐκποριοῦσιν, ἀλλ’ ὅπως τοὺς ἔχειν τι δοκοῦντας τοῖς ἀπόροις ἐξισώσουσιν. Vgl. Demosthenes (?) Philippica IV § 44 u. 45.
  17. Vgl. die bezeichnende Ausführung in der W. R. a. a. O.
  18. H. of Gr. Bd. VI, 58 f.
  19. Ebenda Bd. IX, 418 f.
  20. We know the facts too imperfectly to be able to infer anything more, than the brutal working of angry political passion amidst a population like that of Argos or Korkyra, where there was not (as at Athens) either a tast for speech or the habit of being guided by speech and of hearing both sides of every question fully discussed. Cicero remarks that he had never heard of any Argeian orator.
  21. Grote a. a. O. S. 59.
  22. Freeman z. B. in seinen soeben in 3. Aufl. erschienenen „Historical essays“ ignorirt die Thatsache vollständig, obwohl sie bei einer Erörterung der geschichtlichen Auffassung Grote’s, wie sie Freeman in dem Aufsatz über die Athenische Demokratie II S. 122 ff. gibt, nothwendig berücksichtigt werden musste. Freilich steht Freeman selbst noch immer so sehr unter dem Einfluss einer doctrinären Beurtheilung der Athenischen Demokratie, dass er sogar an seiner alten Behauptung festhält, wonach die Athenischen Bürger durchschnittlich eine höhere politische Intelligenz besessen hätten, als die Mitglieder des englischen Parlaments. (S. 162.)
  23. The personal life of G. Grote p. 313.
  24. Ib. p. 314, wo es ferner heisst: that republican institutions formed no more effectual safeguard against the abuse of power than monarchy, though he should prefer the former.
  25. Ib. p. 313.
  26. Ib. p. 314.
  27. Vgl. die für Grote’s Auffassung höchst lehrreiche Parallele zwischen Dion und Timoleon H. of Gr. Bd. X p. 477.
  28. Life of Grote p. 33.
  29. Vgl. ebenda bes. die Tagebuchangaben p. 29 ff.
  30. Ebenda p. 21.
  31. Bezeichnend für diese Uebereinstimmung sind die Fragen, welche nach dem Tagebuch von 1818 und 1819 den Mittelpunkt der nationalökonomischen Studien des jungen Grote bildeten: Theorie der Preise, Consumtion und Production, Verhältniss zwischen Capital und Arbeit, Theilung der Arbeit, Handelsindustrie, Wirkungen der Maschinentechnik, Anhäufung des Kapitals, Waarencirculation, Mercantilsystem, Münzpolitik, auswärtiger Handel, Wechsel- und Banknotentheorie u. s. w. Life of Gr. p. 29 ff.
  32. Presently he found himself enthralled in the circle of Mill’s speculations, and after a year or two of intimate commerce there existed but little difference in point of opinion between master and pupil. – Although his own nature was of a gentle, charitable, humane quality, his fine intellect was worked upon by the inexorable teacher with so much persuasive power that George Grote found himself inoculated, as it were, with the conclusions of the former almost without a choice: since the subtle reasonings of Mr. Mill appeared to his logical mind to admit of no refutation. Ebenda p. 22 f.
  33. Vgl. ebenda S. 30 u. 31 die Tagebuchnotizen, in denen nebenbei bemerkt auch die Lohntheorie Ricardo’s zustimmend erwähnt wird.
  34. Ebenda p. 73 – much may be done by… favouring instead of disturbing the natural distribution of capital.
  35. Minor works p. 11.
  36. Life of Gr. p. 287. W. Humboldt’s book is written in a very excellent spirit, and deserves every mark of esteem for the frankness with wich it puts forward free individual development as an end etc.
  37. L. v. Stein, Die Entwicklung der Staatswissenschaft bei den Griechen. Sitzungsber. der Wiener Akad. 1879 S. 248.
  38. Vgl. die Ausführung über die Stellung der Hellenen zur Monarchie, Hist. of Gr. Bd. III p. 7 ff., bes. p. 12.
  39. Z. B. gelegentlich der Solonischen Gesetzgebung III, p. 104 ff. und der Vertreibung der Dreissig VIII, p. 105 f.
  40. Life of Gr. p. 12.
  41. Held, Sociale Geschichte Englands S. 176 f. Bernhardi, Versuch einer Kritik der Gründe, die für grosses und kleines Grundeigenthum angeführt werden S. 262 ff.
  42. Life of Gr. p. 51.
  43. Vgl. Held a. a. O. S. 283.
  44. Held a. a. O.
  45. Vgl. Roscher, Der neuere Umschwung in den Englischen Ansichten vom Werth des Bauernstandes. Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkt. I² S. 243.
  46. Vgl. Roscher a. a. O. S. 25.
  47. Life of Gr. p. 22 f. Wie sehr Grote in diesem Punkte von James Mill abhängig war, zeigt die interessante Angabe (ebenda p. 23), dass Grote und andere zum Kreise Mill’s gehörige junge Männer (1819) einen förmlichen Bund schlossen, „bereit, wenn der Tag käme, für den wahren Glauben und nach Mill’s Programm und Lehren den Kampf aufzunehmen“.
  48. Ebenda p. 219.
  49. Ebenda p. 259.
  50. H. of Gr. Bd. V p. 414.
  51. Ebenda Bd. XI p. 82.
  52. Döllinger, Akademische Vorträge II S. 176. Nekrolog der Münchener Akademie.
  53. Nach einer Bemerkung der Quarterly Review v. 1849. Vgl. Lehrs’ Aufsätze aus dem Alterthum S. 448 (2. Aufl.).

Anmerkungen (Wikisource)

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