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Wunderliche Heilige (3)

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Titel: Wunderliche Heilige. 3. In den Betstunden der Mormonen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 25–27
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Gottesdienste der Mormonen in Dayton und Cincinnati
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Wunderliche Heilige.

3.0 In den Betstunden der Mormonen.

Dayton im Staat Ohio ist eine hübsche Mittelstadt, die in der Zeit, wo ich mich dort aufhielt, etwa zwanzigtausend Einwohner und die im Vergleich hiermit auffallend große Zahl von dreiundzwanzig Kirchen und Bethäusern hatte. Die Menge dieser letzteren schrieb sich von der Menge der Religionsgesellschaften her, in welche die Bevölkerung zerfiel und deren hier nicht weniger als anderthalb Dutzend ihr Wesen trieben. Es gab da Angehörige der bischöflichen Kirche, zwei Sorten Baptisten und drei Gattungen Methodisten, ferner Presbyterianer, Lutheraner, Swedenborgianer, Albrechtianer, dann Katholiken und Reformirte, Quäker und Shakers, Campbelliten, Universalisten und Congregationalisten, endlich auch eine kleine Gemeinde von Mormonen oder, wie sie sich selbst nennen, Latterday-Saints, d. h. „Heiligen des Jüngsten Tages“, und von diesen soll jetzt die Rede sein.

Von den Mormonen wußte ich damals nur, was der Leser vermuthlich auch wissen wird. Sie waren von Joseph Smith, einem Yankee, gestiftet, der von Gott Auftrag zur Vorbereitung der sündigen Menschheit auf den nahe bevorstehenden Anbruch des tausendjährigen Reichs erhalten und auf dem Berge Cumorah im Staate Newyork ein heiliges Buch gefunden haben wollte, welches die Vergangenheit der Indianer, deren Herkunft von den verlornen zehn Stämmen Israel’s und die unter ihnen erfolgten himmlischen Offenbarungen enthielt. Sie erwarteten eine baldige Wiederkunft Christi und die Errichtung eines glorreichen Priesterkönigthums auf Erden, dessen Mittelpunkte Jerusalem und das Thal des Großen Salzsees in den Felsengebirgen werden sollten, wohin die Hauptmasse der Secte nach mancherlei Verfolgungen und nach Ermordung ihres Propheten durch den Pöbel von Illinois ausgewandert war, und wohin einer ihrer Glaubensartikel allen Gliedern ihrer Gemeinschaft ebenfalls auszuziehen gebot. Sie erlaubten endlich die Vielweiberei nicht nur, sondern betrachteten sie als Gott besonders wohlgefällig und als Mittel, die jenseitige Seligkeit zu erhöhen. Was ich später Genaueres über diese seltsamste aller religiösen Genossenschaften der neuen Welt in Erfahrung brachte, ihre Geschichte, die Natur ihrer „Goldnen Bibel“ und ihre überaus wundersame Glaubenslehre, werden wir in anderen Artikeln behandeln. Für heute nur meine erste Bekanntschaft mit ihnen in Dayton und Cincinnati.

Ich hatte damals in Dayton einen Vetter, der in dem Powel’schen Schuh- und Stiefelgeschäft Commis und als solcher mit dem Prediger der dortigen Mormonen in Berührung gekommen war; denn besagter Prediger gehörte der ehrenwerthen Profession an, die durch häufig in ihrer Mitte beobachtete Neigung zu hohen Dingen dem Sprüchworte: ‚Schuster, bleib’ bei deinem Leisten‘, das Leben gegeben hat. Winthrop Graves – so hieß der Gute – machte als flinker und allenthalben sich zurechtfindender Yankee nicht nur die besten Stiefeln in Dayton, sondern verstand sich auch recht gut auf’s Versohlen von Seelen für die Reise in das Himmelreich. Ich bat meinen Vetter, mich bei ihm einzuführen, und dies geschah an einem schönen Herbstabend.

Unser Prediger und Schuhmacher wohnte in einem netten kleinen Hause auf der St. Clairstreet. Wir trafen ihn in Gesellschaft zweier Frauen im Hinterzimmer des Erdgeschosses vor dem Kamin, stellten uns ihm als Leute vor, die sich über Geschichte und Glauben seiner Kirche belehren wollten, und wurden freundlich aufgenommen. Anfangs zwar schien man uns nicht recht zu trauen; denn es gab in Dayton Viele, die im Rathe der Gottlosen wandelten und da saßen, wo die Spötter sitzen. Aber mit der Zeit überzeugte sich unser Mann, daß wirklich nur Wißbegierde mich zu ihm geführt, und seine ausweichende und einsilbige Art, meine Fragen zu beantworten, wurde zur Mittheilsamkeit. Ich erfuhr, daß er der Secte seit zehn Jahren angehörte und daß er den Propheten persönlich gekannt hatte. Er glaubte offenbar fest an dessen Lehre, obwohl er sonst den Eindruck eines nicht ungebildeten Mannes machte, und bedauerte nur, durch ein Gebrechen – er hatte einen lahmen Fuß – verhindert zu sein, dem „Rufe der Apostel zur Versammlung im Thale der Heiligen“, d. h. zur Auswanderung nach dem Utah-Territorium, Folge zu leisten. Als ich im Laufe des Gesprächs fragte, wie der Prophet ausgesehen habe, führte er uns in die sehr sauber gehaltene und mit hübschen Teppichen ausgestattete Putzstube und zeigte uns eine große bunte Lithographie unter Glas und Rahmen, welche „Bruder Joseph“ darstellte, wie er in Frack und weißer Weste indianischen Häuptlingen, die im Kreise um ihn saßen, sein Evangelium predigte. Da es mir zunächst nur darum zu thun war, mit dem Führer der hiesigen Mormonen bekannt zu werden, so brachen wir bald wieder auf, nachdem ich um die Erlaubniß gebeten, wiederzukommen.

Am nächsten Tage besuchte ich ihn wieder und erhielt von ihm einen Tractat, der von Parley Peter Pratt, einem ihrer zwölf Apostel, verfaßt war und den Titel „Eine Stimme der Warnung und Belehrung für alles Volk oder eine Einführung in den Glauben und die Lehre der Kirche der Heiligen vom Jüngsten Tage“ trug, sowie mehrere Blätter des „Grenzwächters“, eines zu Kanesville im westlichen Missouri erscheinenden Mormonenjournals. Hatte ich am vorhergehenden Abend die beiden Frauen für seine Gemahlinnen gehalten, so wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Er wußte nicht einmal, daß die Mormonen am Salzsee in Vielweiberei lebten. Die eine der Frauen war seine Nichte und die [26] Gattin eines Baptistenpredigers. Seine eigene Frau aber theilte nicht einmal seinen Glauben, sie ging in die Kirche der Universalisten. Graves war diesmal sehr liebenswürdig, er schien anzunehmen, daß ich seiner Secte beizutreten geneigt sei. Ich sollte nur prüfen, sagte er, was die Stimme der Warnung der Welt zurufe, und ich würde finden, daß sie Wahrheit und nichts als Wahrheit rede. Zuletzt versprach er, auf nächsten Sonntag eine Betstunde zu halten und mich dort bei den anderen Brüdern und Schwestern einzuführen.

Der Sonntag kam. Ich holte Graves ab, und wir begaben uns über einen der Hügel, welche Dayton einschließen, nach dem eine starke halbe Stunde von der Stadt entfernten Hause des Mormonen Faraway. Derselbe war Pächter einer Farm an der Straße nach Cincinnati und wohnte am Rande des Waldes in einem großen alten schwarzverräucherten Ziegelgebäude, welches ein moosbewachsener Riegelzaum umgab. Das Wetter war naßkalt und trüb. Der Wind hatte die Blätter schon großentheils von den Bäumen gestreift, und was noch in den Wipfeln saß, war dürr und fahl. Das Haus sah vernachlässigt und verfallen aus. Es lag einsam, grämlich, fast unheimlich in der sonntäglich stillen Gegend. Kein Mensch war auf der weithin zu überblickenden Straße zu sehen.

Kein Hund empfing uns. Kein Federvieh wandelte über den Hof. Auch das Innere des Hauses machte durch die Leere und Kälte der großen Stube, in die wir zuerst geführt wurden, einen unbehaglichen Eindruck, und das Wesen seiner Bewohner war zuerst nicht geeignet, denselben zu mindern. Die letzteren bestanden aus Mann, Frau und Tochter. Der Farmer war eine jener hagern, abgearbeiteten Gestalten, wie sie Einem in den Wäldern des Westens oft begegnen, seine Haltung gebückt, sein Gesicht lederfarben und voll Falten wie eine Tabacksblase. Auf die Frage des Schuhmachers nach seinem Befinden zuckte er mit den Achseln. Die Frau schien am Fieber zu leiden. Die Tochter, ein Mädchen, wie es schien, in den Dreißigen, blickte mit ihren bleichen, sommersprossigen Wangen und ihren graugrünen Augen so theilnahmlos und so säuerlich in die Welt, als ob es ihr darin niemals wohl zu Muthe gewesen wäre. Die einzige freundliche Erscheinung in dieser trübseligen Umgebung war eine junge Frau, die mir als eine verwittwete Mrs. Long vorgestellt wurde, und die mit ihren feinen Manieren und ihrer wohlklingenden Stimme einen eigenthümlichen Gegensatz zu dem Geschilderten bildete.

Wir hielten den Gottesdienst in der Küche, die, wie beim gemeinen Mann in Amerika gewöhnlich, zugleich Wohnstube war und in deren Kamin ein Feuer von großen Scheiten brannte. Graves schlug erst die Bibel, dann das Buch Mormon auf, legte beide auf ein Tischchen vor sich, sprach ein Gebet und hielt hierauf aus dem Stegreif eine Rede, in welcher er, jedenfalls mehr im Hinblick auf mich als auf die Andern, die Grundzüge des Glaubens und der Hoffnungen der Latterday-Saints auseinandersetzte. Es war hausleinene Beredsamkeit, aber gut gemeint, im Ganzen wohlgefügt und gegen das Ende hin, wo der Redner von den Leiden der „Kinder Gottes“ auf den Lohn zu sprechen kam, der ihrer wartete, von einem Schwunge, der Alle verklärte und selbst auf das Weltkind unter ihnen nicht ganz ohne Eindruck blieb.

Die verdrießlichen Mienen der vorhin beschriebenen drei Hausgenossen hellten sich auf. Der Mann schien seine Sorgen, die Frau ihr Fieber vergessen zu haben. Die grünen Augen des alten Mädchens strahlten von dem Sonnenschein, den die Worte des Predigers über ihr Herz ausgebreitet hatten. Selbst das Feuer im Kamin nahm Theil an der allgemeinen Aufregung. Es flackerte fröhlicher auf und knisterte und prasselte in die Rede hinein, als ob es ihre Hoffnungen bestätigen oder mit Ausrufen des Beifalls begleiten wollte. Der Redner schloß mit dem Bedauern, daß ihm der rechte Geist heute abgehe, weil er in der letzten Zeit nicht genug gebetet hätte. Aber er hatte genug geleistet. Die Sonne, die er über die düsteren Gemüther hatte aufgehen lassen, wurde zur Gluth, als er jetzt – beiläufig nach der Melodie „Du, Du liegst mir am Herzen“ – ein Lied anstimmte, welches den Propheten vom Himmel herab die Gläubigen über ihre Verfolgungen trösten ließ.

„Still, still, Zion, nicht weinet!
Singt laut! Jeder sich freu’.
Bald ja von droben erscheinet
In Wolken uns Juda’s Leu.
     Ja, ja, in Wolken uns Juda’s Leu!“

So sangen die Mormonen. Der Löwe Juda’s sollte, so hieß es weiter, mit der Ruthe seiner Macht die Feinde Zions niederschlagen. Während sein Antlitz finster blickend zürnte, sollten sie in Verderben und Pein sinken. Hebt jeder Busen jetzt, so schloß das Lied, sich von Kummer und glühender Pein, bald wird der gesegnete Morgen anbrechen, wo ihr Joseph wiedersehen sollt. Dann, wie selig dies Begegnen, Wonne wird jedes Herz füllen, wenn ihr Joseph und Hiram[1] auf Zions dreimal heiligem Berge begrüßen werdet.

Und immer höher steigerte sich die Inbrunst. Die Wangen der Frauen glühten, die Haltung und die Blicke der Männer wurden stolz und immer stolzer, je mehr sie durch die weiteren Verse an die Triumphe erinnert wurden, welche ihre Kirche erlebt hatte und fernerhin feiern sollte. Die junge Wittwe fiel auf die Kniee und sprach ein Gebet, welches von dem Farmer mit Ausrufungen wie „Glory“ (Heil) und „Oh Lord“ (o Herr) begleitet wurde. Die Tochter lehnte sich an die Wand zurück und verdrehte die Augen, indem sie unarticulirte Laute ausstieß. Sie schien „in Zungen reden“ zu wollen. Aber die Wittwe schnitt ihr die Gelegenheit dazu ab, indem sie sich, bebend vor schwärmerischem Feuer, erhob und, dem Leiter der Versammlung vorgreifend, in ein Triumphlied ausbrach, in welches die Uebrigen nach Kräften einstimmten. Sie sangen ein Lied von fünf langen Strophen, deren letzte lautete.

„Gesegnet der Tag, wo der Leu sich gewöhnet,
Harmlos sich zu lagern dem Lamme vereint,
Und Ephraim in Zion mit Segen gekrönet,
Und Jesus im feurigen Wagen erscheint.
     Auf, singt, und auf, jauchzt mit den himmlischen Heeren,
     Hosianna, dem Herrn in der Höhe sei Preis!
     Laßt ihn und das Lamm uns nun rühmen und ehren
     Fortan und in Ewigkeit. Amen, so sei’s!“

Auf das Lied folgte eine kurze Rede des Farmers. Dann sollte die Wittwe sprechen, lehnte es aber nach einigem Besinnen ab. Zuletzt forderte Graves auch mich zu einem Vortrag auf; denn in ihren Versammlungen sei Jedem das Wort gestattet. Ich glaube, er erwartete, ich werde meinen Beitritt zur Kirche erklären. Indeß gab er sich zufrieden, als ich ihm mit kurzen Worten dankte, daß er mir Gelegenheit gegeben, ihrem Gottesdienste beizuwohnen, und bedauerte, für eine längere Rede des Englischen nicht mächtig genug zu sein.

Den Schluß bildete der Segen, von dem Schuhmacher gesprochen. Dann gingen wir zu Tische, und ich entsinne mich nicht, während meines Aufenthaltes in Amerika fröhlichere Gesichter und ein liebreicheres Benehmen gesehen zu haben, als bei diesem einfachen Mahle. So adelt das, was in den Religionen die Religion ist, selbst den sinnlosesten Wahn, und so geht neben der Truglist der Führer immer das gute Herz und die redliche Einfalt der Massen her.

Einige Tage später verließ ich Dayton, um mich nach Cincinnati zu begeben. Winthrop Graves begleitete mich an die Eisenbahn und gab mir eine Empfehlung an den Vorsteher der Mormonengemeinde in Cincinnati mit, die mich an einen Dr. Merryweather auf der Vinestreet wies, welcher in der mormonischen Hierarchie das Amt eines Highpriest, d. h. eines Priesters höherer Ordnung bekleidete. Früher Advocat gewesen, beschäftigte er sich jetzt mit Leihen auf Pfänder und hielt nebenbei einen Laden, in dem er Alles heilende Pillen, Wundersalben und andere „Patentmedicin“ verkaufte. Er sowohl als seine Frau empfing mich sehr freundlich und mittheilsam. Bereitwillig holte man die Religionsschriften der Secte, die man hatte, herbei, um sie mir zu leihen, und gern versprach der Doctor, mich nächsten Sonntag mit in ihren Gottesdienst zu nehmen. Ja, die Frau fand an dem wißbegierigen Dutchman so viel Gefallen, daß sie ihm schon beim ersten Besuche ein hübsch in Leder gebundenes Exemplar des „Book of Mormon“ nebst einem Portrait des Propheten verehrte. Wahrscheinlich, daß auch sie meine Vorurtheilslosigkeit sich als Hinneigung auslegten und hinter dem Wunsche, die Sache kennen zu lernen, die Absicht zu spüren meinten, sich ihr anzuschließen.

Am folgenden Sonntag holte mich der Doctor zu einem Conventikel ab, welches unten am Canal in der Stube eines Zimmermanns abgehalten werden sollte, der auf dem Durchzuge von Pennsylvanien nach Utah, oder, wie die Mormonen sagen, [27] nach Deseret, für den Winter hier Halt gemacht hatte. Die meisten der übrigen Theilnehmer an der Versammlung – es waren neun Männer und zwei Frauen – schienen in dem gleichen Falle zu sein. Mehrere derselben waren Schotten, andere verriethen durch ihre Aussprache des Englischen, daß sie in Yorkshire reden gelernt. Unter den ersteren befand sich mein Stuhlnachbar, ein recht gesprächiger und zutraulicher junger Mann aus Glasgow, der damals eine sehr einträgliche Stelle in einem Bankgeschäfte Cincinnatis einnahm, zum nächsten Frühjahr aber demungeachtet der Aufforderung der Apostel zur „Gathering“ nachzukommen, d. h. nach der heiligen Stadt in den Felsengebirgen aufzubrechen gedachte. Die Uebrigen waren Handwerker und Farmer. Unter den anwesenden Amerikanern war einer, der das Unglück gehabt, bei dem einen von den vielen Angriffen der „Heiden“ auf die „Heiligen“, der im Stil der mormonischen Kirchengeschichte die Missouri-Verfolgung heißt, in hinterwäldlerischer Manier gemaßregelt zu werden. Man hatte ihn entkleidet, mit Theer bestrichen und dann durch Wälzen in Bettfedern in einen Vogel verwandelt, und davon schien ihm etwas für immer geblieben zu sein.

Es war ein kleines, spindeldürres Männlein, dessen spitze Nase wie ein Schnabel aus dem Reste einer hohen Halsbinde mit ungeheuren Vatermördern heraus sah. Der Leib steckte in einem Frack mit Schwalbenschwanz-Schößen. Den Kopf bedeckte ein fuchsiger, verbogener Hut, in Betreff dessen die Vermuthung erlaubt war, er habe die Verfolgung miterlebt und sei seinem Träger dabei angetrieben worden. Flink und ruhelos, wie ein Vogel, der im Bauer von Stange zu Stange hüpft, war der kleine Mann bald bei dem Einen, bald bei dem Andern, und beim Heimgehen erzählte er uns sein damaliges Mißgeschick in so pudelnärrischer Weise, daß ich in der Folge durch die Erinnerung an ihn ungemein heiter gestimmt wurde, namentlich wenn mir dabei einfiel, daß dieses schnurrige Ding mir von Merryweather mit vieler Salbung als „einer von unseren Märtyrern“ vorgestellt worden war.

Der Gottesdienst wurde vom Doctor mit einem Gebete eröffnet. Dann sang man ein Loblied auf Joseph Smith, hierauf wieder Gebet, wobei die Stelle, der große Jehova wolle denen, welche die Wahrheit suchen, die Augen öffnen, vermuthlich dem besuchenden Heiden galt, und hierauf nach lustiger Weise ein langes Reiselied, welches mit den folgenden Versen anhob:

„Kommt, geht mit mir, kommt, geht mit mir,
Ihr Heil’gen Gottes, weg von hier!
Die Zeit ist da, wir müssen fort
In fernes Land nach Gottes Wort.
Nicht länger laßt uns zögern. Noth
Und Weh und Graun die Welt bedroht.
Das Heidenvolk den Priester haßt,
Kein Heim für uns und keine Rast
In diesen Staaten. Auf denn, kommt,
Im Westen nur liegt, was uns frommt.“

Nach dem Liede gab’s einen etwa drei Viertelstunden langen Sermon im reinsten Cockney-Englisch, gehalten von einem rothhaarigen Jüngling, der geradenwegs aus den Werkstätten der großen Schneiderfirma Moses und Sohn in London kam. Den Haupt- und Glanzpunkt aber der ganzen Feier bildete eine Ansprache des Märtyrers von Missouri. Derselbe sprang nach seiner Vogelnatur fortwährend von der Stange ab und bald in’s Eine, bald in’s Andere. In dem einen Augenblicke knabberte er an einem mystischen Thema herum, im nächsten pickte er in die letzten Vorkommnisse der Alltagswelt hinein, wieder im nächsten saß er unter altindianischen Propheten, dann, nachdem er mit Vogelgeberde sich geduckt und aus einem Wasserglas auf dem Fensterbrete genippt, nahm er seinen Flug wieder hinauf in himmlische Regionen, und jetzt begab sich ein Wunder. Der Gute hatte sich in solche Aufregung hineingearbeitet, seine Inbrunst sich bis zu solchem Brande gesteigert, daß, wie erst die Sätze, so jetzt auch die einzelnen Worte seiner Rede aus Rand und Band gingen und sich mit allerlei unarticulirten Lauten mischten. Zuerst klang’s, als ob ein Träumender spräche, dann war’s completer Unsinn.

„Omi, ami, ami, la, la, la, si, si, si, Jehova, la, la, la, Adam ondi Aman, Lihei, Niphei, Moroni, la, la, la, si, si, si, sississi, la, la, la“ – so lallte, so zwitscherte er, mit verdrehten Augen nach der Wand zurückgebogen und mit weitgeöffnetem Munde. „Glory, lalala, Glory, lalala, Halleluja, Hosiannah, lalalalla“ etc., bis das Lalalalla endlich in dumpfes Gurgeln und Glucken überging. Zwei Minuten etwa mochte die seltsame Production gewährt haben, als ihr ein gewaltiger Hustenanfall ein prosaisches Ende machte. Erschöpft setzte er sich nieder.

Mit peinlichem Erstaunen hatte ich der Scene beigewohnt und jeden Augenblick erwartet, unser Märtyrer, der wie ein Vogel zwitscherte, werde, verrückt geworden, auch als Vogel zu hüpfen und zu fliegen versuchen. Die Mormonen aber, an solche Dinge gewöhnt, waren offenbar von dieser Leistung stark erbaut. Sie fanden Sinn darin. Adam ondi Aman hieß der Ort im Paradiese, wo Adam seine Kinder gesegnet hatte. Lihei, Niphei, Moroni waren Propheten, die in der Zeit, wo Gott sich den Indianern offenbarte, eine Rolle spielten, und die dem Verzückten jetzt vermuthlich erschienen waren. Glory (Heil, Ruhm, Herrlichkeit) hatte er gerufen, weil er wahrscheinlich den Himmel offen sah. Mit einem Worte: es war eine Probe des „Redens in Zungen“, dessen sich die Heiligen des Jüngsten Tages wie aller übrigen Gnadengaben der alten Apostelzeit rühmen, und aus dessen Vorkommen unter ihnen sie einen der Beweise für die Echtheit und Wahrhaftigkeit des von Joseph Smith verkündigten neuen Evangeliums herleiten.

Ob die Probe selbst echt war, lasse ich dahingestellt, möchte aber daran zweifeln, da der Märtyrer bald nachher beim Nachhausegehen eine nichts weniger als besonders heilige Stimmung entwickelte. Wie es aber mit der Echtheit und Wahrhaftigkeit der Lehre Smith’s steht, wollen wir in einem späteren Capitel sehen. Die Leser werden sich in ihm einen sehr wunderlichen Heiligen vorstellen. Ich denke aber, er soll ihre Erwartungen weit überbieten.



  1. So hieß der Bruder des Propheten, der mit ihm ermordet wurde.