Woher nahm Goethe den Stoff zu „Hermann und Dorothea“?
[48] Woher nahm Goethe den Stoff zu „Hermann und Dorothea“? Die mannigfachen Vereine und Gesellschaften Zürichs pflegen den Jahreswechsel durch die Herausgabe eines sogenannten Neujahrsblattes zu bezeichnen. Das Neujahrsblatt des züricherischen Waisenhauses bringt nun diesmal die Fortsetzung und den Schluß der letztes Jahr begonnenen Darstellung jener dem vorigen Jahrhundert angehörenden grausamen Verfolgung der protestantischen Salzburger und ihrer Ausweisung. Die gewaltsame Vertreibung der Protestanten, nachdem alle Schreckmittel, sie zum Abfall von ihrem Glauben zu bringen, nichts gefruchtet hatten, fand mitten im Winter 1731–1732 statt. Gegen dreißigtausend Seelen, der Kern der Bevölkerung, verließen Salzburg. Ueber dem einst so blühenden, vielbevölkerten Lande lag jetzt die Stille des Friedhofs, und die Worte des Fürstbischofs Firmian, des Verfolgers, waren jetzt erfüllt: „Ich will keine Ketzer in meinem Lande haben, und wenn Dornen und Disteln auf den Aeckern wachsen sollten.“ In anziehender Weise schildert der Verfasser die Reise der armen Emigranten in die fremde Welt, das Mitleiden, das sie in den evangelischen Ländern erweckten, die werkthätige Liebe, die ihnen daselbst entgegenkam, und wie das Geschick einer dieser vertriebenen Salzburgerinnen es war, was Goethe den Stoff zu seiner herrlichen Dichtung „Hermann und Dorothea“ gab. Die Geschichte dieser Jungfrau lautet also:
„Dieselbe zog mit ihren Landsleuten fort, ohne zu wissen, wie es ihr ergehen, oder wo sie Gott hinführen würde. Als sie nun durch das Oettingische reisten, kam eines reichen Bürgers Sohn aus dem Altmühlthal zu ihr und fragte sie, wie es ihr in hiesigem Lande gefalle? Sie gab zur Antwort: ,Herr, ganz wohl.‘ Er fuhr fort, ob sie denn bei seinem Vater dienen wolle. Sie antwortete: ,Gar gern, sie wolle treu und fleißig sein, wenn er sie in seine Dienste annehmen wolle,‘ und nannte ihm alle die Bauernarbeit, auf die sie sich verstehe. Nun hatte der Vater seinen Sohn oft gemahnt, daß er doch heirathen möchte, wozu er sich aber bisher nie hatte entschließen können. Da aber die Salzburger Emigranten durch die Altmühl zogen und er dieses Mädchens ansichtig wurde, gefiel ihm dasselbe. Er ging daher zu seinem Vater, erinnerte diesen, wie er ihn oft zum Heirathen angespornt, und entdeckte ihm dabei, daß er sich nunmehr eine Braut ausgesucht hätte; er bäte, der Vater möchte ihm nun erlauben, daß er dieselbe nehmen dürfte. Der Vater fragte ihn, wer dieselbe sei. Er gab ihm zur Antwort, es sei eine Salzburgerin. Wollte ihm aber der Vater nicht erlauben, daß er dieselbe nehmen dürfe, so werde er auch niemals heirathen. Als nun der Vater nebst seinen Freunden und dem herzugeholten Prediger sich lange vergeblich bemüht hatte, ihm solches aus dem Sinne zu reden, es ihm aber doch endlich zugegeben, so stellte dieser seinem Vater die Salzburgerin vor. Das Mädchen wußte aber von nichts Anderem, als daß man sie zu einer Dienstmagd verlangte, und deswegen ging sie auch mit dem jungen Manne nach dem Hause seines Vaters. Dieser hingegen stand in dem Gedanken, als hätte der Sohn der Salzburgerin sein Herz schon eröffnet. Daher fragte er sie, wie ihr denn sein Sohn gefiele und ob sie ihn heirathen wolle. Weil sie nun davon nichts wußte, so meinte sie, man suche sie zu äffen. Sie fing darauf an, man solle sie nur nicht foppen! Zu einer Magd hätte man sie verlangt, und zu dem Ende sei sie seinem Sohne nachgegangen; wolle man nun dazu sie annehmen, so wolle sie allen Fleiß und alle Treue beweisen und ihr Brod schon verdienen, foppen aber lasse sie sich nicht. Der Vater aber blieb dabei, daß es sein Ernst sei, und der Sohn entdeckte ihr dann auch die wahre Ursache, warum er sie nach Hause geführt, nämlich: er habe ein herzliches Verlangen, sie zu heirathen. Das Mädchen sah ihn darauf an, stand ein klein wenig still und sagte endlich: ,Wenn es sein Ernst sei, daß er sie haben wollte, so sei sie es auch zufrieden und so wolle sie ihn halten, wie ihr Auge im Kopfe.‘ Der Sohn reichte ihr hierauf ein Ehepfand; sie aber griff sofort in den Busen, zog einen Beutel, darin zweihundert Ducaten staken, und sagte, sie wollte ihm hiermit auch einen Brautschatz geben. Folglich war die Verlobung richtig.“