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Wo bist du –? (Tucholsky)

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Wo bist du –?
Untertitel:
aus: Mit 5 PS Seite 253-256
Herausgeber:
Auflage: 10. – 14. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Ernst Rowohlt
Drucker: Herrosé & Ziemsen
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus: EIN STÜCKCHEN ZU FUSS
Erstdruck in: Weltbühne, 21. Dezember 1926
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Bild
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Bearbeitungsstand
fertig
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[253]
Wo bist du –?

Ich möchte mal fragen, ob vielleicht jemand weiß, wo es geblieben ist.

Als ich noch ein ganz kleiner Junge war, Tanzstunden nahm und glaubte, daß Richter Leute seien, die Recht sprächen, da besuchte ich zusammen mit einem dicken Freunde den Max Brod in Prag. Brod war freundlich und nett, zeigte uns seine schöne Stadt, machte uns mit Oskar Baum bekannt, dem blinden, feinen Dichter – es waren leuchtende Tage. Eines Tages fielen wir in ein Café am Bahnhof – und der Oberkellner, der aussah wie der Sohn eines Fiakerkutschers, einer Bardame und Kaiser Franz Josefs, kam auf uns zu und fragte, ob wir neben dem Kaffee auch etwas zu lesen haben wollten. Ja, das wollten wir. „Etwas zu lesen oder Lektüre?“ [254] fragte er. Ich sah ihn an mit einem ratlosen Ausdruck in meinen Kinderaugen. „Zu lesen … Lektüre …“, sagte ich. „Lektüre, bitte sehr, bitte gleich!“ sagte er. Und eilte herbei, einen Packen Bücher und Hefte auf dem Handteller wie ein Tablett mit vielen Tassen Kaffee balancierend. Und gab uns das.

Heilige Gertrud Bäumer! Es waren die gesammelten Schweinereien des Jahrhunderts: Bücher mit Dialogen, die nur in begeisterten Ausrufen bestanden, sorgsame Schilderungen gesellschaftlicher Vorgänge, wie: „Die Baronin riß sich das Hemd vom Leibe, ergriff eine Peitsche und – –“ Auch hatte der vorsorgliche Mann uns mit Bilderbüchern versehen: Photographiealben mit allgemein verständlichen Aufnahmen, auf denen der brave Gesichtsausdruck der Handelnden in sonderbarem Gegensatz zu ihrem Tun stand, auch Zeichnungen und Gemälde aller Art. Ich sah um mich: da saßen neben mir viele Freudensgefährten, die stierten mit hochroten Köpfen in ebensolche Alben, und wenn sich eine Dame durch die Tische schlängelte, dann klappten sie ihr Heft nonchalant zu. Wir fanden das sehr interessant und sahen es uns alles an.

Unter den Büchern war eins, das machte mächtigen Eindruck auf mich. Es hieß: „Liebe“ und bestand aus vierzig Lithographien eines russischen Malers, des Grafen Zichy. Sie waren nicht unwitzig. In Erinnerung blieb mir manche Szene: emsiges Treiben nachts im Knabenpensionat, viele leicht und zierlich hingehuschte Bettbilder von lockender Wärme der Frauenkörper, in den Bildecken saß gewöhnlich eine kleine freche Unterschrift, so: „J’avais une tante qui m’aimait beaucoup“ und „Bons souvenirs!“ und ähnliches. Die letzte Seite bestand nur aus Skizzen von Händen, die sich mit allerhand beschäftigten, eine teilte einen Nasenstüber aus. Es war recht heiter.

[255] Kaum staken wir wieder in Berlin, da ging ich zum sel. Meyer in der Potsdamer Straße, demselben, der seine Kunden als Begrüßung gern auf den Bauch zu klopfen pflegte, und befragte ihn nach diesem Werk. Er grinste und zog es aus einem Stapel seiner Bücher, unter denen nur er sich herausfand. Da hatte ich es, und es war nicht einmal teuer gewesen: fünfundsiebenzig; handeln hatte Meyer nicht gern, wenn er es nicht selber tat. Ich ließ es binden: in einem Anfall von Größenwahn in Ganzpergament, das ganze große Ding in Pergament, mit hellgelbem Seidenvorsatz. Es war ein rechtes Prachtalbum geworden.

Vierzehn Jahre ist das Buch bei mir geblieben. Es bekam langsam Daumenabdrücke von allerlei Damen: auch von Frau Knautschke, meiner damaligen, nunmehr in Gott eingegangenen Wirtin, die es sich während meiner Abwesenheit genau ansah. „Man will doch auch mal was haben!“ sagte sie, als wir darüber sprachen. Dann packte ich es fort, man wird dicker und älter, in den Krieg habe ich es nicht mitgenommen, wir Soldaten lesen seit unserer Kadettenzeit nur noch militärische Bücher, und dann sah ich es immer weniger und weniger an.

Und als sie dann meine Siebensachen packten, weil Poincaré mich rief, da legte ich es obenauf, unvorsichtigerweise uneingewickelt. Die Kisten reisten über Kehl, rollten über den Rhein, den deutschen Strom, nicht Deutschlands Grenze, und als der ganze Schwung in Paris ankam, da fehlte etliches. Das schöne Buch von Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“ und dies und jenes, und auch der Zichy. Was nun –?

Ah, Ersatz in Paris, nein, das war es nicht. Es ist doch ein kleines Stückchen Leben gewesen, das sich losgelöst hatte – und nur, weil ein Möbelpacker seinen Mund von einem Ohr bis zum andern aufgerissen hatte, als er es sah, sollte ich es entbehren …? Das war bitter. Auch war immerhin möglich, [256] daß ein Zollbeamter … ich wage es nicht zu Ende zu denken. Kurz: der Zichy war weg.

Und da wollte ich mal fragen, ob es vielleicht jemand gesehen hat.

Es wäre ja denkbar, daß es sich einer gekauft hat, zu Studienzwecken, der Wissenschaft halber, nur um sich so etwas mal anzusehn, und was man so sagt. Der Pergamentdeckel ist leicht fleckig, das Buch gut erhalten, nur unten, an den rechten Ecken, sind manchmal die Seiten ein wenig eingerissen, wie wenn es da jemand beim Umblättern furchtbar eilig gehabt hätte.

Und wenn es einer hat, dann soll er mirs doch bitte sagen. Ich kaufe ihm ein neues, aber das da möchte ich gern wiederhaben. Es hat so viel aufgesaugt; an Gegenständen bleibt ja bekanntlich, wie auch an Wänden, das Leben haften, man lebt sie voll … Es ist eine Art Erinnerung, eine Erinnerung an die schönen Zeiten, als wir noch jung waren und erheblich neugieriger als heute. Eine Erinnerung an die Zeit, wo noch nicht ein Auge immer zuguckte, wenn das andere leuchtete – darin lebt ein Jahrzehnt. So wie in einer alten Grammophonplatte, die ein nun Verstorbener besungen hat, wie etwa der erschossene Chansonnier Fragson, in den Atempausen die damalige Zeit rauscht: 1910, vorbei, vorüber – aber doch einmal gewesen.

Wo bist du? In guter Pflege? Sind sie nett zu dir? Wo bist du –?