| Die Diakonissengenossenschaft. Der „Orden vom Hause Stephana.“
Anfangs war Löhe, wie er selbst bekennt, dem Gedanken, als sollten die Diakonissen eine Art von geschlossener Schwesternschaft oder Orden bilden, völlig abhold. In dem ersten Jahresbericht, den das Diakonissenhaus veröffentlichte, wurde sogar die Absicht ausgesprochen, eine Diakonissin, die in ihrem Wirkungskreis sich bewähre, aus der engeren Abhängigkeit vom Diakonissenhaus (der Begriff „Mutterhaus“ existierte damals noch nicht) zu entlassen und ihr eine mehr oder weniger selbständige Stellung einzuräumen. Man sieht, es regierte damals noch die Idee des altkirchlichen Gemeindediakonissentums. An der Hand der Erfahrung aber klärten und berichtigten sich bald die Anschauungen. Aus der Mitte der Diakonissen selbst wurde zuerst das Bedürfnis laut nach einem
| Mutterhaus, das ihnen das Bewußtsein einer Heimat, Halt und Anlehnung bei ihrer einsamen Stellung in der Welt und eine Zufluchtsstätte für Tage der Krankheit und des Alters, überhaupt einen Ersatz für das verlassene Vaterhaus böte. Aber auch die leitenden Persönlichkeiten erkannten die Notwendigkeit eines innigen Zusammenhangs der Diakonissen unter einander und mit ihrem Mutterhause immer deutlicher. Schon im vierten Jahresbericht vom Jahr 1857 heißt es: „Nichts wurde uns im Fortgang des Werks klarer, als daß die innere und äußere Tüchtigkeit der Diakonissin von dem Zusammenhang mit der ganzen Schwesternschaft abhängt, die sich dem Dienst Christi in seinen Elenden nach einerlei Grundsätzen ergeben hat.“ „Gibt sie den engen Verband mit dem Mutterhaus und ihres Gleichen auf, so vergißt sie die ihr dort eingeprägten Gedanken, verliert die hohe Ansicht von ihrem Beruf und sinkt allmählich zur Lohndienerin herunter und zum Weltkind.“ Und in einem um etliche Jahre späteren Jahresbericht heißt es: „Die Aufgabe, welche das Diakonissenhaus als
Mutterhaus hat, tritt immer mehr hervor und wird allmählich die überwiegende werden. Da die Kirche und Gemeinde
als solche keine Diakonissen mehr hat, so kann die einzelne Dienerin des HErrn Jesus nur durch ihre Stellung zum Mutterhause, den Vorstehern, der ganzen Familie oder Genossenschaft vor dem herabziehenden Einfluß des Einzelberufs bewahrt bleiben und nur durch die Einfügung in ein Ganzes die Einseitigkeit des Lebens vermeiden, welche der weibliche Einzelberuf bei ledigen Schwestern so gerne zur Folge hat.“ Und so ließ man denn die anfängliche Scheu vor Anlehnung an die antike Form des Genossenschaftslebens fahren und fand sich darein, in der Diakonissin des 19. Jahrhunderts „ein protestantisches Nachbild der römisch-katholischen barmherzigen Schwester“ zu sehen. (Löhe, Von der Barmherzigkeit S. 164). Es gebe nun einmal – sagte Löhe (ebenda) – keine Gemeinden mehr wie in der ersten
| Zeit und darum könne es auch keine Gemeindediakonissen mehr geben wie in der ersten Zeit. Bei der heutigen Verderbnis der Massenkirchen müße alles Gute aus dem freien Willen einer christlich angeregten Schaar hervorgehen und von ihr ins Leben gesetzt werden, und so sei auch die Diakonie unsrer Tage Sache des freien Willens und des freiwilligen Zusammenschlusses derjenigen, die Gott dazu angeregt und erweckt habe. Damit sei aber von selbst die Form der Genossenschaft, der Brüder- und Schwesternschaft gegeben, die, überhaupt kein Zeichen einer toten Kirche, heutzutage gerade die Trägerin des kirchlichen Lebens sei. Im Zusammenhang dieser Gedanken nannte Löhe das jetzige Diakonissentum gern „den Orden vom Hause Stephana“, von welchem es 1 Cor. 16, 15 heißt: „sie hätten sich
selbst verordnet zum Dienst (
εἰς διακονίαν) der Heiligen.“ Mit dieser Änderung der Anschauungen war es gegeben, daß man für die Diakonissin anstatt des unpassenden „Fräulein“ den Namen „Schwester“ adoptierte, ferner daß man die Diakonissen, die an demselben Ort oder in derselben Gegend dienten, zu „Kapiteln“ d. h. zu regelmäßigen Zusammenkünften vereinigte, in denen sich dieselben durch gemeinsames Gebet und Lesen des göttlichen Worts, durch gegenseitige Ermahnung und Seelsorge in der Treue des Wandels und der Berufsführung und im Bewußtsein der Gemeinschaft stärken sollten. Gleichem Zweck sollte auch das im Jahr 1858 gegründete „Correspondenzblatt der Diakonissen“ dienen, durch welches man den Zusammenhang der Schwestern unter einander und mit dem Mutterhause lebendig zu erhalten suchte. Das Blatt, welches Heuer zum 34. Mal erscheint, enthält namentlich in seinen ersten Jahrgängen aus Löhes Hand eine Reihe wichtiger Aufsätze über die Diakonissensache, welche noch heute die Grundlage des Diakonissenunterrichts bilden.
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Der Aufgabe, in den Gedanken der Genossenschaft sich ein- und mit den Gliedern derselben sich zusammenzuleben sollte auch der
| zeitweilige Aufenthalt erholungsbedürftiger oder augenblicklich berufloser Schwestern im Mutterhause dienen. Man nahm sich vor, „solche Epochen im Leben einer Diakonissin nicht allzu ängstlich zu vermeiden, da sie derselben Gelegenheit gäben zur inneren Sammlung und Restauration, zur Wiedererweckung des einst empfangenen Unterrichts, zur Fortbildung, zur Stärkung und Erfrischung des Gemeinschaftsgefühls. Schon daß eine Diakonissin, die vielleicht anderwärts eine leitende Stellung einnahm, bei zeitweiliger Anwesenheit im Mutterhause sich wieder in ein Ganzes fügen und an Unterordnung gewöhnen müße, sei eine gute Schule der Selbstverleugnung und für eine Schwester, die etwa von der weichlichen Luft der Welt sich habe verwöhnen lassen, sei die geistige und geistliche Atmosphäre des Mutterhauses das wolthätigste Stahlbad zur Erfrischung und Kräftigung ihres inneren Menschen.“
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Wie anderwärts so erwies sich auch in Neuendettelsau die Einführung einer besonderen Diakonissentracht bald als eine notwendige Forderung genossenschaftlichen Lebens. Wollte man durch dieselbe anfangs nur der „widerwärtigen Mannigfaltigkeit der weiblichen Mode des 19. Jahrhunderts“ widerstreben, so erkannte man doch bald, von welcher Wichtigkeit ein Standeskleid für die Diakonissin, wie geeignet es sei, ihr nach innen einen gewissen Halt, nach außen Schutz zu gewähren. Unter Beirat und Beihilfe der ersten Schülerinen ließ man eine Tracht sich ausbilden, „die wohlfeil und schön zugleich und dennoch nicht statiös, wol aber magdlich war“ und auch einer gewissen Symbolik nicht entbehrte. Die schwarze Kleidung sollte auf Weltentsagung deuten, die weiße Schürze, die zum feiertäglichen Schmuck gehörte, sollte an jenes Linnentuch erinnern, mit dem „der größte aller Diakonen“ sich gürtete, als er sich anschickte, seinen Jüngern die Füße zu waschen. Dieselbe Schürze wurde an Werktagen in Blau getragen, der Farbe der Beständigkeit und Treue. Vervollständigt wurde diese
| Tracht durch einen bei feierlichen Gelegenheiten getragenen Schleier, der „als eine Macht auf dem Haupte“ der Diakonissin eine Erinnerung daran sein sollte „daß sie sich dem ewigen Bräutigam Christo, so lang es ihm gefällt und er sie nicht anders führe, zum Dienst für seine Armen und Elenden ergeben habe.“ So deutete Löhe in seiner sinnigen Weise die einzelnen Stücke der Diakonissenkleidung. Daß die Schwestern mit dieser Kleidung in der ersten Zeit ein für sie peinliches Aufsehen erregten, daß der Unverstand auch darin Romanismus sah, war ja nicht anders zu erwarten, änderte sich aber bald; heutzutage ist das Diakonissenkleid für seine Trägerin wol überall, wo sie öffentlich zu erscheinen veranlaßt ist, ein Schutz und eine Empfehlung.
Geleitet wurde die Dettelsauer Diakonissengenossenschaft anfänglich von drei Vorsteherinen, unter welche die Geschäfte des Regiments verteilt waren. Nach dem Tode der ersten Vorsteherin Karoline Rheineck (21. Aug. 1855) „die für ihre Nachfolgerinen im Amt der Vorsteherinen wie für alle Schülerinen ein heiliges Vorbild gewesen war“ und nach dem Abgang der dritten Vorsteherin, Helene von Meyer, die sich im Verein mit ihrer Schwester einen bald immer mehr sich erweiternden Diakonissenwirkungskreis in Nürnberg schuf, wurde die gesamte innere Leitung des Hauses in die Hände der bisherigen zweiten Vorsteherin, Amalie Rehm gelegt, die sodann den Titel „Frau Oberin“ erhielt und ihres Amtes mit viel Verstand und Würde bis an ihr Ende (11. März 1883) wartete. Die oberste Aufsicht und Leitung hatte Löhe selbst als Rektor in der Hand.