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Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Große verliert

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Große verliert
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 7–9
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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3. Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Grosse verliert

Es war einmal eine alte Frau, die hatte zwei Söhne. Ihr großer Sohn war ohne Kindesliebe und verließ Mutter und Bruder. Der jüngere aber diente ihr, so daß alle Leute von seiner Kindlichkeit erzählten.

Eines Tages wurde draußen vor dem Dorf Theater gespielt. Da trug er seine Mutter auf dem Rücken hin, damit sie zusehen könne. Vor dem Dorf aber war eine Schlucht. Dort glitt er aus und fiel mitten in die Schlucht hinein. Seine Mutter ward von dem Steingeröll totgeschlagen; ihr Blut und Fleisch war rings umhergespritzt. Der Sohn streichelte den Leichnam seiner Mutter und weinte bitterlich. Er wollte sich selbst töten, als er plötzlich einen Priester vor sich stehen sah.

Der sagte zu ihm: „Sei ohne Furcht, ich kann deine Mutter wieder lebendig machen.“

Mit diesen Worten bückte er sich, las Fleisch und Knochen zusammen und fügte sie alle richtig aneinander. Dann blies er sie an, und schon war die Mutter wieder lebendig. Da hatte der Sohn eine große Freude und dankte ihm auf den Knien. Er sah jedoch an einer Felskante noch ein ungefähr zollgroßes Stückchen Fleisch seiner Mutter hängen.

„Das darf man auch nicht liegen lassen“, sagte er und barg es an seinem Busen.

[8] Der Priester sprach: „Wahrlich, du hast die rechte Kindesliebe!“

Dann ließ er sich das Fleischstück der Mutter geben, knetete daraus ein kleines Männchen, blies es an, und mit einem Sprunge stand es da. Es war ein ganz stattlicher kleiner Knabe geworden.

„Der heißt der kleine Vorteil“, wandte er sich an den Sohn, „du magst ihn deinen Bruder nennen. Du bist arm und hast nichts, deine Mutter zu ernähren; wenn du etwas brauchst, kann es Klein-Vorteil dir verschaffen.“

Der Sohn bedankte sich nochmals. Dann nahm er seine Mutter wieder auf den Rücken und seinen neuen kleinen Bruder an die Hand und ging nach Hause. Wenn er zu Klein-Vorteil sagte: Bringe Fleisch und Wein! war Fleisch und Wein sofort auch da, und dampfender Reis kochte auch schon im Topf. Wenn er zu Klein-Vorteil sagte: Bringe Geld und Tuch! so füllte das Geld die Beutel, und das Tuch lag in den Kisten bis zum Rand. Was immer er bat, alles wurde ihm zuteil. So wurden sie allmählich recht wohlhabend.

Sein älterer Bruder beneidete ihn aber sehr, und als im Dorfe abermals ein Schauspiel war, nahm er die Mutter mit Gewalt auf den Rücken und ging hin. Da er zur Schlucht kam, glitt er mit Willen aus und ließ die Mutter in die Tiefe fallen, nur darauf bedacht, daß sie auch wirklich ganz in Stücke ginge. Und richtig, die Mutter fiel so übel, daß Rumpf und Glieder rings umher zerstreut waren. Gemächlich stieg er selbst nunmehr hinab, nahm der Mutter Kopf in seine Hände und stellte sich, als ob er weine.

Schon war auch wieder der Priester zur Stelle und sprach: „Ich kann die Toten wieder auf erwecken, weiße Gebeine mit Fleisch und Blut umgeben.“

Dann machte er es wie das letztemal, und die Mutter kam wieder zu sich. Der ältere Bruder aber hatte absichtlich schon vorher eine ihrer Rippen versteckt.

[9] Die zog er nun hervor und sprach zum Priester: „Noch ist ein Knochen übrig. Was soll man damit tun?“

Der Priester nahm den Knochen, umgab ihn mit Lehm und Erde, blies ihn an wie das letztemal, und es entstand ein Männlein, das Klein-Vorteil ähnlich sah, nur war es größer an Gestalt.

„Der heißt die Große Pflicht“, sagte er zu ihm; „wenn du dich an ihn hältst, wird er dir stets zur Hand sein.“

Der Sohn nahm die Mutter wieder auf den Rücken, und die Große Pflicht ging hinter ihm her.

Als er zum Tore des Gehöftes kam, da sah er seinen jüngeren Bruder herbeikommen, der Klein-Vorteil auf den Armen trug.

„Wo gehst du hin?“ sagte er zu ihm.

Der Bruder sprach: „Klein-Vorteil ist ein Götterwesen, das nicht dauernd unter Menschen wohnen mag. Er will wieder in den Himmel fliegen, und ich gebe ihm das Geleite.“

„Gib Klein-Vorteil doch mir! Laß ihn nicht gehen!“ sagte der Ältere.

Aber ehe er ausgeredet hatte, erhob sich Klein-Vorteil in die Lüfte. Der ältere Bruder ließ nun eilig die Mutter auf den Boden fallen und streckte die Hand aus, um Klein-Vorteil zu erhaschen. Aber es gelang ihm nicht, und schon erhob sich auch die Große Pflicht, faßte Klein-Vorteil bei der Hand, und beide zusammen stiegen zu den Wolken auf und verschwanden.

Da stampfte der ältere Bruder auf den Boden und sagte seufzend: „Ach! Weil ich nach dem kleinen Vorteil gierig war, habe ich die große Pflicht versäumt.“

Anmerkungen des Übersetzers

[387] 3. Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Große verliert. Quelle: mündliche Überlieferung.

„Theater gespielt“: In China wird – meist an Festtagen oder aus irgendeinem religiösen Anlaß – im Freien, auf einer provisorisch aufgeschlagenen Bühne vor dem Dorf oder dem Tempel gespielt. Ständige Theater sind nur in großen Städten.