Von der Kirgisen-Karawane
[641] Von der Kirgisen-Karawane. (Mit Abbildungen.) Die Steppen Asiens an dem Kaspischen Meere und der russisch-chinesischen Grenze sind die Heimat des Nomadenvolkes der Kirgisen; nur ein kleiner Teil desselben haust auf europäischem Boden in den weiten Steppen des Gouvernements Astrachan. Dort bilden diese Nomaden die sogenannte Innere oder Bukujewsche Horde, deren Stärke etwa 150000 Köpfe beträgt. Aus mehreren Angehörigen dieser Kirgisen und einigen Tataren hat man eine Karawane zusammengestellt, die gegenwärtig in größeren deutschen Städten sich sehen läßt und durch ihre Schaustellungen dem Publikum einen lehrreichen und interessanten Einblick in die Sitten und Gewohnheiten des Hirtenvolkes in dem fernen Osten gewährt. Auf diesen Schaustellungen hat unser Zeichner, Carl Henckel, die hier wiedergegebenen Skizzen gesammelt, die uns die Kirgisen in ihrer originellen Tracht und ihrem eigenartigen Treiben vorführen.
Die Kirgisen sprechen einen der reinsten türkischen Dialekte, aber ihrem Körperbau nach gehören sie zumeist der mongolischen Rasse an. Von den Türken haben sie auch den Islam übernommen, aber sie kennen die Lehren des Propheten nur oberflächlich und stecken noch zu gutem Teil in dem alten heidnischen Aberglauben. Sie sind ein Hirtenvolk und die Viehzucht bildet ihren Haupterwerb, darum wandern sie mit ihren Herden in der Steppe. Früher hausten sie im Sommer wie im Winter nur in Kibitken oder Filzzelten, die leicht abgebrochen und an anderem Orte ebenso leicht wieder aufgerichtet werden können. Unter russischer Oberhoheit sind sie seßhafter geworden und bauen jetzt für den Winter Erdhütten aus Ziegeln, die sie an der Luft getrocknet haben. Kommt aber die wärmere Jahreszeit, so verlassen sie diese festen Wohnsitze und ziehen samt ihren Herden und den Kibitken in die offene Steppe hinaus. Ihre Viehwirtschaft ist ziemlich mannigfaltig. Sie halten Pferde einer besonderen Rasse, die nicht groß von Wuchs sind, aber durch ihre Ausdauer sich auszeichnen; sie verfügen über große Rinderherden und besitzen Kamele von brauner und weißer Farbe mit einem und zwei Höckern. Man findet bei ihnen Ziegen verschiedener Farbe, und zahlreich sind in der Kirgisensteppe die fettschwänzigen Schafe vertreten, die ziemlich groß werden und sich reichlich vermehren. Mit den Erzeugnissen dieser Viehzucht betreiben die Kirgisen einen schwunghaften Handel. Leder, Haare, feine Wolle wandern von der Steppe durch Vermittelung der Zwischenhändler nach civilisierteren Gebieten, um dort von der Industrie verarbeitet zu werden.
Das Hirtenvolk nährt sich auch zum größten Teil von seinen Herden. Die fettschwänzigen Schafe werden als Leckerbissen verspeist, Roßfleisch wird nicht verachtet und aus jungen Füllen werden Würste bereitet, die in der Steppe als Delikatesse gelten. Die Stuten- und Kamelmilch wird zu dem berauschenden Kumys verarbeitet, aber auch saure Milch aus hölzernen Schüsseln in großen Mengen verzehrt. Während des Sommers, wo das Fleisch in der großen Hitze ungemein rasch verdirbt, müssen die Hirten allerdings bei Ackerbauern Anleihen machen und von diesen Mehl beziehen, das sie zu allerlei Kuchen verbacken.
Nomaden sind in der Regel ausgezeichnete Reiter, und auch die Kirgisen sind mit ihren kleinen Pferden wie verwachsen. Mann und Weib ist in der Steppe beritten und das Weib reitet nach Männerart. Zwei unserer Abbildungen führen uns kirgisische Reiter vor. Wir lernen an ihnen gleich die Männertracht kennen, wie sie in der wärmeren Jahreszeit getragen wird. Das weite Kalikohemd wird in der Taille durch eine Schnur zusammengehalten; weit sind die ledernen Beinkleider, den Kopf deckt ein weicher Tuchhut und die Füße stecken in weichen schwarzen Lederstiefeln. Der mongolische Sattel, auf dem der Reiter sitzt, ist mit einem Kissen versehen. So sitzt der Mann in der That hoch zu Roß, seine Füße hängen nicht bis an den Rand des Pferdeleibs herab, sondern stehen noch ein Stück darüber in den schweren Eisenbügeln, mit denen der Reiter das Roß antreibt. Ein Kantschu (Reitpeitsche) hilft weiter nach.
Auf dem ersten unserer Bilder ist ein Kirgise dargestellt, wie er ein Pferd mit einem Stangenlasso einfängt. Dieses Gerät besteht aus einer langen Schlinge, die an einer Stange befestigt ist. Die Schlinge wirft der Fänger um den Hals des Tieres und dreht dann blitzschnell die Stange, so daß der Strick sich schraubenförmig um das Holz und den Hals des Gefangenen zusammenschnürt.
Das Stangenlasso benutzen die Kirgisen auch auf der Jagd, um Wild einzufangen. Als Bewohner der Steppe sind sie überhaupt große Freunde der Jagd, aber sie stellen dem Wilde nicht mit Pulver und Blei nach, sondern jagen nach altem Brauch. Bei ihnen stehen noch die Falkenbeizen in hoher Blüte. Der Kirgise versteht verschiedene Raubvögel zum Tierfang abzurichten. Falken, Habichte und selbst den Königsadler macht er sich gefügig. Falken und Habichte stoßen auf kleineres Wild, der Königsadler sogar auf Wölfe und Füchse. Reitet der Kirgise mit seinen Vögeln zur Beize in die Steppe hinaus, so wird er von [642] Hunden begleitet. Haben die Jagdvögel ihr Wild erreicht, so hacken sie mit den Schnäbeln auf dasselbe los und halten es fest, bis die Hunde herangekommen sind. Unsere Abbildung zeigt einen Jäger zu Roß, der einen Falken auf seiner mit Fuchspelzhandschuhen geschützten Faust führt und von russischen Wolfshunden begleitet wird.
An solchen Vergnügen beteiligen sich die Kirgisenfrauen nicht, sie sind mit der „Hauswirtschaft“ beschäftigt; sie sorgen für das bewegliche Zelt der Nomaden, für Küche und Kleidung und sind in Handarbeiten gewandt. Sie verstehen feine Gewebe, Shawls und Teppiche anzufertigen, die je nach ihrer Größe mit hohen Preisen, selbst mit 500 bis 600 Mark, bezahlt werden. Die linksstehende Abbildung führt uns eine Kirgisenfrau in ihrem Sommeranzug vor. Ueber einem Zitz- oder Kalikohemd und weiten Beinkleidern trägt sie ein langes, mit breiten Aermeln versehenes Kapot ohne Taille; ihr Kopf ist mit einem mächtigen Turban umwunden.
Außerdem zeigt uns unser Zeichner noch einen tanzenden Kirgisen. Schon auf den ersten Blick erkennen wir, daß dieser Tanz nicht der Belustigung dient, sondern mit abergläubischen Vorstellungen zusammenhängt. Der Tänzer versucht wohl, böse Geister zu bannen, und hat sich selbst ein teuflisches Ansehen verliehen. Er hat weiße Holzstäbchen zwischen dem unteren Augenlid und der Braue und zwischen der inneren Unterlippe und den Nasenlöchern eingeklemint und dadurch sein Antlitz verzerrt. Sein Thun und Gebaren flößt gewiß den Naturkindern Schrecken ein, die civilisierten Zuschauer lächeln darüber und empfinden bei diesem Anblick den gewaltigen Fortschritt, der die Völker Europas im Laufe der Jahrhunderte zu der heutigen Stufe emporgeführt hat.