Vom Reichsfürstenstande/Einleitung
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Ich sach hie vor eteswenne den tac,
daz unser lop was gemein allen zungen.
swâ uns dehein lant iender nâhe lac,
daz gerte suone oder ez was betwungen.
richer got, wie wir nâch êren dô rungen!
Walther v. d. Vogelweide.
Zwei grosse Aufgaben hatte unsere Nation in den früheren Jahrhunderten ihrer Geschichte zu lösen.
Bei der einen handelte es sich vorwiegend um ein Werk der Zerstörung, um die Zertrümmerung des Weltreiches, in welchem das staatliche Leben der Kulturvölker des Alterthums seinen Abschluss gefunden hatte. Nicht die Germanen allein haben an ihm gearbeitet. Während aber auf der thracischen Halbinsel die eindringenden slavischen Völker und ihre Genossen es nicht bis zu einer Sprengung der alten Form, zu einer Freimachung des Feldes für eine neue lebensfähige Gestaltung zu bringen vermochten; während andererseits der Sturm der Völker des Islam über die Länder des Südens dahinfuhr völlig aufräumend mit der alten Ordnung der Dinge, unvermittelt eine neue an ihre Stelle setzend: verband sich nur bei dem Vorgehen der Germanen mit dem Werke der Zerstörung zugleich genugsam der Charakter der Erhaltung, dass nicht schonungslos auch das zertreten wurde, was der Erhaltung werth, der Weiterentwicklung fähig war. Indem die Germanen das Staatswesen der alten Welt brachen, gleichzeitig aber der kirchlichen Ordnung derselben sich einfügten, ermöglichten sie die Entwicklung eines Kulturkreises, welcher der bestimmende für den Fortschritt der Menschheit werden sollte.
Die zweite grosse Aufgabe war wesentlich eine schaffende: es galt die staatliche Form zu finden, welche das Werk der Verschmelzung und Weiterentfaltung der ureigenen und der überkommenen Bildungselemente schirmen, weitere allgemeine Umwälzungen fern halten konnte. Auch dieser Aufgabe entsprach nach manchen nicht werthlosen, aber auch nicht genügenden Versuchen unser Volk durch die Gründung des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, einer politischen Schöpfung so eigenthümlicher Art, dass wir vergebens in der Geschichte nach einem Vorbilde oder einer Nachbildung ausschauen. [2] Vom römischen Weltreiche hat das deutsche Kaiserreich nur den Namen, nicht den Umfang und das Wesen überkommen. Nie ist es das geworden, was anschliessend an die Traditionen vom Reiche der Imperatoren, anschliessend an die Einheit der Kirche, welcher eine Einheit der weltlichen Gewalt entsprechen müsse, die Theorie des Mittelalters vielfach von ihm glaubte verlangen zu sollen. Nie fielen seine Gränzen zusammen mit denen des abendländisch-christlichen Kulturkreises, dessen weltliche Interessen zu schirmen es berufen war; noch weniger, dass in ihm der Trieb gelegen hätte, die so verschiedenen Volksthümlichkeiten des weiten Kreises ein und derselben staatlichen Regel zu unterwerfen. Wohl finden wir diese Richtung auf ein einheitliches Weltreich in der Schöpfung Karls des Grossen; aber sie war auch nur ein Versuch, dessen Misslingen die eigentümliche Gestaltung des deutschen Kaiserreiches vorbereitete; und besser unzweifelhaft, dass dieses Misslingen zeitweise einen unläugbaren Rückschritt herbeiführte, als wenn dem Gelingen eine vorzeitige Reife gefolgt wäre, ein Zustand, welcher auf die Verhältnisse der Imperatorenzeit hätte zurückleiten müssen.
Fehlte dem deutschen Reiche der Charakter des Weltreiches, so war es freilich eben so wenig ein Nationalreich; wenigstens nicht im Sinne einer Zeit, welche nur noch der einfachsten Aufgabe gewachsen scheint, das Gleichartige und Einförmige staatlich zu ordnen, welche dem Mannichfaltigen und Eigentümlichen im Staate gegenüber da, wo sie auf die Aussicht einer Assimilirung verzichten muss, am liebsten zur Ausscheidung rathen möchte, welche muthlos zurückweicht, wo es gilt, verschieden Geartetes zu genügender Einheit zu verbinden, Kräfte verschiedenen Werthes in der jeder angemessenen Richtung für die Zwecke des Staatsganzen zu verwerthen, diesen entsprechend Recht und Pflicht der Einzelnen in verschiedener Abstufung zu verteilen. Im Sinne derer, welche die durch die Einheit der Sprache gekennzeichnete Nation als das bestimmende Moment für die Abgränzung des Staates hinstellen, war das deutsche Reich freilich kein nationales. Indem es neben den deutschredenden Stämmen in kaum geringerer Anzahl Millionen von Romanen und Slaven der verschiedensten Zunge umschloss, vereinigte es in sich Glieder aller grossen Völkerfamilien des Abendlandes; und wieder finden wir selbst in dem engeren Rahmen des deutschen Königreiches alle Nationen des vielsprachigen Kaiserreiches vertreten; oft sich kreuzend, liefen die Gränzen der Sprachen nur selten zusammen mit denen des Reichs und seiner Theile. Und nicht das allein; es fehlte auch das Streben, die verschiedenen Nationen zu einer zu verschmelzen; jeder war im eigenen Kreise die freieste Bewegung gegönnt, der weiteste Spielraum gelassen, Volkstümliches zur vollsten Entfaltung zu bringen; in keinem Kreise des Staatslebens wurde es dem Einzelnen fühlbar, dass seine Sprache, sein Recht nicht die des Reiches seien; beide geleiteten ihn bis zum Richterstuhle des [3] Kaisers; was alle in dieser Richtung dennoch verband, ein solches Verhältniss ermöglichte, die Satzungen der Kirche und ihre Sprache, gehörte keiner Nation vor der andern an, rührte von einer den Raum der einzelnen Nation, wie den des gesammten Reiches weit überschreitenden höheren Ordnung.
Das deutsche Reich, über die Nation hinausgehend und doch den weitern Rahmen einer gemeinsamen Kultur nicht erfüllend, war darum doch nichts weniger als eine unfertige oder krankhaft ausgewachsene Zwittergestaltung. So mag es einer Staatsweisheit erscheinen, welche den besten Staat erdenken und nach wohlgeordnetem, möglichst einfachem Plane verwirklichen möchte; ihr muss freilich das Verständniss fehlen für die anscheinend verwickelte, vielfach zusammengesetzte Fügung des Reiches, welche nicht erdacht, in welcher keine Theorie der Schule verwirklicht wurde, welche daher auch nach keiner Theorie der Schule gemessen seien will; deren Verständniss und richtige Würdigung von der Beantwortung der Frage abhängen wird, ob sie den damals gegebenen Verhältnissen, den zu lösenden Aufgaben entsprach, ob ihr Zerfall keine Lücke liess, ob die Form gefunden wurde, welche sie genügend ersetzte. Das Reich wurde gegründet von Herrschern und von einer Nation, welche ohne nachgedacht zu haben über die beste Gestaltung des Staates, um so leichter, wie es scheinen muss, diejenige fanden, welche den eigenen Bedürfnissen, wie denen weiterer Kreise am meisten entsprach: auf ihrer Bahn vom Stamme zum Königreiche, von diesem zum Kaiserthume sicher geleitet von einem unbewusst wirkenden richtigen Gefühle über den Umfang und die Gränzen der ihnen gestellten Aufgaben, geleitet durch die drängende Macht der jedesmal gegebenen Verhältnisse, mehr sich anschmiegend und wieder heranziehend, als planmässig umgestaltend. Ein staatlicher Verband, in solcher Weise erwachsen, dessen Bestand seiner Zeit die wichtigste Bürgschaft für jede höhere Ordnung des Welttheils war, dessen Lockerung alle Verhältnisse ins Schwanken brachte, dessen völlige Lösung nicht zufällig zusammenfiel mit der durchgreifendsten Zerrüttung aller Rechtszustände, mag immerhin in seiner eigenthümlichen Gestaltung manchen alten und neuen Formeln der Schule fremd gegenüberstehen; einer Erwägung aber, welche sich an die Wahrheit des geschichtlichen Lebens hält, welche sich bemüht, aus den Thatsachen selbst die in ihnen wirkenden Gesetze zu erkennen, wird es auch von vornherein nicht zweifelhaft sein können, dass gerade dieser eigenthümlichen Gestaltung eine gewichtige innere Berechtigung entsprochen haben müsse. Und diese dürfte sich darin ergeben, dass der Reichsverband gleichzeitig den Aufgaben eines Weltreiches und denen eines Nationalreiches gerecht zu werden hatte, dass ihm neben der Befriedigung der staatlichen Bedürfnisse der eigenen Nation zugleich die Aufgabe gestellt war, dem ganzen Umfange eines grossen verwandten Völkerkreises zum Haltpunkte zu dienen, ihn gegen grosse Umwälzungen sicher zu stellen, ohne dennoch durch erzwungene [4] Einförmigkeit die Entfaltung fremder Volkstümlichkeiten zu ersticken und die eigene durch Zuweisung einer ihre Kräfte übersteigenden Aufgabe zu verbrauchen und in einem einförmigen Völkergemenge zu verflüchtigen. Wer die hier massgebenden geschichtlichen Verhältnisse überdenkt, wird sich weder verhehlen können, dass diese Aufgabe nothwendig zu lösen war, noch auch, dass nur unsere Nation sie zu lösen befähigt schien; und auch die Erwägung könnte ihm nahe treten, dass, wenn entsprechende Aufgaben noch bestehen, die Lösung, wenn überhaupt, wieder nur von unserer Nation zu hoffen ist.
Den universalen Aufgaben des Reichs entsprach eine räumliche Lage und Ausdehnung, wie sie günstiger kaum zu erdenken wäre. Weitgedehnt, aber in festgeschlossener Masse erfüllten die Länder des Kaiserreichs die ganze Mitte des Welttheils vom deutschen Meere bis zur Adria, von den baltischen Küsten bis zu den südlichen Gestaden, wo Pisa sich als getreueste Tochter des Reichs bekannte, wo dem Kaiser zu Arles die Burgunderkrone bereit lag; nirgends begränzt von ungangbaren Gebirgen, welche dem Schwachen ein Schutz, die freie Bewegung des Starken hindern, lagerten sie sich in breiten Massen um die Felsenburg der Alpen; kein Pass, den nicht hüben und drüben des Reiches Vasallen geschirmt hätten. Allen andern Staaten des Abendlandes weit überlegen, fast alle trennend und auseinanderhaltend, musste das blosse Bestehen des gewaltigen Reichskörpers genügen, die staatliche und kirchliche Ordnung des Welttheils gegen jeden gewaltsamen Umsturz zu sichern, so lange er selbst in sicherer Ruhe beharrte. Und dennoch waren nach keiner Seite die Gränzen so weit gesteckt, dass die kriegerische Kraft der herrschenden Nation ihrer Behauptung gegen äussern Andrang, gegen innern Abfall nicht gewachsen gewesen wäre, lässt sich kaum ein Bestandteil bezeichnen, dessen Fortfall die Bedeutung des Ganzen nicht wesentlich beeinträchtigt haben würde. Wie gleichgültig mag es manchem scheinen, ob jenes Königreich von Arles die Hoheit des Kaisers anerkannte oder nicht, von welchem seit seinem Erwerbe unsere Geschichten kaum etwas zu melden wissen, dessen Verlust fast unbeachtet an der Nation vorüberging. Und doch, welcher Besitz wäre wertvoller gewesen, um den Bestand des Reiches durch Fernhaltung äusserer Störungen zu schirmen, welcher Verlust wurde verhängnissvoller für die ganze Umgestaltung der Machtverhältnisse des Welttheils?
Den tatsächlichen Ansprüchen auf universale Bedeutung, wie sie begründet waren in den räumlichen Verhältnissen, in der Mannichfaltigkeit der nationalen Gestaltung, fehlte auch die rechtliche Anerkennung nicht. In doppelter Richtung knüpfte sie an die Kaiserkrone an; als Nachfolger der Imperatoren wies sie den deutschen Kaiser hin auf das weite Erbe seiner Vorgänger am Reiche; als Vogt der Kirche von Rom brachte sie ihn in nächste Beziehung zu der dort gipfelnden [5] kirchlichen Ordnung, berief ihn zum weltlichen Schirmherrn der ganzen Christenheit.
Aber eben die Beziehungen zur Kirche, welche so mächtig einwirkten auf die Bildung eines die Gränzen des Landes und der Nation weit überschreitenden Reiches, welche diesem die rechtlichen Ansprüche auf universale Bedeutung gaben, wurden doch auch wieder zur Schranke, welche es zu einer Verwirklichung dieser Ansprüche bis zu universaler Herrschaft nicht kommen liess. Der Träger jeder Gewalt wird schwer darauf verzichten, den Wirkungskreis derselben auszudehnen, wenn die Gelegenheit dazu geboten scheint; und wenn das deutsche Reich nicht zum Weltreiche erwuchs, so dürfte das einer masshaltenden Besonnenheit unserer Herrscher, obwohl sie manchem eigen war, am wenigsten zugerechnet werden. Auch von einem äussern Gleichgewichte politischer Kräfte, in welchem die Neuzeit ihren Halt suchte, konnte nicht füglich die Rede sein; es war keine Verbindung unter den Staaten jener Zeit denkbar, welche auf materielle Machtmittel gestützt dem Reiche gewachsen gewesen wäre. Dennoch bestand ein genügendes Gleichgewicht; das weltliche Schwert wurde durch das geistliche in der Schwebe gehalten. Wie der Staat des Mittelalters der Stütze der Kirche nicht entrathen konnte, so bedurfte ihrerseits die Kirche eines mächtigen weltlichen Schutzes; war nur der deutsche Herrscher in der Lage, diesen zu gewähren, so gebot das eigene Interesse der Kirche, ihn bei Gewinnung der dazu nöthigen Machtstellung zu fördern und zu schirmen. Dann aber war es auch wieder die der christlichen Kirche des Abendlandes so ganz eigenthümliche, zur Lösung der ihr gestellten Aufgaben unerlässliche, die ganze Entfaltung der abendländischen Kultur so wesentlich bestimmende Richtung auf Unabhängigkeit von der weltlichen Gewalt, welche keine schrankenlose Ausdehnung des Reichs gestatten, den Schützer der ganzen Christenheit nicht zu ihrem Herrn werden lassen durfte. Daher das Streben der Kirche, die Rechte ihres Vogtes auf das nöthigste Mass zu beschränken, lieber politische Interessen des Gesammtkreises möglichst in den Bereich eigener Wirksamkeit zu ziehen; daher jene kirchliche Politik, welche das Entstehen einer Reihe selbstständiger Staaten im Kreise des abendländischen Lebens zu fördern, ihren Bestand zu schirmen suchte; daher vor allem die ängstliche Sorge um die Aufrechthaltung jener für den ganzen Bestand des kirchlich-politischen Gleichgewichtssystemes entscheidenden Machtvertheilung in Italien, welche der für die Interessen der Kirche eben so nothwendigen, als bedenklichen Herrschaft des Kaisers im Norden der Halbinsel an dem päpstlichen Lehenkönigthume im Süden ein genügendes Gegengewicht gab.
Trotz der gewaltigen geistigen Machtmittel, welche die Kirche jener Jahrhunderte in Bewegung zu setzen vermochte, trotz des Interesses aller dem Reiche nicht unterworfenen Staaten, sie in ihrem Streben zu unterstützen, möchte es doch zweifelhaft sein, ob der blosse Gegensatz [6] zwischen Reich und Kirche ein genügendes Gleichgewicht hätte bilden, die Entwicklung zum Weltreiche hätte abhalten können, wäre nicht ein anderes Moment in entsprechender Richtung wirksam gewesen.
Neben dem universalen war doch auch der nationale Charakter des Reiches aufs schärfste ausgeprägt. Nur einer der geschichtlichen Entwicklung entnommenen Anschauung, nicht dem tatsächlichen Verhalte nach wurde im Reiche nicht eine Nation, sondern nur ein Stamm derselben als der herrschende betrachtet; blosse Ehrenrechte waren es, welche das Reich noch immer als ein fränkisches kennzeichneten. Mit der Vereinigung aller Stämme unter dem Frankenkönige zu einem unteilbaren deutschen Königreiche hatte die Einheit der Nation ihre politische Form gefunden, und zwar eine Form, welche durch die rasche Erweiterung zum Kaiserreiche sich nicht wieder verflüchtigte, in welcher alle Gesammt- und Sonderinteressen der Nation auf Grundlage einer einheitlichen und in sich geschlossenen Verfassung zur vollsten Entwicklung gelangen konnten, ohne gehemmt zu sein durch die fremdartigen Bestandteile, welche an diesen Kern des Kaiserreiches sich anschlossen. Und doch muss auch wieder das Gesammtreich als ein nationales bezeichnet werden; denn der Deutsche herrschte im Kaiserreiche, und diese Herrschaft war kein leerer Titel, wie die des Franken im Königreiche. Wohl erscheint überall die einheitliche Verfassung mit möglichster Selbstständigkeit der einzelnen Theile gepaart, war jeder Nation und jedem Stamme im eigenen Kreise möglichst ungehinderte Bewegung gegönnt; aber wenn im Rathe des Königreichs die Stimme des Franken nicht schwerer wog, als die des Baiern oder Sachsen, so duldete der Deutsche in der Herrschaft über das Gesammtreich keinen Genossen; nur von einem deutschen durch Deutsche erhobenen Herrscher wurden seine Geschicke gelenkt, nur an der deutschen Fürsten Rat war dieser gebunden, nur der Wille der Nation, deren kriegerische Kraft das Reich zusammenhielt, konnte für ihn ein bestimmender sein.
Dieser bestimmende Wille aber war einer schrankenlosen Ausdehnung der Herrschaft durchaus abgeneigt. Lässiges Selbstgenügen lag freilich nicht im Wesen unserer Nation; vor keiner universalen Aufgabe ist sie zurückgeschreckt, hat bereitwillig ihre Kräfte eingesetzt, um das Kaiserreich in einem Umfange zu gründen und zu erhalten, wie er den allgemeineren Bedürfnissen entsprach. Aber mit der weitgreifenden Aufgabe erkannte sie auch ihre zweckmässige Begränzung, hielt ein nach Erreichung dessen, was nöthig schien. In dem Bewusstsein der errungenen Uebermacht und Herrschaft fand der nationale Stolz wohl reiche Befriedigung, aber keinen Reiz zu zwecklosen Eroberungen. Der dem Deutschen eigene Trieb nach möglichster Ausbildung des Eigentümlichen und Mannichfaltigen, nach Selbstregierung in engstgezogenen Kreisen schien allerdings nur ihn zu befähigen, von den engsten Aufgaben des Staatslebens aufsteigend auch den umfassendsten [7] ohne Beeinträchtigung des eigenen und des fremden Wesens gerecht zu werden; aber eben jener Trieb liess ihm auch wieder die begränztesten als die wichtigsten erscheinen, zu welchen er gern sich zurückwandte, wenn ihn die umfassenderen abgezogen hatten, denen er über das Mass des Nothwendigen hinaus die Betreibung jener nicht opfern mochte. Weder an dem weitstrebenden Sinne, noch an der Befähigung hätte es manchem unserer Herrscher gemangelt, um es den grössten Eroberern aller Zeiten gleich zu thun; aber unübersteigliche Hindernisse bot ihm die Abneigung der Nation und die dem Wesen derselben entsprechende, weil mit dem Reiche erwachsene Verfassung in ihrer vielfachen Gliederung, welche ein Zusammenfassen der gewaltigen Kräfte des Ganzen nur für die unabweislichsten Gesammtzwecke gestattete, wohl ausreichte, am Bestand und Ansehen der Krone und des Reichs nach innen und aussen zu schirmen, aber es dem Herrscher nicht ermöglichte, jene Kräfte für die Befriedigung eigener Herrschsucht, weitgreifender Plane im Sinne der Imperatoren in Bewegung zu setzen und auszubeuten. Was könnte dafür bezeichnender sein, als die Satzung, welche jeden zum Römerzuge verpflichtete, aber eben so bestimmt am Tage der Krönung die Verpflichtung enden liess? Wo anders, als in der masshaltenden Besonnenheit der Nation, wäre die Erklärung dafür zu suchen, dass in den Jahrhunderten deutscher Uebermacht und französischer Ohnmacht die Gränze des Machtgebietes beider Nationen fest und unverrückt blieb, sie erst dann sich änderte, als das Reich der leidende Theil war? Nur nach einer Seite hin trat die Nation als solche erobernd auf, machte ein stätiger Trieb zur Ausdehnung der Gränzen sich geltend; aber auch dort im Osten war nicht die Lust am Erobern, am Schaugepränge der Herrschaft wirksam, weniger das Bewusstsein der materiellen, als das der intellektuellen Ueberlegenheit, das Bedürfniss, den überschiessenden Kräften der Nation neue Gebiete der Thätigkeit zu eröffnen, fremde Stämme, bedrohlich zwar nicht für das Reich, aber für die Sicherheit seiner Gränzen, dem Kreise der eigenen Aufgaben zuzuführen, mit sich zu verschmelzen; nur da schritt man zur Eroberung, wo eine folgende Kolonisation sie lohnen konnte.
Ist das Kaiserreich gefallen trotz aller Bürgschaften, welche seinen Bestand zu schirmen schienen, so war es nicht, weil es den Keim des Zerfalles nothwendig in sich getragen hätte, weil die Anschauungen, welche ihm bewusst oder unbewusst zu Grunde lagen, unberechtigte gewesen wären. Es ist gefallen, weil diese Anschauungen verlassen wurden; verlassen von den Herrschern, welche die Begrenzung ihres Gewaltkreises, wie sie die ganze Lage der Verhältnisse vorzuzeichnen schien, zu überschreiten, sich in ihrem einer einseitigen Ausbeutung zu Gewaltzwecken zugänglichen sizilischen Erbreiche dafür eine Stütze zu schaffen suchten, wie sie ihnen die Deutschen nur bei selbstbeherrschender Anerkennung einer Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten zu gewähren gewillt waren; verlassen von der Kirche, welche durch [8] Uebergriffe der Reichsgewalt zeitweise bedroht, in dem einseitigen Streben, diese abzuwenden, darauf vergass, wie nöthig der ungeschmälerte Bestand des Reiches ihren eigenen dauernden Interessen sei, und selbst die Macht grosszog, welche ihr gefährlicher werden sollte, als es das Reich jemals gewesen; verlassen endlich von der Nation, welche den Herrschern auf jenen ihren Neigungen wie ihren Kräften gleich wenig entsprechenden Pfaden nicht folgen mochte, sich nun überhaupt auch von den nothwendigen universalen Aufgaben mehr und mehr zurückzog, damit aber zugleich die Auflösung und Ohnmacht ihres nationalen Staatswesens herbeiführte.
Und auch die Ansicht, das letztere sei zu vermeiden gewesen, wenn unser Volk sich von vornherein auf den eigenen Kreis beschränkt, sich jeder umfassendern Aufgabe entschlagen hätte, möchte vor einer unbefangenen Prüfung der geschichtlichen Thatsachen schwerlich bestehen können; eher möchten wir diesen, so wenig das geläufigen Anschauungen entsprechen mag, die Folgerung entnehmen, als sei das den Rahmen der Nation weit überschreitende Reich die einzige Gestaltung, mit welcher ein engerer politischer Verband und eine entsprechende Machtstellung unseres Volkes überhaupt vereinbar sei, als gebe es für uns keine Mitte zwischen staatlicher Uebermacht und Ohnmacht. Nur selten wird ein Volk, welches sich seiner Macht bewusst ist, in der Lage sein, sich auf die eigenen Gränzen beschränken, der Herrschaft über Nachbargebiete entsagen zu können; hiehin oder dorthin wird die Wagschale sich neigen, das Volk, welches sich nicht mehr befähigt fühlt, über andere zu herrschen, wird sich auch gefasst machen müssen, die Fremdherrschaft bei sich einkehren zu sehen. Doppelt musste das gelten für die deutsche Nation eben wegen jenes Triebes, in staatlichen Dingen von unten aufzusteigen, sich in nächstliegenden Kreisen das Recht der Selbstbestimmung zu wahren, einer allgemeineren Regel sich nur in dem Unerlässlichsten zu fügen; ein Trieb, welcher im ganzen Wesen der Nation tief begründet sich so wenig ertödten liess, als seine Ertödtung wünschenswerth sein könnte; welcher aber freilich bei der durch ihn bedingten lockern Fügung der grössern Kreise des Staatslebens eine Ausgleichung erheischt, soll nicht anders die freiere Bewegung im Innern durch eine Schmälerung der Widerstandskraft nach aussen erkauft werden, welche auf die Dauer auch jene nur um so gründlicher beseitigen würde. Diese Ausgleichung bot jenes Hinausgreifen des deutschen Staatswesens über die Nation, jenes Auswachsen bis zu einem die ganze Mitte des Welttheiles umfassenden Kaiserreiche. In ihm war die mangelnde Konzentration der Kräfte für jeden Zweck der Erhaltung und Vertheidigung, freilich auch nur für diesen, hinlänglich ersetzt durch ihre Massenhaftigkeit, ihre günstige räumliche Vertheilung; es waren durch dieses Uebergreifen der deutschen Herrschaft der durch ihre Neigung zu staatlicher Centralisation und erobernder Ausdehnung gefährlichsten Nachbarnation weite Länder entzogen, welche die aktive [9] Kraft der deutschen Nation wenig stärken, grossentheils nur den Werth neutralisirter Gebiete haben mochten, welche aber durch Deutschland aufgegeben schliesslich nur Frankreich zufallen und erst in seinen Händen einen alle Machtverhältnisse bedrohenden Werth erhalten konnten. Dieser Ring fremder Bestandteile, welcher das deutsche Königreich umgab, schien ebenso nöthig den Kern zu schirmen und zusammenzuhalten, als er für die Lösung allgemeinerer Aufgaben unerlässlich ´ war; der dadurch bedingte stetig wirkende Gegensatz der Nationen im Reichsleben selbst, das Gefühl, weitgreifenden äussern Aufgaben nur geeinigt gewachsen zu sein, schienen unentbehrlich, um das Bewusstsein der Nothwendigkeit eines engern staatlichen Zusammenhanges der deutschen Stämme lebendig zu erhalten; wo der Anstoss von aussen nicht hinzukam, erwiesen sich die von innen wirkenden Triebe zur Einigung als unzureichend. Seit die Nation als solche ihre universalen Aufgaben mehr aus den Augen verlor, es ihren einzelnen nächstbetheiligten Gliedern überliess, dieselben fortzuführen, so weit ihre Kräfte das erlaubten, machte sich nichts weniger als ein Bedürfniss oder eine Neigung geltend, den Verband des nationalen Königreiches nun um so fester zu schliessen; es war im ganzen Wesen der Nation begründet, dass nur jenes Streben nach möglichst ungehinderter Bewegung in engsten Kreisen um so stärker zum Durchbruch kam. In allen Verbänden des Staatslebens machte sich das geltend; wie die Zerrüttung des Kaiserreichs die Lockerung der Verfassung des Königreiches zur Folge hatte, so lösten sich mit dieser nun auch naturgemäss die Verbände der auf dem Unterschiede der Stämme beruhenden, eine Reihe von Fürstensprengeln umfassenden Länder, weil sie mit jener ihren Halt und ihre Bedeutung verloren; selbst innerhalb der Fürstensprengel wirkte der Trieb nach weiterer Auflösung, wo nur irgend Gelegenheit geboten war; oft erst da sein Ziel findend, wo die Kleinheit des Gebietes überhaupt eine weitere Ausscheidung autonomer Gestaltungen nicht mehr gestattete, machte er fast überall wenigstens so weit sich geltend, bis ihm mit Verengerung der Kreise das Streben der einzelnen Gewalten nach Schaffung geschlossener landeshoheitlicher Gebiete das Gegengewicht zu halten im Stande war.
Dieser Prozess konnte sich ohne zu grosse äussere oder innere Störungen vollziehen, weil er noch lange geschirmt war durch den nicht plötzlich zusammenbrechenden, sondern langsam zerbröckelnden gewaltigen Bau, welchen die Väter gefügt hatten; nicht durch eine gewaltsame Umwälzung wurden die Vorlande des Reiches uns entfremdet, sondern durch eine schrittweise bis auf unsere Zeiten sich fortsetzende Verschiebung der Machtverhältnisse, welche lange andauern konnte, bis man erkannte, dass sie an den eigenen Gränzen nicht einhalten werde; und ebenso konnten noch geraume Zeit die Reste der einheitlichen Reichsgewalt genügen, um die kleinern staatlichen Kreise gegen den mächtigern Nachbarn zu schützen, ihre völlige Unfähigkeit, den umfassendern [10] Aufgaben des Staatslebens zu entsprechen, veniger auffallend hervortreten zu lassen. Als dann das Bedürfniss nach aussen und nach innen sich immer fühlbarer machte, schien es nicht mehr möglich, den Rückweg zu finden, vom Einzelnen aufsteigend es für die nöthigen Bedürfnisse der Einheit wieder in grössere naturwüchsige Gliederungen zusammenzufassen, die neue Form zu schaffen, welche den Bedürfnissen des Ganzen Rechnung trug, ohne den Sonderinteressen unnöthige Gewalt anzuthuen. Die blosse Vereinzelung würde den Rückweg nicht abgeschnitten haben; aber zu der Vereinzelung trat die ungleich bedenklichere Spaltung; und die im Wesen und der Geschichte der Nation wurzelnden Grundlagen einer gesunden Gliederung, welche die Vereinzelung wohl wirkungslos werden liess, ohne aber eine Rückkehr zu ihnen auszuschliessen, wurden gebrochen durch das Streben mächtigerer Einzelstaaten, welche das Bedürfniss der Einigung anfangs weniger fühlend, die üblen Folgen der Vereinzelung, nicht im Interesse des Ganzen zu heben, sondern vor allem für die Zwecke eigener Vergrösserung auszubeuten bedacht waren. Und so hatte ein grosser Theil der Nation nicht allein den Verlust der äussern Machtstellung zu beklagen; es war ihm ferner auch das versagt, wofür er jene geopfert hatte, die staatliche Selbstständigkeit in engeren, durch gleiche Sonderinteressen geeinigten Kreisen; was man einst den grossen Zwecken des Reichs verweigerte, das musste man nun in weit höherem Grade, als jene es erfordert hätten, den Sonderinteressen von Einzelbildungen gewähren, ohne durch das Bewusstsein der Förderung gemeinsamer Aufgaben der Nation dafür entschädigt zu sein.
Letzteres werden freilich diejenigen nicht zugestehen, welche an diese spätere Entwicklung anknüpfend die Ansicht vertreten möchten, ein den Bedürfnissen der Nation entsprechendes Staatswesen sei nur von dem allmähligen Aufgehen derselben in einen einheitlich gestalteten Einzelstaat zu erwarten. Dass aber unsere Geschicke sich in einer Entwicklung vollenden sollten, welche von ursprünglich slavischem Boden ausgehend, in schroffstem Gegensatze zu den Richtungen steht, welche von jeher das deutsche Staatsleben beherrschten, einer Entwicklung, welche auch in möglichst vollendeter Durchführung weder den äussern noch innern Bedürfnissen der Nation genügen, unzweifelhaft nur den Uebergang zum völligen Abtreten derselben von ihrer weltgeschichtlichen Laufbahn bezeichnen könnte, möchte doch schwerlich zu erwarten sein; wohl aber um so mehr zu fürchten, dass das Streben nach solcher Entwicklung, nach einem Staate, wie er den, zwar am wenigsten in unseren nationalen Anschauungen wurzelnden, aber unserer Zeit geläufigsten Theorieen gemäss sein sollte, das grösste Hindemiss sein dürfte für ein den nöthigsten Bedürfnissen genügendes Gesammtstaatswesen, wie wir es haben könnten. Eine Erwägung des seitherigen Verlaufes unserer Geschichte wird uns eher den Gedanken nahe legen müssen, dass jeder nur die Nation und ihre nächsten Interessen ins Auge [11] fassende, sich auf sie beschränkende Versuch zur Wiederherstellung unseres Staatswesens wenig Aussicht auf Erfolg haben, dass auch eine engere politische Einigung der Nation erst ermöglicht werden könne durch Wiederaufnahme und Lösung der verlassenen universalen Aufgaben, dass sie nur gelingen dürfte unter dem Schutze einer die Ruhe des Welttheiles, wie einst das Kaiserreich, sichernden äussern Machtstellung. An Bausteinen fehlt es nicht; deutschen Herrschern gehorchend oder auf deutsche Hülfe angewiesen erfüllen die Einzelbildungen noch immer die ganze Mitte des Welttheils, nicht zurückbleibend hinter dem Umfange des Reiches, das einst gewesen, da die Gunst des Geschickes im Osten das reichlich ersetzte, was im Westen schon den neuen Herrn gefunden hat. Aber wo wäre der ernstliche Wille mit zeitweisem Verzicht auf Sonderzwecke der verschiedensten Art die Wiederfügung des gewaltigen Gebäudes zu versuchen?
In einer Zeit, welche der Entscheidung zuzudrängen scheint, welche bestimmt sein könnte, den traurigen Schluss der niedergehenden Laufbahn unseres Volkes zu sehen oder aber den Beginn eines neuen Steigens, einer Zeit, in welcher unser Heil von dem richtigen Erfassen und der thatkräftigen Durchführung ähnlicher Aufgaben abzuhängen scheint, wie einst die Väter sie lösten, wird sich jedem, welchen Neigung und Beruf auf die Beschäftigung mit der Geschichte der Nation verweisen, das Bedürfniss nach möglichst eingehender Erkenntniss der vielgegliederten Gestaltung des alten Reiches, der Grundlagen seiner Macht, der Ursachen seines spätern Verfalles doppelt geltend machen; selbst dann, wenn er so manchen Erfahrungen gegenüber kaum mehr darauf hoffen mag, dass solche Erkenntniss noch viel dazu beitragen könne, für die Lösung der grossen Aufgaben den Blick zu schärfen, den Willen zu stärken. So eng die Kreise gezogen sein mögen, deren Erforschung er zunächst sich widmete, von Zeit zu Zeit wird ihm dennoch das Bedürfniss nahe treten müssen, aufschauend vom Einzelnen und Einzelnsten den Blick dem Ganzen zuzuwenden, sich die Frage zu stellen nach den Gründen des Verfalles der Macht und der Einheit des grossen Vaterlandes. Oft wurde sie aufgeworfen und oft beantwortet; und nicht gerade jeder wird sich die Aufgabe stellen müssen, nochmals ganz auf eigenen Füssen stehend die Lösung des Ganzen zu versuchen. Wohl aber wird er sich veranlasst fühlen zu prüfen, ob Einzelnes, das er erforschte, nun auch sich einfügt der Gesammtentwicklung unserer Geschichte, wie er und andere sie sich bisher gedacht haben; vielfach mag er sich dann genöthigt sehen zu ändern an einzelnen Zügen des Bildes und wieder zu ändern; was er unberührt liess, wird die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen, das Ganze sich dadurch vielleicht zeitweise mannichfach verschieben und verrücken bis der Meister kommt, dessen ordnende Hand ein neues harmonisches Gesammtbild herzustellen weiss. [12] Der deutschen Verfassungsgeschichte zumal, welche für die Beantwortung jener Frage vor allem ins Gewicht fällt, dürfte es nur förderlich sein, dass nicht jeder Forscher sich berufen fühlt, das ganze Werk von den urgermanischen Wäldern ab einer neuen Bearbeitung zu unterziehen, dass er sich bescheidet hier oder da, wie sich der Anlass bietet, forschend einzugreifen, einzelne Punkte mit möglichster Sorgfalt festzustellen, von den neugewonnenen Anhaltspunkten aus dann prüfend Näherliegendes in den Bereich seiner Untersuchungen zu ziehen. Was für die gerundete Darstellung nothwendiger Ausgangspunkt ist, wird es nicht immer für die Forschung sein können. Ihre Hülfsmittel sind nirgends dürftiger und unsicherer, als für die Feststellung der Anfänge der geschichtlichen Entwicklungen; so redlich der Forscher auch bemüht sein mag, beim Weiterschreiten den Rückblick nicht zu vergessen, und da, wo die Weiterentwicklung dem angenommenen Ausgangspunkte nicht mehr zu entsprechen scheint, bei diesem selbst einer andern Auffassung Raum zu gewähren, so liegt doch immer die Gefahr überaus nahe, dass ein auf der Mangelhaftigkeit der ältesten Quellen beruhender Irrthum auch auf die Darstellung neuerer Zustände bestimmenden Einfluss üben möge, eine Gefahr, welcher derjenige weniger ausgesetzt ist, welcher nicht den ganzen Verlauf verfolgt, sich auf Einzelnes beschränkt und seine Ausgangspunkte da sucht, wo ihm reichere und zuverlässigere Zeugnisse von vornherein die Gewinnung eines festeren Haltes ermöglichen.
Allerdings kann es scheinen, als müsse es gerade auf dem Gebiete der deutschen Verfassungsgeschichte bei umsichtigem Vorgehen nicht so gar schwer seien, den verbindenden Faden im Auge zu behalten. Denn die deutsche Geschichte zeigt uns in ihrem ganzen Verlaufe nur Umgestaltungen, keine Umwälzung der Verfassung; die Reichsverfassung, welche erst in unserem Jahrhunderte zu Grabe getragen wurde, es war immer noch dieselbe, welche auch vor tausend Jahren schon bestand; gealtert freilich und sehr gealtert und kaum noch kenntlich nach den Veränderungen so vieler Jahrhunderte; aber niemand würde doch auch anzugeben wissen, wann eine frühere Verfassung aufgehört, eine neuere begonnen habe. Und was für die Gesammtheit der Verfassung gilt, gilt auch für ihre einzelnen Theile. Waren spätere Geschlechter geneigt, diese und jene Einrichtung in ihrem Entstehen an bestimmte Zeitpunkte zu knüpfen, sie auf die gesetzgeberische Thätigkeit einzelner Kaiser zurückzuführen, so hielten solche Annahmen durchweg die Probe kritischer Forschung nicht aus; es ergab sich vielmehr, dass die gesetzgeberische Thätigkeit der Reichsgewalt, wenige Ausnahmen abgerechnet, eine überaus geringe war. Zumal in den Jahrhunderten, in welchen das politische Leben des Reichs am reichsten entwickelt war; überblicken wir die ganze Reihe der Denkmale, aus welchen die Kunde der Verfassung jener Zeit zu schöpfen ist, so geben sie ganz überwiegend Zeugniss wohl für das Bestehen, nicht aber für das Entstehen einer [13] Satzung; zumeist sind es Sprüche, ergangen vor dem Reiche über das, was bisher als Recht gegolten, was demnach auch für den Einzelfall als Recht zu gelten habe. Da selbst, wo ausnahmsweise eine anscheinend neue Gesetzgebung vorzuliegen scheint, ergibt sich fast durchweg bei eingehender Prüfung, wie wenig es sich dennoch um eigentlich neue Satzungen handelte, wie nur Zerstreutes zusammengefasst, thatsächlich bereits zu Rechte Bestehendes nun auch förmlich anerkannt wurde.
Und dennoch würden wir irren, wenn wir uns die Aenderungen, welche unsere Verfassung erlitt, als wenig durchgreifend und nur sehr allmälig erfolgend dächten. Ganz im Gegenteile; sie erfolgten zum Theile in verhältnissmässig kurzen Zeiträumen, waren zum Theile der allerdurchgreifendsten Art, und nichts ist bedenklicher, als davon auszugehen, dass staatsrechtliche Zustände, weil wir finden, dass sie zu dieser oder jener Zeit nicht allein bestanden, sondern auch der Meinung der Zeitgenossen nach von jeher so bestanden haben sollen, nun auch für frühere Zeiten als massgebend anzunehmen seien. Dass nach uraltem Herkommen des Reiches sieben Fürsten vor allen auserkoren seien, den Konig zu wählen, dass ihre Einwilligung genüge, aber auch nöthig sei, um seinen Handlungen Gültigkeit zu verleihen, hat schon bei den Anfängen König Rudolfs niemand mehr bezweifelt; und doch finden wir kaum ein halbes Jahrhundert früher nach den unzweideutigsten Zeugnissen ein Wahlrecht aller Fürsten, sind nicht im Stande, einen Vorzug des einen Fürsten vor dem andern bei der Einwilligung zu Reichsgeschäften nachzuweisen; und glauben wir damit auf Altergebrachtes gekommen zu sein, so dürfen wir wieder um kein Menschenalter zurückgreifen, um ein auf ganz verschiedenen Grundlagen beruhendes Fürstenthum zu finden. Wo das Recht von einer höhern gesetzgebenden Gewalt weder ausgeht, noch auch nur von ihr fixirt wird, wo es in der rechtsbildenden Thätigkeit der einzelnen Rechtskreise selbst wurzelnd nur in der mündlichen Ueberlieferung und der tatsächlichen Uebung fortlebt, da wird auch der weiteste Spielraum zu rascher Fortentwicklung desselben gegeben sein, ohne dass damit zugleich die Achtung vor dem Rechte als dem von jeher bestehenden und hergebrachten erschüttert würde. Der gesunde Rechtssinn der Nation wird sich eben so sehr, wie in der Achtung vor dem Bestehenden, zugleich in der Fähigkeit zeigen, dennoch die Wege zu finden, mit der thatsächlichen Entwicklung gleichen Schritt zu halten, das Recht den geänderten Zuständen, den zeitweiligen Bedürfnissen gemäss weiterzubilden und umzubilden, ohne dass bei schrittweisem Vorgehen die Mitlebenden sich dessen auch nur bewusst würden; den Rechtszustand, wie er eben thatsächlich besteht, werden sie sich immer zugleich als den der Vergangenheit denken müssen. Wenn der spätere Forscher beim Vergleiche vereinzelter, oft kein Menschenalter auseinanderliegender Zeugnisse bald gewahrt, wie erheblich in der Zwischenzeit das Recht sich geändert haben müsse, so fehlt dem Zeitgenossen die Veranlassung zu solchem Vergleiche; er [14] muss ja glauben, dass ein and dasselbe Recht ihn auf seinem Lebenspfade begleitete, weil er sich keines Zeitpunktes zu erinnern weiss, wo das Recht ein anderes geworden wäre. Nicht Gesetze und Theorieen waren es, durch welche die rechtlichen Verhältnisse geschaffen und umgebildet wurden; das Gewicht der thatsächlich geänderten Zustände war das Bestimmende, es führte unwillkürlich die Aenderungen im Rechte herbei; Gesetz und Theorie kamen gewöhnlich erst hintennach, um das auf dem Boden der Thatsachen Erwachsene in bestimmte Formen zu fassen, häufiger unzweifelhaft den Endpunkt, als den Ausgangspunkt der Entwicklung bezeichnend.
In dieser Verbindung von stätiger und doch unaufhörlich fortschreitender Entwicklung liegt ohne Zweifel die grösste Schwierigkeit für die Behandlung der deutschen Verfassungsgeschichte. Wo nie ein völliger Bruch mit der Vergangenheit durch gewaltsame Umwälzung oder gesetzgeberische Thätigkeit erfolgt, das Spätere überall im Früheren wurzelt, da gibt es auch keine Gränze für das Fortwirken einer einmal in die Darstellung aufgenommenen irrigen Ansicht. Und wieder bringt es die Veränderlichkeit mit sich, dass der Forscher, sei sein Ausgangspunkt auch noch so richtig, gar bald den Boden unter den Füssen verliert, wenn er sich nicht durch ein fortgesetztes genaues Prüfen der Thatsachen überzeugt, dass die für eine frühere Zeit erwiesene Rechtsanschauung sich wirklich in späterer noch als geltend erweist; den einmal entschlüpften Faden wieder aufzugreifen wird ihm oft nur mit grosser Mühe gelingen.
Und noch ein anderes, die Aufgabe sehr erschwerendes Moment tritt hinzu in der grossen Mannichfaltigkeit örtlicher Entwicklung, welche auch im öffentlichen Rechte nicht blos in untergeordneten Kreisen zur Geltung kam, sondern bis zu den höchsten Ordnungen des Reiches hinauf den gewichtigsten Einfluss übte; verwirrender noch, als das Uebersehen des Unterschiedes der Zeit, kann ihre Nichtbeachtung in die Forschung eingreifen. Nichts bedenklicher, als der Schluss, weil der König hier ein Recht übt, steht es ihm auch dort zu, weil dieser Herzog mit fast königlicher Machtvollkommenheit gebietet, kann die Stellung jenes andern nicht blos die eines Ersten unter Gleichen sein. Ist nun aber bei Erörterung solcher Fragen nicht blos der Unterschied der Zeit im Auge zu halten, ist die Untersuchung zugleich vielfach für jede der weiteren und engeren Gliederungen des grossen Reichskörpers besonders zu führen, ist der Schluss von dem Einzelnen auf das Allgemeine nur bei grösster Behutsamkeit zu rechtfertigen, so stellt sich die Erforschung des Gesammtgebietes der Geschichte der Reichsverfassung als eine Aufgabe dar, welche ganz selbstständig zu lösen kaum die Sache eines einzelnen Menschenlebens sein kann. Gebührt denen unser aufrichtigster Dank, welche sich der schwierigen Aufgabe unterzogen, wenigstens die Umrisse des Ganzen nach dem jedesmaligen Stande der Wissenschaft zu zeichnen und so den Haltpunkt für weitere Ausführung [15] zu geben, wäre es undankbar und kleinlich, ihr Werk nicht blos ergänzen und berichtigen, sondern bemäkeln zu wollen, weil sie, den Blick auf das grosse Ganze gerichtet, nicht jeden einzelnen Faden gehörig im Auge behalten konnten: so ist gewiss auch nicht zu läugnen, dass vielfach nur erst sehr ungenaue Umrisse vorhanden sind, dass noch auf lange hin zu thuen ist, bis sich uns die vielgegliederte Fügung und Entwicklung der Reichsverfassung so bestimmt darstellen wird, wie sie überhaupt nach den vorhandenen Quellen noch erkennbar sein dürfte.
Ein Theil unserer Verfassungsgeschichte, welcher bei seinem engsten Zusammenhange mit allen einigenden und auseinanderhaltenden Richtungen im deutschen Staatsleben für die Einsicht in den Gesammtverlauf von besonderer Wichtigkeit sein muss, und doch eingehender Prüfung noch sehr bedarf, scheint mir insbesondere die Lehre vom Reichsfürstenstande zu sein. Wer zu den Reichsfürsten gezählt wurde, welcher Vorrechte sich dieselben erfreuten, welche Pflichten sie zu erfüllen hatten, auf welche Voraussetzungen sich ihr Vorrang stützte, welche zeitliche und örtliche Unterschiede sich dabei geltend machten: diese und manche sich daran knüpfende scheinen mir Fragen, welche trotz ihrer Wichtigkeit aus den bisherigen Bearbeitungen unserer Verfassungsgeschichte nicht mit genügender Sicherheit zu beantworten sind.
Dass die Zeiten der noch bestehenden Reichsverfassung nicht geeignet waren für eine unbefangene Prüfung solcher Fragen, liegt auf der Hand. Ihre Erörterung musste allerdings doppelt nahe liegen, so lange die Stätigkeit der Entwicklung der Reichsverfassung noch ununterbrochen fortdauerte, ihre Geschichte zugleich die Beweismittel für das Recht in sich schloss, welches der einzelne Stand im Reiche beanspruchte, eine Reihe der wichtigsten Streitfragen nur auf sie gestützt entschieden werden konnten; und die Reichspublizisten haben sich denn auch genugsam mit ihnen beschäftigt. Aber gerade das juristische Interesse, welches sich an sie knüpfte, musste einer unbefangenen Würdigung der ältern geschichtlichen Verhältnisse fast unübersteigliche Hindernisse in den Weg legen. Je weniger die Gestaltung der spätern Reichsverfassung im allgemeinen wie im einzelnen den ältern Rechtsgrundlagen entsprach, je mehr diese vergessen oder verschoben und damit auch die begründetsten Einzelrechte in Vergessenheit gerathen waren, die unbegründetsten sich zweifelloser Anerkennung erfreuten, während doch noch immer der grösste Werth darauf gelegt wurde, das thatsächlich geübte Recht zugleich als althergebrachtes nachzuweisen, es an die Verfassung der ältesten Zeit anzuknüpfen: um so mehr mussten auch die zunächst von juristischen Gesichtspunkten ausgehenden Erörterungen solcher Fragen die geschichtliche Erkenntniss häufiger irre leiten, als fördern. Dem Rechtsanwalt waren eben jene Schwierigkeiten, welche den Forscher abschrecken, willkommen; die Haltpunkte, welche er für seine Deduktion gebrauchte und welche sich ihm in dieser Zeit, in diesem Lande, in dieser Beziehung nicht darboten, wusste er anderswo [16] zu finden; bei der übergrossen Mannichfaltigkeit der Entwicklung konnte es nicht schwer sein, Beweise für alles herbeizuschaffen, was eben bewiesen werden sollte. Und trafen solche Bestrebungen auf Kernpunkte der Verfassungsgeschichte, so musste sich daraus ein völliges Zerrbild dieser mit Nothwendigkeit ergeben; man möge beispielsweise etwa den Ungereimtheiten nachgehen, welche sich durch die Werke eines der berühmtesten Publizisten, des Kanzlers von Ludewig, doch aus keinem andern Grunde hinziehen, als weil er sich im Interesse seines Hofes berufen fühlte, den kühnen Satz von der Entstehung der fürstlichen Landeshoheit mit dem Ausgange der Karolinger aufzustellen und festzuhalten. Wir werden im Verlaufe unserer Untersuchung zu manchen von einem unbefangenen geschichtlichen Standpunkte aus sich mit zweifelloser Bestimmtheit darbietenden Ergebnissen gelangen, welche noch im vorigen Jahrhunderte die wichtigsten Rechte, selbst die ganze staatsrechtliche Stellung manches Reichsstandes in ihren geschichtlichen Grundlagen untergraben hätten. Und wäre auch kaum zu erwarten gewesen, dass wissenschaftlich noch so wohl begründete Behauptungen den tatsächlich bestehenden Rechtszustand im allgemeinen hätten gefährden können, so würden dieselben doch unzweifelhaft dem lebhaftesten Widerspruche schon desshalb begegnet seien, weil sich nie absehen liess, in wie weit sie in Einzelfällen bei den sich jeder Vorherberechnung entziehenden Rechtshändeln der Reichsstände eine Rückwirkung würden üben können.
Seit die Umwälzungen unseres Jahrhunderts einen völlig neuen Rechtsboden geschaffen, haben jene Fragen ihr juristisches Interesse fast ganz verloren; finden sich auch immerhin noch einige Fäden, durch welche unser öffentliches Recht an die alte Reichsverfassung anknüpft, sind jene Fragen bei einzelnen Streitigkeiten auch jetzt nicht ganz zu umgehen, so sind das Einzelfälle, welche die Unbefangenheit wissenschaftlicher Prüfung im allgemeinen kaum mehr beeinträchtigen dürften. Die von uns aufgeworfenen Fragen sind seitdem mehrfach besprochen, indem theils die Verhältnisse des Fürstenstandes im allgemeinen, theils die rechtliche Stellung einzelner grosser Familien erörtert wurden. Die allgemeinern Untersuchungen über den Reichsfürstenstand sind aber doch keineswegs zu einem irgend befriedigenden Abschlusse gebracht, wie das kaum befremden kann, da der Gegenstand, abgesehen etwa von Hüllmanns Untersuchungen über den Ursprung der Fürstenwürde, nur im Zusammenhange mit andern und ohne dass besonderes Gewicht auf ihn gelegt worden wäre, behandelt wurde; zeitliche und örtliche Unterschiede wurden zu wenig gewürdigt; es fehlt insbesondere noch an einer festen Bestimmung der Gränzlinie, welche den Reichsfürsten von dem blossen Magnaten oder freien Herren schied, so zwar, dass weder die Vorrechte des Fürsten vor diesem schärfer festgestellt, noch auch die Kennzeichen nachgewiesen wären, aus denen sich der Fürstenstand der einzelnen Grossen in früherer Zeit mit Sicherheit ergibt. So [17] lange aber diese Aufgabe ungelöst blieb, waren von den Untersuchungen über einzelne grosse Geschlechter genügende Ergebnisse für das Ganze kaum zu erwarten, zumal hier, wie sich aus Beispielen leicht erweisen liesse, eine gewisse Befangenheit der Forschung auch jetzt noch nachtheilig einwirken musste. Ihre Gründe liegen nahe, wenn wir bedenken, dass Veranlassung zu solchen Untersuchungen vorzugsweise bezüglich noch herrschender oder doch noch blühender Geschlechter gegeben war, dass auch da, wo unmittelbarere Beweggründe nicht vorauszusetzen sind, schon der Lokalpatriotismus, vielleicht auch nur die Vorliebe für den gewählten Einzelstoff, geneigt machten, die noch nicht genügend festgestellten Gränzen des ältern Fürstenstandes wo möglich so weit zu ziehen, dass auch die Vorfahren des Geschlechtes Raum darin finden können. Gälte es hier lediglich, im Interesse der einzelnen Familiengeschichten die Kennzeichen aufzusuchen, nach welchen sich bestimmen lässt, ob und seit wann in der Reihe der Ahnen der Fürstenstand nachweisbar ist, so dürfte der Historiker das billig solchen überlassen, welche darauf Werth zu legen besondere Veranlassung haben; und zwar um so mehr, als Genealogen und Publizisten älterer und neuerer Zeit hinlänglich dafür gesorgt haben, dass eine unbefangene Forschung dabei in der Regel nicht auf Ergebnisse zu gelangen hoffen darf, durch welche ihr die Betheiligten zu Danke verpflichtet sein könnten.
Fanden wir die Veranlassung zu unsern Untersuchungen lediglich in der Absicht, die Erkenntniss der frühern Reichsverfassung durch Erörterung eines ihrer wichtigsten Bestandtheile zu fördern, so wird es sich rechtfertigen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise der Zeit zuwenden, in welcher das Reichsfürstenthum zu seiner vollsten Entwicklung gelangte, den weitgreifendsten Einfluss auf die Leitung der Reichsgeschäfte gewann.
Als solche wird sich bald die Periode der staufischen Kaiser ergeben. Wir finden zumal während der Regierungen der spätern Staufer eine scharfgeschlossene Anzahl geistlicher und weltlicher Grossen, welche als Fürsten des Reiches die gewichtigsten Vorzüge vor allen übrigen geniessen, während unter ihnen selbst eine weitere Rangabstufung nicht stattfindet; die Reichsgewalt liegt überwiegend in ihrer Hand, insofern ihnen das Recht zusteht den König zu wählen und ihre Einwilligung für alle wichtigern Entscheidungen über Reichsangelegenheiten erforderlich ist. Diese ihre bevorzugte Stellung suchen sie gleichzeitig dazu zu benutzen, ihre fast nur noch auf der Lehnsverbindung beruhenden Verpflichtungen gegen das Reich möglichst zu mindern, jeden unmittelbaren Einfluss des Königs auf die ihnen unterstehenden Sprengel möglichst auszuschliessen, innerhalb dieser dagegen die Schranken, welche ihnen die Satzungen des Lehnrechts noch zogen, zu beseitigen, sie aus Lehnsstaaten in Beamtenstaaten zu verwandeln und so die fürstliche Landeshoheit zu begründen.
[18] Schon in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts ist das Gewicht des Fürstenstandes bedeutend abgeschwächt; er hat seine wichtigsten Vorrechte, die der Königswahl und der entscheidenden Einwilligung zu Reichsgeschäften, verloren; sie sind übergegangen auf das Kollegium der sieben Kurfürsten, welche nun fast ausschliesslich den Einfluss auf die Reichsregierung üben, welcher früher der Gesammtheit des Fürstenstandes zukam. Damit verlor sich überhaupt die vorwiegende Bedeutung des letztern, wenn ihm auch noch manche Vorrechte zustanden; die Erhebungen in den Fürstenstand, früher nur ganz vereinzelt und gleichsam nur als formelle Anerkennung einer bereits vorhandenen fürstenmässigen Stellung vorkommend, mehren sich im vierzehnten Jahrhunderte; die Rechtsgrundlagen, auf welchen der Fürstenstand früher beruhte, gerathen in Vergessenheit; ohne Widerspruch zu finden war es schon möglich, dass einzelne Grosse ohne Standeserhöhung Fürstentitel und Fürstenrecht in Anspruch nahmen, während der Fürstenstand anderer in Vergessenheit gerieth; die Gränzlinie zwischen den Fürsten und andern Grossen, welchen es gleich ihnen gelungen war, die Landeshoheit zu erringen, wurde immer schwankender, und erst in einer Zeit, wo die ursprünglichen Grundlagen völlig verschoben waren, suchte man sie wieder festzustellen.
Wenden wir den Blick rückwärts, so ergibt sich bald, dass die hervorragende Stellung der Reichsfürsten in späterer staufischer Zeit keine althergebrachte war. Noch in den Zeiten des ersten Friedrich finden wir den Fürstenstand, insbesondere bezüglich seiner weltlichen Mitglieder, ungleich weiter ausgedehnt; weniger scharf abgegränzt freilich, aber doch so, dass er als besonderer Stand recht wohl erkennbar wird; anschliessend vorzüglich an den alten Amtstitel des Grafen, scheint er in seiner damaligen Abgränzung auf die älteste Verfassung des Reichs zurückzugehen; das sich allmählig mehrende Mass seiner Befugnisse scheint schliesslich wesentlich dasselbe gewesen zu sein, welches auch dem spätern, engerbegränzten Fürstenstande zustand, dann zum grossen Theile auf die Kurfürsten überging, ohne dass freilich bei der überaus grossen Zahl seiner Mitglieder dasselbe sich in gleich einflussreicher Weise hätte geltend machen können.
Es wird sich demnach rechtfertigen, wenn wir bei unseren Untersuchungen vorzugsweise das zwölfte und dreizehnte Jahrhundert ins Auge fassen, welche die Entwicklung, den Höhepunkt und den Beginn des Verfalles der Bedeutung des neuern oder, wenn wir wollen, eigentlichen Fürstenstandes in sich schliessen, während zugleich der weniger wichtige ältere Fürstenstand weit genug in diese Zeit hineinreicht, um seine Verhältnisse aus den Denkmalen derselben genügend erkennen zu lassen. Doch werden wir uns nicht gerade streng auf jenen Zeitraum beschränken. Um die Grundlagen, auf welchen der Fürstenstand und seine Vorrechte beruhen, bis zu den ersten Entwicklungsstufen zu verfolgen, werden wir häufig in frühere Zeiten zurückgreifen müssen. Sind [19] die späteren Zustände des Fürstenthums für unsern Gesichtspunkt von untergeordneter Wichtigkeit, könnte es diesem genügen, nur vorzugehen bis zum Verfalle seiner ursprünglichen Bedeutung, so wird es der stätige Gang der Entwicklung der deutschen Reichsverfassung häufig rathsam machen, auch auf die Zustände der letzten Jahrhunderte einen Blick zu werfen, da wir immerhin hoffen dürfen, auch aus ihnen einiges für frühere Zeiten lernen zu können.
Bezeichneten wir das dreizehnte Jahrhundert als die vorzugsweise beachtenswerthe Zeit der vollsten Entwicklung des Reichsfürstenstandes, so muss es scheinen, als seien wir gerade über die damaligen Verhältnisse genügend unterrichtet. Die damals entstandenen Rechtsbücher bieten uns eine Theorie vom Fürstenstande, wie wir sie für andere Zeiten leider vermissen, welche denn auch den Darstellungen des ganzen Instituts in unseren Verfassungsgeschichten zu Grunde gelegt zu werden pflegt. Und gewiss mit Recht; nirgends ist uns ein Anhaltspunkt von nur annähernd gleicher Wichtigkeit geboten. Aber ist damit das, was zu wissen nöthig und zu wissen möglich, bereits erreicht? Vor allem wird sich das, durch eine auch nur oberflächliche Vergleichung anderer Denkmale leicht zu rechtfertigende Bedenken aufdrängen, ob die hier aufgestellten Grundsätze wirklich überall dem tatsächlich bestehenden Rechtszustande entsprachen. Wären die Rechtsbücher, wenn auch nur als Privatarbeiten, aus der Reichskanzlei hervorgegangen, so würden wir kaum Grund haben, an solcher Uebereinstimmung zu zweifeln; aber dem sächsischen Schöffen, dem süddeutschen Rechtsgelehrten, so genau sie auch über das Recht ihrer Grafschaft, ihrer Stadt unterrichtet sein mochten, standen doch kaum die Mittel zu Gebote, eine gleiche Einsicht in die Gesammtheit des Reichsstaatsrechtes zu gewinnen. Liegt nicht die Vermuthung überaus nahe, dass sie von den staatsrechtlichen Verhältnissen des ihnen zunächst bekannten Kreises ausgehend dieselben willkürlich auf das Reichsganze übertrugen? dass sie sich, und auch dafür scheinen Andeutungen nicht zu fehlen, versucht fühlten, Einzelnes, von dem sie oder ein Gönner wünschten, dass es als Recht angesehen werden möge, als wirklich bestehendes Recht darzustellen? Wohl scheint uns in dieser Richtung der Umstand eine gewisse Gewähr zu bieten, dass die beiden Spiegel in verschiedenen Reichslanden entstanden; aber sie wird wieder dadurch verkürzt, dass dem Süddeutschen die Arbeit des Sachsen vorlag und es fraglich bleibt, wo er der eigenen Einsicht, wo lediglich der Vorlage folgte. Erhebliche Unterschiede zwischen beiden, auch bezüglich des Reichsstaatsrechts, sind nicht zu verkennen; aber worauf beruhen diese? etwa darauf, dass uns dieser den Zustand in der ersten, jener in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts darstellt? oder ist nicht vielmehr das Gewicht darauf zu legen, dass der eine zunächst den Norden, der andere den Süden im Auge hat? Und überdiess, wie weit dürfen wir uns ihre Theorieen rückwärts und vorwärts wirksam denken, worin liegt der Grund, dass wir überall auf Schwierigkeiten [20] stossen, wenn wir danach etwa schon die Verhältnisse des zwölften Jahrhunderts bemessen oder sie noch mit Strenge für das vierzehnte festhalten wollen? Selbst angenommen, dass ihre Theorieen wenigstens für ihre Zeit vollkommen richtig sind, so werden sie doch schwerlich ausreichen, um alle Fragen, deren Beantwortung uns Bedürfniss ist, zu lösen; abgesehen von Vielem, das sie überhaupt unberührt lassen, genügen ihre Angaben nicht mehr, sobald es gilt, den allgemeinen Satz auf den Einzelfall anzuwenden; geben sie die allgemeinen Erfordernisse des Fürstenstandes an, so bieten sie nicht zugleich die Mittel zur Entscheidung, bei welchen einzelnen Grossen nun diese Erfordernisse zutrafen.
Dass dennoch für die Erörterung unseres Gegenstandes die Lehren der Rechtsbücher den Hauptanhaltspunkt bieten müssen, ist nicht zu verkennen, und eine Vergleichung ihrer Theorieen mit dem anderweitig bezeugten thatsächlichen Rechtszustande habe ich denn auch vorzugsweise im Auge. Aber eben desshalb glaube ich, sie um so weniger als genügend beglaubigten Ausgangspunkt hinstellen zu dürfen; um die Richtigkeit dessen prüfen zu können, was sie über Rechte und Erfordernisse des Fürstenstandes angeben, wird vor allem erforderlich sein, ganz unabhängig von ihnen zu untersuchen, wer Fürst war, und wer nicht. Wo wir dafür den Ausgangspunkt zu suchen haben, kann kaum zweifelhaft sein. Nur in der Reichskanzlei selbst werden wir die zuverlässigste, durch keine örtliche Verschiedenheiten beeinflusste Kenntniss und Beachtung der hier massgebenden Standesunterschiede voraussetzen können; die aus ihr hervorgegangenen Schriftstücke werden uns zur Richtschnur dienen müssen. Irgend Zusammenhängendes über unsern Gegenstand ist von dieser Seite freilich nicht erhalten; wie leicht wäre es den Reichsnotaren gewesen, das zusammenzustellen, was jedem Mitgliede der Kanzlei über die Reichsverfassung zu wissen nöthig war; wie sehr würden unsere Kenntnisse gefördert sein, hätten wir über die Regierung auch nur eines unserer Könige eine aus dessen Kanzlei hervorgegangene, und mit gleicher Kenntniss und Beachtung der Verhältnisse des öffentlichen Rechts abgefasste Darstellung, wie sie uns für einen engern Kreis die Aufzeichnungen des hennegauischen Kanzlers Giselbert bieten! Dass mancherlei bezügliche Aufzeichnungen vorhanden waren, wie sie das Bedürfniss der Kanzlei erforderte, ist nicht zu bezweifeln; aber sie haben das Geschick des Reichsarchivs getheilt. Geblieben ist dagegen zum grossen Theile die Reihe der aus der Reichskanzlei hervorgegangenen Urkunden; und finden wir hier in Gesetzen und Rechtssprüchen auch nur selten die für unsern Gegenstand wichtigen Rechtssätze und Regeln ausdrücklich ausgesprochen, so werden sie doch meistentheils ausreichen, um aus der wiederholten Anwendung in Einzelfällen auf dieselben zurückschliessen zu können. Ist hier ein fester, insbesondere von örtlichen Eigenthümlichkeiten unabhängiger Ausgangspunkt gewonnen, so werden wir mit grösserer [21] Sicherheit auch die Menge der übrigen Quellen zur Ergänzung herbeiziehen können.
Auf eine mit Strenge durchgeführte systematische Anordnung und Gliederung des zu behandelnden Stoffes dürfte da weniger Werth zu legen sein, wo es sich zunächst um Darlegung des Ganges der Forschung selbst handelt, nicht bloss um eine möglichst wohlgeordnete und zusammenhängende Uebersicht der gewonnenen Ergebnisse, wie sie späterhin auf Grundlage der gesammten Untersuchung folgen mag. Da es zudem nicht in meiner Absicht lag, mich streng auf den Hauptgegenstand zu beschränken, da ich nicht glaubte, der Besprechung von Fragen, welche mit diesem oft nur lose zusammenhängen, ausweichen zu sollen, wenn mich meine Untersuchungen auf dieselben hinführten und ich glaubte, zu ihrer richtigern oder erschöpfendern Würdigung einiges beitragen zu können, so musste auch dieser Umstand darauf hinwirken, dass die einzelnen Theile der Untersuchung oft nur lose verbunden erscheinen, der Hauptfaden derselben vielfach nur die Anknüpfungspunkte für eine Reihe von Einzelerörterungen bietet. Im allgemeinen wird der Gang der sein, dass wir zunächst festzustellen suchen, wer in verschiedenen Zeiten Reichsfürst war und wer nicht, ohne nach den innern Gründen für das eine oder das andere zu fragen; je weniger wir es uns hier verdriessen lassen, nur ganz äussern Kennzeichen, wie den urkundlichen Bezeichnungen der Grossen, der Rangordnung der Zeugen und ähnlichem nachzugehen, um so sicherer werden wir sein dürfen, dass die Ergebnisse nicht durch irgendwelche vorgefasste theoretische Meinung beeinflusst waren. Von der so gewonnenen Grundlage aus weiterschreitend, sie auch noch ergänzend und befestigend, wo die bisher benutzten Hülfsmittel nicht ausreichten, werden wir uns dann mit den Rechten und Pflichten der Fürsten beschäftigen, prüfen, in wie weit sich durch thatsächliche Uebung derselben die bezüglichen Angaben der Rechtsbücher bewähren, werden die Beziehungen der Fürsten zu den einzelnen Bestandtheilen der Gesammtverfassung verfolgen, uns zugleich aber auch der ganzen Breite der örtlichen Gliederungen des Reiches zuwenden, um so, so weit unser Gegenstand dafür Anknüpfungspunkte bietet, eine Einsicht zu gewinnen in die staatliche Gestaltung nicht bloss des Ganzen, sondern auch der einzelnen Länder und Fürstensprengel, in die sehr verschiedenen rechtlichen und thatsächlichen Grundlagen, auf welchen die Machtstellung der einzelnen Fürsten erwuchs. Erst dann werden wir in der Lage sein, uns Rechenschaft geben zu können, in wie weit die zunächst im Reichslehnrechte wurzelnde, örtlichen Unterschieden möglichst entrückte Lehre vom Fürstenstande, wie sie uns in den Rechtsbüchern erhalten ist, mit der Entwicklung der thatsächlichen Zustande übereinstimmt, für welche Zeit und in welchem Umfange sie Geltung beanspruchen kann, wie die Rechtsanschauungen, auf welchen sie beruht, sich entwickelten, wie sie verfielen.
{PRZU}} [22] Dabei überall auf ganz bestimmte und genügende Resultate zu gelangen, dürfen wir nicht hoffen, und die Ansicht, es sei möglich, hier keinen Zweifel und Widerspruch ungelöst zu lassen, könnte nur die Unbefangenheit der Forschung beeinträchtigen. Oft mag dabei die Schuld am Forscher liegen, welcher entweder Zeugnisse, welche die Entscheidung hätten geben können, übersah, oder auch die ihm bekannten nicht hinreichend auszubeuten verstand; und wenn ich bedenke, wie oft sich während der Arbeit meine Ansichten über einzelne Punkte geändert haben, wie manche schwer wiegende Belegstelle mir ganz zufällig bekannt wurde, so wäre es gewiss thöricht anzunehmen, jetzt das Erreichbare wirklich erreicht zu haben, und sich zu verhehlen, wie nahe der Schluss liegt, dass bei fortgesetzter Beschäftigung mit dem Gegenstande manche Meinung sich vielleicht wiederum ändern, manche wesentliche Lücke sich ergänzen würde. Aber nicht alle Unvollkommenheiten fallen dem Forscher zur Last. Denn einmal wäre es sehr gewagt, zu behaupten, dass unser Quellenvorrath hinreiche, um über jede sich darbietende Frage genügend zu entscheiden; es sind die Lücken der Ueberlieferung, welche vielfach die bestimmtesten Gränzen ziehen. Andererseits wird gerade bei Untersuchungen, wie die vorliegenden, wohl zu beachten sein, dass sich das staatliche Leben früherer Jahrhunderte doch keineswegs in so scharf abgegränzten, so fest geregelten Formen bewegte, wie das der Neuzeit; alles unter ein und dieselbe Formel bringen zu wollen, nicht mehr an die Regel zu glauben, wenn einzelne Abweichungen nicht zu läugnen sind, würde kaum der richtige Weg zur Erkenntniss sein; es ist nicht zu bezweifeln, dass wir manche Fragen des Reichsstaatsrechts nicht desshalb zu lösen ausser Stande sind, weil uns die Fähigkeit oder die Hülfsmittel dazu fehlen, sondern desshalb, weil diese Frage überhaupt rechtlich niemals gelöst war, da die thatsächlichen Verhältnisse zur Entscheidung darüber keinen Anlass gaben; die Erörterung wird dafür genügende Belege bieten. Und so musste es mir der Sache förderlicher erscheinen, oft lange Erörterungen lieber mit dem offenen Bekenntnisse zu schliessen, dass ich eine genügende Lösung nicht zu finden wisse, als durch einseitige und gezwungene Behandlung der Quellenzeugnisse zu scheinbar ausreichenden Resultaten zu gelangen. Vergeblich scheinen mir desshalb auch solche Erörterungen nicht zu sein; möglich, dass an sie anknüpfend Andere zu sicherern Ergebnissen zu gelangen wissen; sind diese überhaupt unerreichbar, so wird auch das nachgewiesen zu haben als ein die Mühe lohnender Erfolg betrachtet werden dürfen.
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