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Vigilien

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Rainer Maria Rilke
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Titel: Vigilien
Untertitel:
aus: Larenopfer. In: Sämtliche Werke, Band I, S. 48-49.
Herausgeber: Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1955
Verlag: Insel-Verlag
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Erscheinungsort: Frankfurt am Main
Übersetzer:
Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans auf den commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck 1895
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[48] VIGILIEN

I

Die falben Felder schlafen schon,
mein Herz nur wacht allein;
der Abend refft im Hafen schon
sein rotes Segel ein.

5
Traumselige Vigilie!

Jetzt wallt die Nacht durchs Land;
der Mond, die weiße Lilie,
blüht auf in ihrer Hand.

II

Am offnen Stubenfenster lehn ich

10
und träume in die Nacht hinauf;

das Mondlicht windet silbersträhnig
sich um den schwarzen Kirchturmknauf.

[49] Sehn wenig Welten aus den Fernen
auch durch den engen Hof ins Haus, –

15
es füllte Licht von zehen Sternen

ein ganzes, dunkles Leben aus.

III

Horch, der Schritt der Nacht erstirbt
in der weiten Stille;
meine Schreibtischlampe zirpt

20
leis wie eine Grille.


Goldig auf dem Bücherstand
glühn der Bände Rücken:
zu der Fahrt ins Feenland
Pfeiler für die Brücken.

IV

25
Sie hat, halb Kind, einst eine Nacht

beim toten Mütterlein verbracht
und hat geweint und hat gewacht; –
dann gingen Jahre, Jahre sacht:
nie hat sie jener Nacht gedacht.

30
Und dann kam eine andre Nacht.

Da hat von Glut und Sünd entfacht
die rote Lippe Lust gelacht,
doch plötzlich – wie durch höhre Macht
dacht sie der Nacht der Leichenwacht.