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Victor Hugo in Deutschland

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Victor Hugo in Deutschland
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 751–752
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Victor Hugo und der Frankfurter Dom
Blätter und Blüthen
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[751] Victor Hugo in Deutschland. Dies Blatt brachte unlängst eine Erinnerung an den Frankfurter Dombrand. Ein in Deutschland wenig bekanntes Buch, das sich dennoch fast ausschließlich mit Deutschland beschäftigt, enthält von berühmter Hand auch ein dem Frankfurter Dom gewidmetes Erinnerungsblatt, und wie man nach dem Hingange eines guten Freundes wohl durch das Auffinden eines Bildes, das ihn in seinen guten Tagen schildert, erfreut und erbaut wird, so mag sich Mancher beim Lesen der folgenden farbenreichen Skizze an das altehrwürdige Wahrzeichen der ehemaligen Kaiserstadt ansprechend erinnert fühlen. Der Mann, welcher den Umblick von der Plattform des Doms mit solchem Entzücken schildert, ist kein Geringerer als Victor Hugo. Freilich blickte er auf jene Theile [752] unseres Vaterlandes mit den Augen eines Verliebten. Hatte das ganze Buch „le Rhin“ den Zweck, Frankreichs Begehrlichkeit nach dem linken Rheinufer lebendiger zu entfachen, so schweifte Victor Hugo’s poetisches Auge auch, so Anziehendes lockte, auf das rechte Rheinufer hinüber und es hätte ihm kaum Bedenken gemacht, unter Berufung auf den Franken Charlemagne noch ein Stück Mainlinie zu annectiren. Glücklicherweise sind die Zeiten vorüber, wo uns solche Gelüste Verdruß bereiten konnten. Wenn Victor Hugo in jenem Buche den Franzosen „die Freiheit des Gedankens“ nachrühmte und uns mit „der Freiheit des Träumens“ abfand; wenn er prophetisch ausrief: „Frankreich wird die Königin der Welt sein, in seinen großen Schriftstellern wird die Welt künftig ihre Päpste erblicken“; wenn er endlich mit der Posaune schmetterte: „es giebt nur Eine Literatur, und das ist die französische“: so haben wir jetzt die Gemüthsruhe gewonnen, uns auch an solchen Capucinaden zu erlustigen, und brauchen uns nicht dadurch dasjenige verleiden zu lassen, was sein Genius in bessern Stunden zu Tage förderte.

Victor Hugo schreibt: „Ich wollte den Thurm besteigen. Der Glöckner, der mir in der Kirche als Führer gedient hatte, aber kein Wort Französisch versteht, hat mich bei den ersten Treppenstufen verlassen, und so bin ich allein hinaufgestiegen. Oben angelangt, habe ich die Treppe durch ein Eisengitter abgesperrt gefunden; ich bin also übergeklettert. Nachdem dies geschehen war, befand ich mich auf der Plattform des Pfarrthurms. Dort bot sich mir ein reizendes Schauspiel. Ueber meinem Kopfe die schönste Sonne; zu meinen Füßen die ganze Stadt; links der Römerplatz, rechts die Judengasse, gleichsam eine lange und unbiegsame schwarze Fischgräte zwischen den weißen Häusern; hier und da die Thürme einiger leidlich erhaltenen alten Kirchen; zwei oder drei hohe Warten mit kleinen Seitenthürmchen und dem steinernen Frankfurter Adler und wie ihr Echo drei oder vier alte Wachtthürme am fernen Horizont, ehemals die Grenzmarken des kleinen Freistaats; hinter mir der Main, ein silbernes Tuch, in welches das Furchenziehen der Schiffe goldene Streifen wob; die alte Brücke mit den Dächern von Sachsenhausen und den rothen Mauern des alten deutschen Hauses; rings um die Stadt ein dichter Gürtel von grünen Bäumen; über diese hinaus ein großes Rund von sanften Ebenen und Ackerfeldern, begrenzt durch die blauen Höhenzüge des Taunus.

„Während ich träumte, ich weiß selber nicht, was, gelehnt gegen den Stumpf des drei Jahrhunderte alten Kirchthurms, haben sich die Wolken, vom Winde aufgejagt, bald hierhin, bald dorthin über den Himmel treiben lassen, so daß jeden Augenblick große Stücke Himmelblau sichtbar wurden und wieder verschwanden und unten auf der Erde breite Licht- und Schattenmassen mit einander wechselten. Die Stadt und der ganze Gesichtskreis waren wirklich bewundernswürdig schön. Nie ist eine Landschaft reizvoller, als wenn sie ihr Tigerfell umgehängt hat.

Ich hatte mich auf dem Thurme allein gewähnt, und ich würde den ganzen Tag dort geblieben sein. Auf einmal höre ich neben mir ein Geräusch, ich wende den Kopf: ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren beobachtet mich lächelnd aus einem Mauerfensterchen. Ich wage mich also ein Stück weiter, klettere um eine Ecke des Pfarrthurmes und befinde mich plötzlich im Schooße der Thürmerfamilie, eines ganz artigen und glücklichen kleinen Völkchens. Das junge Mädchen strickt, eine Alte – ohne Zweifel ihre Mutter – sitzt beim Spinnrad; Tauben girren und gurren aus den Zacken des Thurmes, ein gastliches Aeffchen streckt mir aus seinem Hüttchen die Hand entgegen; die Gewichte der großen Thurmuhr steigen und fallen mit dumpfem Geräusch und vergnügen sich, die Marionetten unten tanzen zu lassen, unten in der Kirche, wo man die Kaiser krönte. Denke man sich dazu jenen tiefen Frieden, welcher hohen Punkten eigen ist – Windesmurmeln, Sonnenschein, schöner Anblick – kann es etwas reiner und reizender Zusammenklingendes geben? –

Aus dem Behälter der alten Glocke hat das junge Mädchen ihr Kämmerchen gemacht. Dort im Schatten steht ihr Lager und sie singt dort wie weiland die alten Glocken, nur sanftern Tons und einzig Gott und sich selber zum Vergnügen. Aus einem der nicht vollendeten Seitenräume hat die Mutter ihren Wittwenheerd gebaut, wo der bescheidene Suppentopf brodelt. So sieht’s auf dem Frankfurter Pfarrthurme aus. Wozu diese kleine Colonie da oben existirt und was sie eigentlich treibt, ich weiß es nicht. Aber bewundert hab’ ich sie dennoch. Diese stolze Reichsstadt, welche so vielen Kriegen trotzte, so vielmal beschossen wurde, so viele Kaiser krönte, sie, deren Adler in seinen beiden Fängen die beiden Diademe hielt, welche der Adler Oesterreichs auf seine beiden Köpfe setzte, – heute beherrscht und krönt sie der schlichte Feuerheerd eines Mütterchens und Alles, was darüber in die Luft emporsteigt, ist ein bischen Rauch.“