Bauernjustiz in Rußland vor Aufhebung der Leibeigenschaft
[751] Bauernjustiz in Rußland vor Aufhebung der Leibeigenschaft. Nur wenige Jahre sind verflossen, seit Kaiser Alexander die Morgenröthe einer andern und bessern Zeit über die Länder Rußlands emporsteigen hieß und die größte aller Wohlthaten, die Aufhebung der Leibeigenschaft, von ihm durchgesetzt ward. Mit welchem Aufwand von Muth und Energie Seitens Alexanders, ist bekannt und ebenso, wie mächtig sich der Adel und die Güterbesitzenden Rußlands gegen diesen Eingriff in ihre altverbrieften Rechte auflehnten. Allein das Wort der Freiheit, das die weiten Steppen dieses Landes befruchten und der Civilisation näher rücken sollte, ward dennoch gesprochen. Welche Zustände dadurch beseitigt oder doch gemildert wurden, davon dringen auch jetzt noch zuweilen Erzählungen zu uns, so dunkel und entsetzlich, wie die geistige Nacht, in der sie geboren wurden. Als eine der drastischsten und eine solche, welche die Tiefe des Elends während der Zeiten der Leibeigenschaft am grellsten wiederspiegelt, ist mir die folgende erschienen, die als völlig verbürgt mir erzählt worden ist.
In dem Gouvernement Z. war ein Gut nach dem Tode des Besitzers zum Verkauf ausgeboten. Die Gegend, in der es lag, gehörte, wenn auch nicht zu den schlechtesten, doch zu denen, welche der schlimmen Communicationen wegen nicht sehr gesucht waren, und so blieb das Gut eine Zeit lang unverkauft. Endlich meldete sich indeß doch ein Käufer, aber zum höchsten Schrecken der Bauern, die dem neuen Gutsherrn anheimfielen, ein solcher, an dessen Namen der Ruf der entsetzlichsten Grausamkeit und Härte haftete. Da trat eines Tages die ganze Gemeinde, Männer, Weiber, Kinder, zum Gebet in der Kirche zusammen, um von Gott die Abwendung so großen Unglücks, einem solchen Gutsherrn in die Hände zu fallen, zu erbitten. Es war umsonst. Der Gefürchtete schloß den Kauf ab. Als dies zur Kenntniß der Bauern kam, versammelten sie sich nochmals an derselben heiligen Stätte, diesmal indeß ohne Weiber und Kinder und bei verschlossenen Thüren, und nie ward bekannt, was in dieser Stunde geschehen. Der Gutsherr aber trat seinen Besitz an und bekundete nur zu sehr, daß die Welt ihn nicht umsonst gebrandmarkt hatte, denn sein Herrenrecht ward in der unerhörtesten Weise von ihm benutzt. Ununterbrochen schwang er die Geißel seiner Rohheiten und Bedrückungen über die unglücklichen Untergebenen, und es gab keine Härte, kein Elend, dessen sie sich nicht täglich von ihm zu versehen hätten.
So vergingen elf Jahre, entsetzliche Jahre. Am Schluß des elften Jahres gelüstete es dem Gutsherrn, wie schon oft, eine Fahrt nach einer mehrere Werst entfernten Ortschaft zu thun, wo er Bekannte hatte. Seine kleine fünfjährige Tochter begleitete ihn. Der erste Kutscher, ein besonders starker, kräftiger Mann, natürlich Leibeigener, führte wie gewöhnlich die Zügel. Der Weg lief durch steppenartiges, ärmliches, einsames Land, dann durch einen noch einsameren Wald. Als sie mitten in demselben waren, hielt der Kutscher plötzlich still, warf die Zügel nachlässig auf die Pferde, wie Jemand, der einen Augenblick an keine Weiterfahrt denkt, trat an den Wagenschlag heran und sagte mit tonloser Stimme zu seinem Herrn: „Steige aus.“
„Ich aussteigen? und weshalb? Bist Du von Sinnen?“ erwiderte der Gutsherr mit rasch aufloderndem Zorne.
„Steige aus!“ rief Jener jetzt drohender, oder ich muß Dir dazu helfen, denn,“ setzte er finster hinzu, „Deine Stunde ist gekommen, Du mußt sterben.“ Zugleich sah sich der Gutsherr von den starken Armen des Leibeigenen gepackt und mit einem Ruck aus dem Wagen gerissen. In dem heftigen, gleich darauf folgenden Ringkampfe zwischen beiden Männern blieb endlich der Bauer Sieger, sein Herr lag fest geknebelt, völlig hülflos zu seinen Füßen.
Der Bauer sah finstern, entschlossenen Blicks zu ihm nieder. „Ich habe Dir gesagt, daß Du sterben mußt,“ begann er, „und dem ist so, aber bevor Du stirbst, sollst Du erst erfahren, weshalb. Als Du vor elf Jahren unser Gutsherr wurdest und wir hörten, wie grausam Du seist und wie unerbittlich, da thaten wir Männer des Dorfes uns in der Kirche zusammen und gelobten Folgendes: ‚Wir wollten um der Barmherzigkeit und Gnade, die Gott uns so vielfach erwiesen, auch in so schwerer Prüfung seiner Gesetze eingedenk bleiben und in Geduld und Gehorsam annehmen, was durch Dich über uns verhängt wäre. Wir wollten, wie hart Du auch mit uns verführest, nicht murren, nicht untreu, nicht ungehorsam werden und in solcher Weise Dir dienen zehn Jahre lang, hoffend, daß in dieser langen Zeit Dein Sinn sich ändern und Du uns ein milderer Herr werden würdest. Aber unsere Hoffnung erfüllte sich nicht; Du wurdest nicht anders, Du wußtest nichts von Erbarmen und warst uns und unsern Kindern ein entsetzlicher Peiniger. Als die zehn Jahre um waren, da traten wir noch einmal zu einer Berathung zusammen. Viele unter uns wollten schon damals Deinen Tod. Aber es waren Einige, die uns vermahnten, noch einmal in Geduld auszuharren, eingedenk der endlosen Langmuth, die Gott uns armen Sündern erzeigt, und so ward beschlossen, Dir noch ein Jahr Frist zur Besserung zu geben, dann solle aber, wenn Du noch derselbe seiest, der, den das Loos träfe, Dich tödten und die Gemeinde von so tiefem Elende befreien. Das Jahr verlief wie die übrigen. Es wurde nicht anders mit Dir. Wir loosten nun. Das Loos traf nicht mich, sondern Einen, der Frau und Kind hatte. Das jammerte mich und ich übernahm’s, Dich zu tödten. Du siehst, es ist keine Hoffnung für Dich auf Erden mehr. Mach’ Deine Seele bereit!“
Ein paar unarticulirte Laute, die der Gefesselte ausstieß, wurden in diesem Augenblicke von dem lauten Weinen des im Wagen zurück gebliebenen Kindes übertönt. Der Bauer wandte sich nach der Seite, woher die rührende Klage kam, und über sein strenges Gesicht glitt der Sonnenstrahl eines Anflugs von Weichheit. Allein nur für einen Augenblick. Dann wandte er sich seinem Opfer wieder zu, knüpfte um den gefesselten Mann noch einen Strick und schleifte ihn so einige Schritte weit in das noch dichtere Gebüsch.
Bald darauf kehrte er allein aus demselben zurück, ein blutbeflecktes Messer in der Hand haltend, das er oberflächlich abwischte und mit dem Ausdruck tiefsten Ernstes in seinen Gürtel steckte. Dann trat er zu dem Wagen, hob die noch immer weinende Kleine zu sich auf seinen Vordersitz, schlug sorgsam noch ein Stück seines Mantels um dieselbe und fuhr die einsame Straße weiter.
Ein paar Stunden darauf aber sah man vor dem Richter der Gouvernementsstadt Z. denselben Mann stehen und mit einer vor Bewegung zitternden Stimme das eben Geschehene berichten. Er hatte sich selbst dem Gerichte überliefert.