Verhütung der Nervosität
Es ist sehr unrecht, wenn man die Nervosität mit dem Schlagwort „Modekrankheit“ oder „Krankheit des Jahrhunderts“ abfertigen und den Nervösen den Rat geben will, sich zusammenzunehmen und ihre Krankheit mit dem Willen zu unterdrücken.
Gewiß giebt es leichte Fälle, wo der Kranke die Klagen über seine Krankheit unterlassen und trotz seiner Beschwerden seiner gewohnten Tagesleistung nachgehen kann, bis die Besserung eingetreten ist, aber man darf sich deshalb noch nicht denken, daß die Genesung die Folge dieser Willensanstrengung gewesen sei. Man sieht wenigstens als Arzt viel mehr Fälle, wo gerade durch die Willenskraft die Krankheit lange niedergehalten wurde, bis sie schließlich den Kranken überwältigte und nun es vielfacher Mühe bedurfte, um wieder beseitigt zu werden. Die Nervosität besteht in einer krankhaften Unfähigkeit des Nervensystems, die bei geistiger und körperlicher Arbeit verbrauchten Teile in der beim Gesunden ausreichenden Zeit, also unvermerkt, wieder zu ersetzen. Es ist selbstverständlich, daß diese Fähigkeit nicht durch Willenskraft, sondern nur durch Verminderung der Ansprüche und Steigerung der Kraftvorräte des Nervensystems wiedergewonnen werden kann. Die Umgebung des Nervösen ist aber gewöhnlich zufrieden, wenn er nur nicht mehr von seinen Beschwerden spricht; sie hält ihn für genesen, wenn sie nur selbst Ruhe vor ihm hat.
Man begründet den Ausdruck „Modekrankheit“ gewöhnlich damit, daß es früher nicht so viel Nervöse gegeben habe, und sucht die Ursachen in den eigentümlichen sozialen Verhältnissen der Gegenwart, in dem rastlosen Treiben und Drängen, der Jagd nach dem Erwerb, dem Strudel der Vergnügungen. Auffallend ist dabei nur, daß so viele, die am tiefsten in diesem Getriebe stecken, nicht nervös sind und daß man Nervöse auch im stillsten Dorfe findet, wohin kaum ein Hall von dem Geräusch des Lebens dringt. Das Entscheidende für die Entstehung der Nervenschwäche ist in Wirklichkeit eine angeborene oder in der Kindheit erworbene geringere Widerstandsfähigkeit des Nervensystems. Natürlich sind die damit Behafteten im späteren Leben um so mehr gefährdet, je mehr sie an Arbeit, Gemütsbewegungen u. dgl. zu tragen haben.
Zum Glück hat die größere Aufmerksamkeit, die wir seit einigen Jahrzehnten der Nervenschwäche schenken, uns auch gelehrt, daß selbst der angeborene Mangel an Widerstandsfähigkeit der Nerven eines bedeutenden Ausgleichs fähig ist, und zugleich haben wir gelernt, wie die Ursprünge der Nervosität in der Kindheit und Jugend bekämpft werden können. Leider schenken viele Eltern und Erzieher den Anzeichen nicht die erforderliche Beachtung; sie spotten über die Gefahr, so lange sie noch abwendbar ist. Wie oft hört man sagen: Kinder dürfen noch nicht nervös sein, und sieht um so strenger und gewaltsamer gegen die vermeintliche Unart der Kinder vorgehen, je nervöser und reizbarer die Eltern sind. Wer aufmerksam ist und zu beobachten versteht, findet die Spuren der krankhaften Anlage schon sehr früh und kann sich rechtzeitig nach Hilfe umsehen.
Nervöse Kinder im ersten Lebensjahre sind zart, sie schreien übermäßig viel ohne besonderen Anlaß, sie zittern bei jedem besonderen Eindruck und geraten leicht in Ohnmacht. Wenn sie durch alle Zeichen ihre Aufregung verraten, pflegt man sie auf den Armen zu schütteln oder im Wagen, der ja jetzt meist die Wiege ersetzt, hin und her zu rütteln. Wenn man sich vorstellt, wie einem erwachsenen Nervösen zu Mut sein würde, wenn man seine peinlichen Empfindungen in dieser Weise bekämpfte, kann man ungefähr ermessen, wie vorteilhaft solches Verfahren für ein Kind sein muß, wenn es auch schließlich dabei „in seiner Qual verstummt“. Andere Kinder verraten ihre Nervosität durch Aufschrecken aus dem Schlaf, unruhige Träume, wieder andere dadadurch, daß sie bei jedem ungewohnten Eindruck erröten oder erblassen. Auch eine übertriebene Furcht vor harmlosen Tieren, vor dem sich drehenden Kreisel oder anderen beweglichen Spielzeugen, vor dem Gewitter etc. gehört hierher. Andere Zeichen [470] kommen im Schulalter der Kinder hinzu. Während viele Kinder, nachdem sie die Aufregung der ersten Wochen des Schulbesuchs hinter sich haben, munter und frisch wie vorher erscheinen, werden andere, ohne eigentlich krank zu sein, blaß und matt; sie klagen über Kopfweh, sind unlustig und verdrießlich, haben keinen rechten Appetit, wollen namentlich morgens vor der Schule nichts genießen und bekommen wohl gar Erbrechen, wenn man sie dazu zwingen will; abends wollen sie nicht ins Bett, weil sie sich vor dem Alleinsein im Schlafzimmer fürchten. Gewöhnlich hält man sie dann für blutarm; oft sind sie es auch, aber noch öfter sieht man, daß sie wenige Tage nach Beginn der Ferien wieder frisch und munter sind, während eine so kurze Zeit nicht zur Heilung einer wirklichen Blutarmut ausreichen würde. Andere nervöse Kinder sind mehr aufgeregt, sie beginnen zu nachtwandeln oder zeigen Andeutungen von Mondsucht, beides Zeichen unruhigen und zu leichten Schlafes. Wieder andere fallen durch ihre allzu rege Phantasie auf, durch die Leichtigkeit, mit der sie sich ganz in ihre Spielrollen hineinversetzen. Dieser gesteigerte Nachahmungstrieb nervös angelegter Kinder ist auch die Ursache der sogenannten nervösen Schulepidemien, die wohl alljährlich hier und da beobachtet, aber merkwürdigerweise immer noch nicht gleich richtig erkannt und behandelt werden. Wenn z. B. ein nervöses Kind an Veitstanz oder ähnlichen Zuständen erkrankt und davon unnötiges Aufsehen gemacht wird, wenn man einen großen Aufstand um das Kind macht, es im Wagen nach Hause bringt etc., so erregt das die Nerven der andern aufs höchste, und natürlich immer mehr, wenn erst mehrere erkrankt sind und nun zu Hause und in der Schule von nichts anderem gesprochen wird. Die Erfahrung lehrt, daß solche nervöse Epidemien schnell aufhören, wenn man jedes Kind bei der ersten Andeutung nach Hause schickt und ihm sagt: du darfst dich ein paar Tage ausruhen; wenn dir besser ist, kannst du wiederkommen!
Was soll man nun thun, um die Kinder nicht erst nervös werden zu lassen? Man kann doch gar nicht wissen, ob ein Kind dazu beanlagt ist! Das ist aber auch gar nicht nötig; man soll eben alle Kinder so behandeln, daß sie gesunde Nerven bekommen. Dazu gehört zunächst, daß man kleinen Kindern ihre Ruhe läßt. Man soll sie nicht rütteln und schütteln und sie nicht durch stürmische Freudenbezeigungen erschrecken. Ein recht deutlicher Hinweis liegt darin, daß kleine Kinder gewöhnlich Herren lieber mögen als Damen; das kommt daher, daß Herren gewöhnlich die Kinder in Ruhe lassen, während Damen nicht leicht von der Unsitte zärtlicher Küsse abgehen. Sehr wichtig ist, daß man die Kinder nicht übermäßig warm einhüllt, auch das Zimmer nicht etwa über 15 Grad R. erwärmt, daß man das Badewasser nicht wärmer als 26 Grad R. nimmt etc. Ebenso verkehrt wäre es, die Temperaturen zu niedrig zu nehmen, wie es im Anschluß an die Kneippschen Lehren neuerdings öfters geschieht, denn auch dadurch werden die Kinder nervös. Ferner soll man die Kinder vernünftig ernähren, so daß ihre Kräfte den Anforderungen ihres geistigen und körperlichen Wachstums entsprechen, und man soll ihnen genügend Schlaf in ruhigen, gut gelüfteten Zimmern gewähren, damit sie nach der Tagesarbeit reichliche Ruhe finden. Vor dem Schulalter, wo das Kind ja auch beständig geistig und körperlich lernt und arbeitet, ist eine Stunde Liegen in der Mitte des Tages überaus erwünscht, und ebenso sollte man auch in den Schuljahren daran festhalten, zumal wenn im Sommer der Unterricht früh morgens beginnt, der Schlaf aber wegen der schönen Abendstunden auch nicht allzu zeitig begonnen wird. Man muß überhaupt die Schulkinder mehr, als es bisher üblich ist, als wirklich durch die Arbeit angespannt betrachten und sie demgemäß behandeln. Man muß, wenn irgend möglich, dafür sorgen, daß sie ihre Arbeiten in Ruhe machen können, nicht etwa in einem Raume, wo gleichzeitig andere Kinder spielen oder eine Nähmaschine bearbeitet wird oder wo Personen ab- und zugehen.
Sehr wichtig ist es, daß die Erholungszeit weder durch zu anstrengende oder aufregende Spiele noch durch vorzeitige Musikstunden ausgefüllt wird, und daß man die Kinder nicht durch Handarbeiten ermüdet, die dann gewöhnlich zeitweise, z. B. gegen Weihnachten, bis zur Erschöpfung und Unlust gehäuft werden. Bei der Ernährung kommt es auch darauf an, daß die Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten und in nicht zu langen Pausen eingenommen werden, mindestens fünfmal am Tage, und diese Gewohnheit soll auch durch die Schule keine Unterbrechung erleiden. Bei größeren Kindern macht das gewöhnlich keine Schwierigkeit, aber in den ersten Schuljahren haben die Kinder oft zu wenig Trieb, in der Zwischenstunde zu frühstücken; sie haben sich dann zu viel zu erzählen, oder sie haben noch schnell etwas für die nächste Stunde vorzubereiten. Es wäre deshalb sehr erwünscht, wenn die Lehrerinnen, denen ja meist der Unterricht der ersten Schuljahre obliegt, beim Beginn der Zwischenstunde aufforderten: „So, jetzt eßt euer Butterbrot“; dann würden die Kinder stets mit dem größten Vergnügen ihre Frühstücksmahlzeit halten. Sehr verwerflich ist es, wenn manche Lehrer die Stunden nicht pünktlich beendigen und dadurch die Pausen verkürzen, oder wenn den Kindern nicht nach der anstrengenden Unterrichtsstunde in der Pause freieste Bewegung und ungebundenes Entäußern gestattet wird. Wenn Erwachsene nach einer einstündigen Gedankenarbeit das gebieterische Verlangen empfinden, sich durch Auf- und Abgehen im Zimmer oder dergleichen eine Erleichterung zu verschaffen, so muß man das doch erst recht den viel leichter erschöpfbaren Kindern zubilligen. Selbstverständlich muß man auch sorgfältig darauf halten, daß die Luft im Schulzimmer zu Beginn jeder Stunde gut sei, und daß die Schulräume genügend erwärmt und auch wieder nicht zu warm seien, denn jede Abweichung in diesen Verhältnissen schädigt die Fähigkeiten und die Gesundheit der Kinder. Man hält oft genug thörichterweise den Vertretern der Gesundheitspflege entgegen, daß man doch früher ohne solche hygieinische Maßregeln ausgekommen sei, ohne daß die damaligen Schüler an ihrer Gesundheit Schaden gelitten hätten. Abgesehen davon, daß es unsinnig ist, eine zweckmäßige Neuerung deshalb abzulehnen, weil sie „früher nicht gewesen ist“, muß man derartigen Einwürfen doch entgegenhalten, daß sich ja alle Welt darüber beklagt, wie sehr die Nervosität, die Rastlosigkeit, die Sucht nach Betäubung der inneren Unruhe durch künstliche Reizmittel zunehmen; Grund genug, wenigstens der Jugend alles fernzuhalten, was dahin führen kann.
Bekanntlich hat seit etwa zwei Jahrzehnten die Frage der Ueberbürdung der Schulkinder viel Staub aufgewirbelt. Die Behauptung eines deutschen Irrenarztes, daß Ueberbürdung in der Schule wiederholt in späteren Schuljahren völligen geistigen Zusammenbruch und schwere geistige Krankheit hervorgerufen habe, ist längst als unhaltbar erkannt worden. Derartige schwere Erscheinungen treten nur ein, wenn eine sehr üble angeborene Geistesanlage vorhanden ist, die dann zur Zeit des eintretenden Jünglingsalters mehr aus inneren als aus äußeren Ursachen in die Brüche geht. Auch der leider auf so vielen Schulen herrschende Alkoholmißbrauch hat schon oft solche Zusammenbrüche verschuldet. Daß aber sehr viele Kinder im Laufe der Schulzeit Schaden an ihrer Nervengesundheit erleiden, daß sie nervös werden, auch ohne vorher übermäßig dazu veranlagt zu sein, das ist unbestreitbar und allgemein gültig. Von der Schule wird die Schuld gewöhnlich ohne weiteres auf die häuslichen Verhältnisse geschoben, und oft mit Recht. Aber wenn zu Hause Dummheiten gemacht werden, so verpflichtet das die Schule doch nur, vom Standpunkte ihrer überlegenen pädagogischen Einsicht aus ein besseres Beispiel zu geben, auch wo es sich um scheinbare Kleinigkeiten handelt. Ein sehr wunder Punkt ist vielfach noch die zu harte Behandlung der schwächer beanlagten Schulkinder. Die Kinder können doch jedenfalls nichts dafür, wenn sie von den Eltern in Schulen gebracht werden, deren Anforderungen sie nicht gewachsen sind, aber trotzdem werden sie oft für ihre unzureichenden Kräfte gestraft und dadurch in ihrem Gesamtnervensystem schwer geschädigt. Ich wünschte jedem Pädagogen einen Kursus an einer Unterrichtsanstalt für Schwachsinnige, um deutlich zu lernen, daß gerade bei Minderbegabten nur die vollendete Güte und Geduld Erfolge erzielen! Die Ueberfüllung der heutigen Klassen und die zweifellos bestehende Ueberbürdung der Lehrer macht ja vielfach ein genaueres Eingehen auf die Geistesart des einzelnen Schulkindes unmöglich, und in diesem Sinne würde eine gründliche Aufbesserung der Verhältnisse des Lehrstandes ebenfalls sehr dazu beitragen, die Ausbildung der Nervosität bei dem heranwachsenden Geschlecht zu vermindern.
Um nach glücklich überwundenen Schul- und Lernjahren vor [471] Nervosität bewahrt zu bleiben, gilt es vor allem, in möglichst ruhigem Gleichmaß zu leben. Regelmäßiger und rechtzeitiger Beginn des Tagewerkes ermöglicht in den meisten Fällen, die Arbeit ruhig und ohne angreifende Ueberhastung zu vollenden und auch die nötigen Erholungspausen einzuschalten. Auch in den Genüssen und Erholungen soll man alles Gewaltsame vermeiden. So gesund Spazierengehen, Radfahren, Baden und andere Körperübungen sind, so schädlich kann ihr Uebermaß wirken. Gerade bei Nervosität kommt es sehr leicht zu solchem Uebermaß, weil die peinlichen Empfindungen und Stimmungen des Erschöpfungszustandes zu einer krankhaften Rastlosigkeit führen, oder weil der Nervöse eine unbestimmte Vorstellung hat, daß für seine Beschwerden etwas geschehen müsse, und nun im Gegensatz zu der vorhergehenden geistigen Anspannung sein Heil in körperlicher Ausarbeitung sucht. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß geistige und körperliche Thätigkeit doch im Grunde aus derselben Quelle gespeist werden, daß das Nervensystem bei beiden arbeitet, wenn auch in etwas verschiedener Weise, so kann man sich leicht denken, daß das Uebermaß körperlicher Anstrengung auch dem Nervösen schaden muß. Die Körperübung hat hier in der That nur soweit Berechtigung, als sie von geistiger Arbeit ableitet und eine allgemeine Anregung des Stoffwechsels und des körperlichen Ersatzes vermittelt, d. h. also, soweit sie durch die nachfolgende Ruhe vollkommen wieder ausgeglichen wird.
Zu beachten bleibt vor allem eine regelmäßige und zweckmäßige Ernährung (vgl. des Verfassers Schriften „Gesunde Nerven“ und „Kochbuch für Kranke“). Die Genußmittel wie Kaffee und Thee sollen nicht ohne besonderen Grund ausgeschlossen werden, denn nur ihr Uebermaß ist gemeinhin schädlich, während ihre anregenden Wirkungen vielen Nervösen sehr gut thun. Es ist entschieden übertrieben, wenn man alle Nervenschwachen auf Malzkaffee, Hafersuppen u. dergl. setzen will, wie das namentlich die sogenannte Naturheilkunde gern thut. Um so mehr müssen Nervöse vor den alkoholischen Getränken gewarnt werden, die man leider vielfach als eine Art Nervenheilmittel zu betrachten scheint. Insbesondere ist es ein grober Unfug, Porter und andere schwere Biere, wie die alkoholreichen Malzbiere, als Kräftigungsmittel gegen Blutarmut, zur Anregung des Appetits und als Schlafmittel ohne Einschränkung zu empfehlen. Die vorübergehende Anregung, die der Alkohol mit sich bringt, täuscht den Kranken und Schwachen allerdings über manches Unangenehme hinweg, aber sie verhindert das, was ihm wirklich not thut: die richtige Erholung und Erfrischung seiner Nerven. Bei jugendlichen Personen wirkt der Alkohol überhaupt immer schädlich auf die Nerven ein, so daß diese streng zur völligen Enthaltung vom Alkoholgenuß veranlaßt werden sollten, damit der Feind zu keiner Hinterthür in der Maske des harmlosen und guten Freundes hereinkommen kann. Wirkliche Erholung bieten dagegen der Genuß der Natur, eine vernünftige Sonntagsruhe, harmlose Geselligkeit, vernünftig genossene Ferien, glückliches Familienleben, auch leichtere anspruchslose Musik, während die aufregenden Werke der modernen Kunst, wenn sie auch noch so hohen Genuß bieten mögen, doch immer viel Nervenkräfte verzehren. Geradezu gefährlich werden anstrengende Zerstreuungen, wenn man sie Kranken bietet, in der Absicht, sie dadurch von ihrer Krankheit abzulenken. So sind auch Erholungsreisen für Nervöse nur mit großer Vorsicht zu empfehlen.
Wo sich trotz der vorbeugenden Maßregeln Nervosität entwickelt – in ihren Anfängen durch Reizbarkeit, unbehagliche Unruhe, Unfähigkeit und Unlust zu geistiger und körperlicher Thätigkeit, Kopfdruck, Störungen des Schlafes etc. gekennzeichnet –, oder wo sich eine nervöse Anlage durch anhaltende Neigung zu krankhaften Stimmungen, Kopfschmerz, Migräne, nervöses Herzklopfen etc. äußert, ferner bei hartnäckiger Blutarmut in den Entwicklungsjahren, die ja so oft das Vorspiel zu späterer hartnäckiger Nervosität bildet, da sollte man nicht Zeit mit kleinen Mitteln verlieren, die doch nicht durchgreifend helfen, sondern mit einem Sachverständigen einen ernsthaften Kurplan feststellen und diesen gründlich durchführen. Es ist gar nicht zu ermessen, wie viel Elend, wie viel persönliche Leiden, wie viel Unglück im Beruf und in der Familie der Welt erspart werden könnte, wenn wir in dieser Richtung sorgsamer würden! Aus kleinen Anfängen entwickeln sich oft Störungen, die ein ganzes Leben unglücklich machen, und oft genug eröffnet der Ausspruch, daß jemand „nur ein bißchen nervös“ sei, den Ausblick auf ein langes, durch Leiden und Unfähigkeit zu normaler Leistung verpfuschtes Leben. Besonderer Fürsorge bedarf in dieser Hinsicht die weibliche Jugend, weil sie erfahrungsgemäß im ferneren Leben, sei es als Ehefrau oder als selbständiges Glied in der sozialen Welt, viel seltener als der Mann die Schädigungen und Vernachlässigungen völlig überwindet, die ihr frühzeitig erwachsen sind. Wenn ich in meiner Schrift „Ueber die geistigen Fähigkeiten der Frau“ für die weibliche Jugend nach vollendeter Lernzeit ein Erholungsjahr gefordert habe, das der Gesundheit in erster Linie gewidmet sein soll, so bin ich dazu durch sehr ernste Erfahrungen in meinem Beruf angeregt worden. Für Nervöse oder nervös angelegte Mädchen eignet sich zur Erholung vor allem ein Aufenthalt im Seeklima, und erfreulicherweise sind ja in den letzten Jahren an der Nordsee und an der in dieser Hinsicht ihr mindestens gleichwertigen Ostsee entsprechende Einrichtungen entstanden, die sehr gute und bleibende Ergebnisse versprechen.