Zum Inhalt springen

Unter Spitzbuben

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Unter Spitzbuben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43–44, S. 706–708, 722–724
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[706]

Unter Spitzbuben.

Ergötzliche und lehrreiche Geschichte aus dem schönen Italien.

Wenn der geneigte Leser etwa glauben sollte, ich wolle ihm irgend eine der oft erzählten Räubergeschichten in veränderter Form auftragen, z. B. Gefangennahme eines harmlosen Reisenden, Aufenthalt in einer romantischen Felsenhöhle, endlich eintreffendes Lösegeld, als der Räuber Kühnster schon im Begriff war, sein Opfer für immer zum Schweigen zu bringen, so ist er in gewaltigem Irrthum. Meine Geschichte ist zahmerer Art, und ich würde vielleicht gar nicht daran denken, sie zu erzählen, wenn ich nicht das Interesse derer im Auge hätte, die gleich mir – denn ich habe die Ehre in dieser Geschichte eine Hauptrolle zu spielen – von dem südlichen Himmel und wer weiß, wovon noch, angezogen, sich einfallen lassen sollten, allein, als simple Reisende, die eine oder andere Gegend zu durchstreifen, es verschmähend, dem rothen Bädecker zu folgen, der genau vorschreibt, wo man gehen, essen, trinken und schlafen soll; ich würde sie nicht erzählen, wenn ich ferner nicht glaubte, es würde für das deutsche Publicum ergötzlich und lehrreich sein, zu vernehmen, wie es einem ehrbaren deutschen Professor gehen kann, der nach Alterthümern sucht, und welche Achtung man in Italien zuweilen vor deutscher Bildung hat.

Meine Geschichte hat außerdem zwei Vorzüge, die von dem lesenden Publicum in der Regel besonders geschätzt werden: erstens ist sie funkelnagelneu, denn sie passirte im Juli und August dieses Jahres; zweitens ist sie so wahr, wie nur eine Geschichte wahr sein kann, denn alles, was ich erzählen werde, ist in den heiligen Archiven der Polizei und Justiz auf Staatspapier niedergeschrieben – ein Vorzug, den nur wenige Geschichten haben –. Was aber dort nicht niedergeschrieben ist, kann ich durch das Zeugniß ehrlicher italienischer Spitzbuben und anderer vornehmer Gesellschaft, wie Gefangenenaufseher, Gefängnißschreiber, Polizeidiener etc., als wahrheitsgemäß bezeugen lassen, wenn dem skeptischen Leser, der nur deutsche Zustände kennt, etwa Zweifel aufstoßen sollten. Auch ein gewisses deutsches Consulat hat, freilich in anderem Stile geschrieben und mit Weglassung der Randglossen, die Geschichte in seinen Acten, und wird sich darüber mit gewissen italienischen Behörden in sicher ganz freundschaftlicher Weise unterhalten. Für jeden Leser wird es vielleicht auch nicht uninteressant sein, einen Blick in Sphären zu thun, die den meisten Deutschen, die das Land des ewig blauen Himmels anzieht, verschlossen sind, aber doch ein Stück Cultur jenes gesegneten Himmelsstriches ausmachen. Wenn ich die Eigennamen weglasse, so möge der verehrte Leser dies entschuldigen; ich kann sie aus mancherlei Gründen nur der Verschwiegenheit der Redaction der „Gartenlaube“ anvertrauen. Doch nun die Geschichte!

Wie tausend Andere hatte ich die Sommerferien ersehnt, um Leib und Geist zu erfrischen in den höheren Regionen der Alpenwelt, und diesmal hatte ich mir die höchsten zum Umherbummeln ausersehen. Nachdem ich von Genf aus halb zu Wasser und halb zu Lande bis nach Martiginy gelangt war, begab ich mich auf die breite schöne Straße, die einst von Napoleon I. gebaut wurde, um mit seinen barfüßigen, aber kriegsruhmdürstigen Kriegern über den großen St. Bernhard nach Italien die französische Freiheit zu importiren.

Was mich anbetraf, so hatte ich die friedlichsten Absichten. Ich wollte mein Reisetaschenbuch mit Notizen anfüllen über die Gegend, die Geschichte jenes Zuges des großen modernen Welteroberers, die historischen Denkwürdigkeiten in Augenschein nehmen, die sich etwa noch vorfänden etc. Nach dem Besuch des weltberühmten Hospizes vom heiligen Bernhard wollte ich aber in das Thal von Aosta hinuntersteigen, um die verhältnißmäßig noch wenig bekannten Ueberbleibsel römischer Herrschaft kennen zu lernen, bis ich dann das Dampfroß mit dem Schluß der Ferien bereit finden würde, mich nach M. zurückzuführen, wo ich als simpler Professor wiederum über die Syntax verschiedener moderner Sprachen jungen Leuten Vortrag halten sollte.

Ich hatte die Gastfreundschaft der Bernhardiner genossen und war im Thale der brausenden Dora auf manchen Hügel und manchen Berg gestiegen, um die möglichen und unmöglichen Römerbauten, die mir als [707] solche bezeichnet wurden, kennen zu lernen, wobei ich von dem herrlichen Ausblick auf das Thal mit allen seinen Seitenthälern, den darüberragenden schneebedeckten Häuptern des Montblanc, Monte Rosa etc. oft mehr entzückt war, als von dem Trümmerhaufen, um dessen willen ich den Berg erstiegen hatte. Die Zeit war rasch verstrichen und der Tag rückte heran, wo dies Umherschweifen sein Ende erreichen sollte. So gelangte ich nach B…, von wo ich am andern Tage mit der Bahn direct nach M… zu fahren gedachte. Ich kehrte, ohne den rothen Bädecker zu fragen, in einem mir als gut und nicht zu theuer empfohlenen Hôtel ein, in welchem man, wie mir versichert worden war, auch französisch sprach, was für mich insofern von Wichtigkeit war, als ich der ltalienischen Umgangssprache nicht mächtig war, da ich bis dahin nicht Gelegenheit hatte, dieselbe zu practiciren, in gebildeten Kreisen Italiens aber überall französisch gesprochen wird. In Piemont ist letzteres sogar die Sprache der officiellen Kreise, und alle Versuche der italienischen Regierung, die italienische Sprache bei Gerichtsverhandlungen etc. einzuführen, sind bis jetzt an dem Widerstande der Beamten und Gemeinden gescheitert.

B., das im Kriege von 1859 mit seiner Festung noch eine Rolle gespielt hat, bietet manches Interessante, und ich versäumte nicht, es in Augenschein zu nehmen. Auch die Festung besah ich mir, von außen natürlich, ahnungslos, welche Bedeutung dieselbe für mich erhalten sollte.

Am anderen Morgen nahm ich mein bescheidenes Frühstück ein und erklärte dabei, daß ich nach Tische abreisen würde. Bei dieser Gelegenheit machte ich die Entdeckung, daß man mein Französisch nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Nach Tische überreichte man mir die Rechnung. Sie betrug für das staubige Zimmer nach dem Hofe hinaus und die drei bescheidenen Mahlzeiten, die ich genommen, ungefähr das Doppelte von dem, was man anderwärts bezahlt, nämlich siebenzehn Franken. Mein Professorenmagen war nicht gewöhnt, in so verhältnißmäßig kurzer Zeit mich zu so enormen Ausgaben zu veranlassen, und rebellirte, sodaß ich mir das Schriftstück, zu deutsch Rechnung, genauer besah. Da fand sich denn Verschiedenes, was ich weder verlangt noch gehabt hatte. Es war nicht der freundlichste Blick, den ich dem biederen Hôtelier zuwarf, als ich nach meiner Reisetasche griff, mein darin wohl verwahrtes Portefeuille herauszuholen und zu bezahlen.

Wer beschreibt aber meinen Schrecken, als ich die Seitentasche, in der es verwahrt worden war, leer fand! Ich kramte die Tasche aus, aber kein Portefeuille war zu finden. Dagegen machte ich die angenehme Entdeckung, daß eine Naht der Tasche aufgetrennt war, an derselben Seite, an welcher inwendig das Behältniß für Papiere und Gold sich befand. Die aufgetrennte Naht war von außen durch eine Klappe verdeckt, sodaß man das Attentat erst beim Oeffnen der Tasche, behufs Herausnahme von Geld etc., bemerken konnte. Ich vergaß in meiner Bestürzung die Höhe der Rechnung und alles und griff mechanisch nach meinem Portemonnaie, um zu zahlen und fortzukommen. Aber auch dieses betrog mich heute.

Seit ich einst auf einem größeren Bahnhofe in Mitteldeutschland durch einen geschickten Taschendieb um mein Portemonnaie mit verschiedenen gelben Zwanzigern gekommen war, ohne daß ich das Geringste gemerkt hatte, habe ich die löbliche Gewohnheit, auf Reisen etc. so wenig wie möglich dem Portemonnaie anzuvertrauen, damit der Verlust im schlimmen Falle nicht zu groß sei. Jetzt fand ich darin wohl verschiedene ganze und halbe Franken, auch eine Zahl Fünf- und Zehn-Rappenstücke, aber im Ganzen machte dies nicht siebenzehn Franken aus. Ich wandte mich an den Wirth und theilte ihm mit, daß ich soeben die Entdeckung gemacht habe, ich sei meines Portefeuilles beraubt. Nachdem er mich von Kopf bis zu Fuß betrachtet, erwiderte er, er verstehe nicht französisch, wolle aber mit mir zu einem Freunde gehen, wo man mich verstände.

Ich war im Herzen froh darüber, daß ich Jemanden finden sollte, der mich verstand und mir in meiner Verlegenheit beistehen könnte. Wir traten in ein Haus ein, das ich für ein Handlungshaus hielt, und die Stube, in welcher wir uns bald befanden und in welcher verschiedene Schreiber saßen, schien mir ein Comptoir zu sein.

Mein freundlicher Hôtelwirth wandte sich an einen der Herren und redete ihn an. Auch ich begrüßte ihn in französischer Sprache; aber als ich ihm erzählen wollte, was mir geschehen sei, herrschte er mich an:

„Schweigen Sie!“

In demselben Augenblicke traten zwei uniformirte Persönlichkeiten ein, und nun ging mir ein Licht auf über den Ort, wohin mich der schlaue Wirth geführt hatte.

„Auch gut!“ dachte ich, „hier kannst Du Dich legitimiren und sogleich eine Vereinbarung mit dem Wirthe treffen.“

Ich zog daher ohne Umstände meinen guten deutschen Paß hervor, der außer Namen und Stand eine genaue Beschreibung meiner Person enthielt und in welchem alle Behörden des In- und Auslandes dienstergebenst ersucht wurden, dem Inhaber nöthigenfalls Schutz und Beistand angedeihen zu lassen. Dies in diesem kritischen Augenblick besonders wichtige Schriftstück überreichte ich dem hochmögenden italienischen Polizeicommissar.

Er besah die deutschen Hieroglyphen von oben nach unten und von rechts nach links, schüttelte mit dem Kopfe, dann schnauzte er mich an: Hier spreche man nur italienisch!

„Halt,“ dachte ich, „der Mann wird als Italiener vielleicht vor der Sprache seiner Urväter Respect empfinden!“

Damit kramte ich mein in lateinischer Sprache verfaßtes Doctordiplom aus, das ich zufällig bei mir führte, weil ich vergessen hatte, es in den großen Koffer zu packen, den ich von G. nach M. per Bahn hatte gehen lassen. Er besah sich das Opus, auf das ich einst so stolz war, als ich es zum ersten Mal in den Händen hielt, mit verächtlicher Miene, warf es auf seinen Tisch, fuhr auf mich los, drohte mir mit der Faust und überhäufte mich mit einer Fluth von Redensarten, aus denen die freundlichen Anreden „Vagabond“ und „Brigand“ mir in das Gesicht sprangen.

Es ist begreiflich, daß ich durch solche Behandlung erregt wurde, und ich schrie ihm noch lauter entgegen, ich sei ein Deutscher, habe meine vollgültigen Papiere bei mir und könne mich über meine Person nach jeder Richtung hin ausweisen.

„Un Tedesco! (ein Deutscher) und spricht französisch!“ lief es von Mund zu Mund.

Das mußte wohl neben meinen unleserlichen (wenigstens für den Commissar) Papieren ein neues schwerwiegendes Moment des Verdachtes sein, denn nun erklärte der Commissar, mich binden lassen zu wollen als Brigand.

Dabei liefen die Schreiber in der Stube auf und ab, die Polizeidiener um mich herum, und untersuchten prüfend meinen Anzug. Alle aber schrieen durch einander, daß es ein Heidenspectakel war, und die ganze südländische Erregbarkeit drückte sich in dem lebendigen Geberdenspiel und den Gestikulationen aus.

Ich wollte der elenden Komödie ein Ende machen und wandte mich, so ruhig wie möglich, an den Wirth, indem ich ihm erklärte, ich würde für die wenigen Franken, die ich, durch den an mir begangenen Diebstahl genötigt, augenblicklich schuldig bleiben müsse, ihm so viel von meinen Werthsachen da lassen, als er glaube, daß zu seiner Sicherheit nothwendig sei, nötigenfalls auch meinen Paß auf der Polizei so lange deponiren, bis ich ihm den Betrag gezahlt habe. Er schien zu überlegen, dann sprach er mit dem Commissar, ohne daß ich verstehen konnte, was sie verhandelten.

Aus einen Wink des letzteren fielen plötzlich zwei der Schergen über mich her, rissen mir Ueberzieher, Rock und Weste vom Leibe, um, wie ich aus den Worten des Machthabenden heraushörte, zu untersuchen, ob ich Revolver, Dolch oder Gift bei mir habe. Das Futter des Rockes wurde abgerissen und hinter demselben alles genau besichtigt. Sobald ich eine Bewegung machte, um zu verhindern, daß die Kleidungsstücke respective die in den Taschen befindlichen Sachen beschädigt würden, drohte man, mich gegen die Mauern zu drücken, und warf mir andere Redensarten in’s Gesicht, die mich zu der Ueberzeugung brachten, daß ich hier auf Alles, auch das Schlimmste, gefaßt sein müsse.

Meine Protestation, die ich in der energischsten Weise gegen solche Vergewaltigung losließ, und meine Berufung auf meine Eigenschaft als deutscher Staatsbürger, wurde mit Hohn und Spott aufgenommen. Als man ein größeres Taschenmesser fand, erregte dies die größte Aufmerksamkeit: es wanderte von Hand zu Hand, bis Alle es genau besehen und ihre Bemerkungen darüber gemacht hatten. Ein Scherge hatte meine Reisetasche ausgekramt und fand ein kleines Tintenfaß in Form eines Schweizerhäuschens, Federn und einen Federhalter. Das schlug dem Fasse vollends den Boden aus. Ein Brigand und Schreibzeug! Was für ein gefährliches Subject mußte ich sein!

Der liebenswürdige Wirth hatte sich inzwischen entfernt. Der Commissar saß überlegend da, während ein anderer Beamter mir sagte, ich möge meine Sachen wieder einpacken. Ich that dies so rasch wie möglich, um von diesem unheimlichen Orte fortzukommen. Da stürzte plötzlich ein anderer Beamter herein, flüsterte einige Worte, im Nu ertönte eine Klingel, drei Schergen erschienen im Locale und erhielten den Befehl, mir alles wieder abzunehmen und mich in’s Gefängniß zu führen. Die widerliche Scene des Herunterreißens wiederholte sich. Ich protestierte von Neuem und berief mich auf die deutsche Behörde, die mir den Paß ausgestellt habe und der ich bekannt sei.

„Ja,“ entgegnete der Commisar höhnisch, „dahin wird man Euch führen, aber so!“

Dabei hielt er die Arme über einander, was so viel heißen sollte als :

„Gebunden!“

Die Sache war außer dem Spaß. Was wollte man mit mir? Ich hatte keine Ahnung davon. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich von Gensd’armen durch die Straßen geführt, wo die Leute mich neugierig anstarrten: das Thor der Festung, die ich am Tage vorher von außen betrachtet hatte, öffnete sich, und über verschiedene Höfe hinweg wurde ich in das Innere eingeführt, um dies ganz gegen meinen Willen kennen zu lernen. Zunächst wurde ich in der Schreiberstube registrirt, dann in einem andern Gemache bis auf’s Hemd entkleidet und jedes Kleidungsstück sorgfältig untersucht. Dann nahmen mich zwei Unterofficiere in ihre freundliche Mitte, schwere eiserne Thüren öffneten sich, und ich befand mich bald darauf in einem feuchten, dumpfen Gewölbe zu ebner Erde, aus dessen dunkelem Hintergrunde mich zwei Galgengesichter neugierig anstierten.

Die Wärter entfernten sich; ich stand nahe der Thür, das Eisengitter betrachtend. Dann kniff ich mich in die Arme, um mich zu vergewissern, ob ich schlafe oder wache. Es schien wirklich das letztere der Fall zu sein. In einer Ecke lag auf dem feuchten Steinpflaster ein Strohsack, der mir als Lagerstätte angewiesen worden war – sehr einladend! Beim Hinausgehen hatte der eine Unterofficier, französisch radebrechend, mir das Local als schön, frisch und kühl angepriesen – sehr angenehm bei der tropischen Hitze da draußen! Der eine jüngere Strauchdieb kam auf mich zu, redete mich in seinem italienischen Patois vertraulich an, und als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, ging er hin, nahm einen irdenen Topf, füllte ihn aus einem schmutzigen Fasse mit Wasser und hielt ihn mir entgegen mit der Aufforderung zu trinken – sehr liebenswürdig!

Doch da rasselten die Schlüssel draußen wieder; gewiß hatte man den Irrthum erkannt, meine Papiere und Briefe genau angesehen und kam, mich wieder in Freiheit zu setzen. Die äußere Thür öffnete sich und vor die zweite Gitterthür trat eine lange Gestalt in himmelblauer [708] Uniform mit gutmüthig dummem Gesichte. Nachdem der Himmelblaue mich eine zeitlang betrachtet, öffnete sich der breite Mund und fragte im reinsten österreich-ungarischen Dialekt:

„Sie sein Deutscher?“

„Ja“, erwiderte ich, froh, ein deutsches Wort zu hören, und that die Gegenfrage:

„Sie sprechen deutsch?“

„O,“ erwiderte mein Mann und warf sich in die Brust, „ick deutsch kann serr gut sprecke: ick bin gewese viele Jahren in der Oesterreik, wissen’s, hab’ ick gesprocke nicks als deutsch!“

In der Hoffnung, etwas von ihm über den eigentlichen Grund meiner Einsperrung zu erfahren, that ich eine hierauf bezügliche Frage.

„Ja, schaun’s,“ erwiderte Bruder Meiniges, „weil die Polizei Sie halt nit kennen, mer kann nit wissen, wer und woher sein.“

„Das steht ja in meinem Paß,“ erwiderte ich.

„Ja,“ versetzte er, schlau blinzelnd, „mer kann nit wisse, ob das ist Paß Ihriges, könne auch habe gestohle die Papier.“

„Nun, was will man denn machen, um zu erfahren, daß es wirklich meine Papiere sind?“

„Ja,“ erwiderte er bereitwilligst, „das kann warten drei oder vier Woche, bis hab’n beschriebe an Ihriges Polizei, wer sein.“ Und erzählend setzte er hinzu: „Hab’n hier gewesen eine Baier, der hat auch gehabt Papier, gut Papier, hat hier muß warte vier Woche bis Antwort.“

„Hatte er nichts verbrochen?“

„O nicks, gar nicks, mer wußt nit, ob sein Papier war ordentlich.“

„Aber man kann mich doch unmöglich so lange hier einsperren ohne Grund.“

„O, warum nit?“ erwiderte er gutmüthig, „das mackt nicks. Wenn hab’ gemackt nicks weiter, könne nachher gehe, wo Ihr wollen hin.“

Das waren ja herrliche Aussichten! Auf blosen Verdacht hin vier Wochen hier eingesperrt sein, in dieser Gesellschaft? Ich stellte mir vor, was man denken würde, wenn ich in den nächsten Tagen, wo mein Unterricht beginnen sollte, in M. nicht einträfe, auch in einigen Wochen nicht, und meine Erregung kannte keine Grenzen. Doch da kam mir ein glücklicher Gedanke. An den Consul in M. schreiben und seine Hülfe anrufen! Schon war Bruder Meiniges, über mein längeres Schweigen scheinbar verdrießlich, im Begriff, fortzugehen, als ich mich an ihn wandte.

„Können Sie mir nicht sagen, ob ich einen Brief schreiben kann?“

Erschrocken fast sah er mich an.

„O,“ rief er, „das kein Haus sein zum Schreiben! Hier nicks schreiben!“

In dem Augenblicke faßte ich an meine Rocktasche und vermißte einen dem Culturmenschen unentbehrlichen Toilettengegenstand.

„Aber ich werde doch mein Taschentuch, auch Seife, Kamm und Bürste aus meiner Reisetasche erhalten können?“

„No,“ war die phlegmatische Antwort, „die bekommen’s erst, wenn sein verurtheilt: vielleicht zwei, drei Monat, oder vier Woche, oder ick nit weiß, wie viel.“

„Verurtheilt? Weshalb denn?“

„Ja, schaun’s, weil nit hab’ bezahlen der Wirth.“

Damit ging er lachend fort, die Doppelthür schloß sich, und ich war allein, oder vielmehr nicht allein, woran mich das lebhafte Zwiegespräch der beiden Strolche, das sich nach Entfernung des Unterofficiers erhob, erinnerte. Ich lief in der Zelle auf und ab, die Gedanken gingen kreuz und quer, ohne daß ein vernünftiger kam, der aus dieser Lage Erlösung zu verschaffen fähig gewesen wäre. Endlich faßte ich den Entschluß, ruhig zu werden und die Entwickelung der Geschichte geduldig abzuwarten – blieb doch nichts anderes übrig.

Des Wanderns müde, setzte ich mich auf meinen Strohsack - einen anderen Sitz gab es nicht - und fing an die Zelle und deren Insassen zu studiren. Der eine derselben, ein jüngerer Mann, lief fortwährend von einer Ecke zur anderen und gab sich anscheinend alle Mühe, mir die vortheilhafteste Meinung von seinem Tenor beizubringen, denn unaufhörlich tremolirte er:

„O cara mia
Bella donna“
etc.

wobei er die Endvokale lang verklingen ließ. Jedenfalls ein Opernsänger, den man hier gewaltsam seinem eigentlichen Berufe fern hielt zum Bedauern des Publicums, das ihn schmerzlich vermißte. Der Andere, ein älterer Mann in grauem Haar, stand stumm und in sich versunken da.

Die Nacht kam. Licht gab es natürlich nicht. Um zehn Uhr erschien die Wache mit einer Fackel und untersuchte die Zelle genau, ob nicht etwa ein Ausbruch vorbereitet werde. Doch der Opernsänger und sein stummer Genosse, letzterer in Adam’s Costüm, lagen und schliefen fest. Ich schlief nicht und war in meinen Kleidern geblieben. Man bedeutete mir, daß ich mich zu entkleiden habe, was ich aber ablehnte, obgleich man drohte, Gewalt anwenden zu wollen. Nach Entfernung der Wächter starrte ich wieder schlaflos in die Dunkelheit. Die Mosquitos umschwärmten mich in Schaaren und zerstachen mir Hände und Gesicht. Von halber Stunde zu halber Stunde ertönte der langgezogene Zuruf der Wachen auf den Wällen der Festung. Aus der Ferne schallte der mehrstimmige Gesang von männlichen und weiblichen Stimmen im Chor bis gegen Morgen. Die beiden gegenüberliegenden Fensterlöcher ließen nach Mitternacht eine kalte Nachtluft hereinströmen, die zwar die Mosquitos, wie es schien, verjagte, mich aber, der ich am Tage stark transpirirt hatte, frösteln machte. Endlich kam der Morgen, mit ihm aber auch ein bis dahin mir unbekannter Schmerz in meiner rechten Körperhälfte und Athmungsbeschwerden. Ich fürchtete, als die Schmerzen größer wurden und bestimmter in der Gegend der Lungen auftraten, eine Entzündung. Im Laufe des Vormittags kam Bruder Meiniges.

„Komm mit!“ sagte er zutraulich, und bald befand ich mich in einem Zimmer vor dem allgewaltigen Staatsanwalt. Ihm zur Seite saß ein Herr, in welchem ich den Deutschen erkannte, der, wie sich bald herausstellte, als Dolmetscher fungiren sollte.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum Anfang
Titel: Unter Spitzbuben
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 44, S. 722–724
Schluß

[722] Der Staatsanwalt fragte mich zunächst, ob ich Italienisch rede. Als ich verneint hatte, ließ er mich durch den Dolmetscher, nachdem er ihn vereidet hatte, fragen, welche Sprachen ich spreche.

Ich erwiderte ihm: „Deutsch, Französisch, Englisch.“

Das könne nicht wahr sein, rief der kleine Mann, denn wie könne man diese Sprachen erlernt haben und nicht einmal das Italienische.

Als ihm der Dolmetscher in aller Bescheidenheit bemerkte, solcher Barbarismus sei in Deutschland oft zu finden, schüttelte er das weise Haupt und murmelte:

„Impossibile! Impossibile!“

Hierauf mußte ich mich über meine Person, meine Verhältnisse, den Zweck meiner Reise, sowie den an mir verübten Diebstahl und den Conflict mit dem Gastwtrth auslassen. Ich that dies und unterließ nicht, auf meine Legitimationspapiere hinzuweisen, sowie auf verschiedene Briefe, die die Wahrheit meiner Angaben zu bestätigen im Stande waren und die man mir abgenommen hatte.

Nach Schluß der Verhandlung wurde mir eröffnet, daß ich auf Antrag jenes Wirthes wegen Diebstahls angeklagt werde, da ich, wie er behaupte, lediglich in der Absicht bei ihm eingekehrt sei, um nicht zu zahlen. Ich glaubte erst, nicht recht gehört zu haben; dann aber, meiner kaum mächtig, protestirte ich laut und heftig gegen eine solche Insinuation und verlangte die Aufnahme des Protestes, indem ich bemerkte, daß wohl eher der Ankläger an meiner Stelle sein müsse, da aus der Rechnung ersichtlich sei, wie er Dinge angesetzt habe, die ich nicht empfangen, sogar die Zeit meines Aufenthaltes habe er doppelt gerechnet. Mein Protest wurde zwar aufgenommen; meine Angaben über den Wirth und seine Rechnung aber als nach Ansicht des Staatsanwaltes werthlos unbeachtet gelassen.

Während der Verhandlung hatten sich meine Schmerzen vermehrt und veranlaßten mich zu dem Versuch, einen gesünderen Aufenthalt zu erbitten und einen Arzt zur Untersuchung.

Lachend erwiderte der edle Herr: ein Mann, der noch am Tage vorher gegessen und getrunken habe – wobei er eine entsprechende Handbewegung nach dem Munde machte – könne heute unmöglich krank sein.

Darauf machte ich die Mittheilung, daß die Gefangenen voll – Ungeziefer wären.

Schallendes Gelächter war die Antwort und der Herr Staatsanwalt erkärte, indem er sich zurücklehnte und seine Virginia weiter schmauchte, ich werde behandelt, wie jeder andere Gefangene, mehr könne ich nicht verlangen.

Zurückgeführt in das feuchte Gewölbe, fühlte ich das Fieber zunehmen und mit ihm die Schmerzen. Aber niemand kümmerte sich darum. Am Abend kam Bruder Meiniges, um mit mir „gut deutsch zu spreche“. Ich fragte, ob es denn hier Gebrauch sei, die kranken Gefangenen ohne Arzt und Hülfe zu lassen.

„O, noi,“ erwiderte er, „wenn sein krank, muß melden an die Morgen bei Unterofficier.“

Nach einer abermaligen schlaflosen Nacht that ich dies denn auch, der Unterofficier notirte es und holte mich richtig gegen Mittag ab, um mich dem Arzte vorzustellen. Er war ein kleiner ältlicher Mann. Ich redete ihn in französischer Sprache an und bat ihn, mich auf meine Schmerzen hin zu untersuchen. Wie von der Tarantel gestochen, fuhr er auf und schrie mich an, hier habe man nur italienisch zu reden. Ich sah, hier war nichts zu machen, und deshalb ersuchte ich Bruder Meiniges, der dabei stand, mich in die Zelle zurückzuführen. Dieser zögerte und sah den Arzt an, indem er ihm mein Verlangen mittheilte. Da sprang dieser auf, stellte sich vor mich hin und: „Parlez français!“ lautete die nicht freundliche Aufforderung.

[723] Ich setzte ihm nun aus einander, was mir fehle, wo ich Schmerzen habe, wie dieselben sich äußerten und wie nach meiner Ansicht eine Entzündung, oder dergleichen vorliege. Als er keine Anstalt zur Untersuchung machte, bat ich ihn, mir wenigstens ein Tuch zu verschreiben, damit ich mir Kaltwasserumschläge machen könne.

„Sie erhalten nichts!“ rief der würdige Jünger Aesculaps, drehte sich kurz um und mit den Worten: „Man weiß nicht, ob es wahr ist,“ setzte er sich wieder an seinen Tisch.

Ich aber, um einen Thell Hoffnung auf menschliche Behandlung ärmer, spazierte mit Bruder Meiniges in meine Zelle zurück. Wollte man mich mit Gewalt umbringen? Unwillkürlich fiel mir Fritz Reuter und Onkel Dambach ein, und wie Ersterer mit dem Franzosen zusammen in der Berliner Hausvogtei krank und erschöpft drei Tage und drei Nächte im Winter auf bloßen Dielen in ungeheizter Zelle hatte zubringen müssen. Ich nahm mir vor, den Onkel Dambach’s hier und ihrer rohen Gewaltthätigkeit Gleichmuth und festen Muth entgegenzusetzen. Diese Italiener konnte ich zwar in ihrem augenscheinlichen Verlangen, einen Deutschen zu quälen, nicht hindern, wenn sie aber hofften, mich mürbe zu machen, so sollte ihnen das ungeachtet meiner Krankheit nicht gelingen, und sie sollten mich nicht schwach sehen.

So vergingen vier Tage, ohne daß ich einen Bissen genießen konnte, nur schmutziges Wasser, das ich mit Ekel trank, genoß ich des Fiebers wegen. Am fünften Tage erschien Bruder Meiniges. „Nimm Dein Mantel!“ sagte er, indem er auf meinen Ueberzieher zeigte.

Schon glaubte ich, die Stunde meiner Befreiung habe geschlagen, aber ich wurde bald enttäuscht, denn ich sollte nur die Zelle wechseln. Ich wurde in ein anderes, ebenfalls zu ebener Erde liegendes Gewölbe gebracht, das fünf Insassen zählte von dem verschiedensten Alter. Das Gewölbe hatte den Vorzug, daß die Strohsäcke nicht auf dem feuchten Steinboden lagen, sondern auf hölzernen Gestellen. Einer von den Bewohnern wurde mir vom Unterofficier als der französischen Sprache kundig vorgestellt und mir anheimgegeben, mich mit ihm zu verständigen. Alle waren außer einem leinenen Hemd nur mit leinenem Beinkleid bekleidet, die Füße mit Holzpantoffeln. Da ich in ihren Augen fein gekleidet war, mochten sie mich wohl für irgend einen Genossen halten, der sein Handwerk im großen Stile trieb, und sie traten, als ich von dem kurzen Gange erschöpft und voller Schmerzen mich auf mein Lager warf, mir mit einer Art vertraulichen Respectes entgegen und stellten sich um mein Bett herum. Der Aelteste, schon grau von Haaren, war eben der, welcher französisch sprach; er bewirkte die Vorstellung. Ich war also unter Leuten, die Lebensart hatten.

Er fing mit sich selbst an. In seinem italienischen Französisch begann er: „Ich bin afrikanischer Chasseur gewesen, habe vierzehn Jahre gedient, aber als Militär nur acht Jahre, im Gefängniß sechs Jahre.“

Ich fragte ihn, warum er jetzt hier wäre.

„Eh!“ erwiderte er verächtlich, „kleiner Diebstahl, nur eine Uhr.“

„Wie lange müßt Ihr dafür sitzen?“

„Drei Jahre,“ und erklärend setzte er hinzu: „Es ist das sechste Mal, daß ich bestraft werde, deshalb habe ich drei Jahre erhalten.“

„Was werdet Ihr thun, wenn Ihr die Strafe verbüßt habt?“

„Dasselbe, stehlen!“ erwiderte er ohne Zögern und mit entsprechender Handbewegung. „Und dieser hier,“ dabei zeigte er auf einen neben ihm stehenden jüngeren Mann, „mit diesem ist es dasselbe, er hat mehrere Male gestohlen.“

„Und die übrigen drei?“

„Alle haben sie mehrere Male gestohlen,“ war die Antwort.

Also unter mehrfach bestrafte Diebe hatte man mich eingesperrt, mich, den Bestohlenen; und ihr glücklicherer Genosse saß jetzt vielleicht mit meinem Gelde und ließ sich’s wohl sein, während ich an seiner Stelle im Gefängniß saß. Erhebendes Bewußtsein!

Der Jüngste der sauberen Gesellschaft, ein frecher Bursche von achtzehn Jahren, rühmte sich, schon als kleiner Knabe von acht Jahren den ersten Diebstahl begangen zu haben. Es war eine Diebsgesellschaft, die ihre weitere Ausbildung im Handwerk mit Ernst und Eifer betrieb, praktisch und theoretisch.

In Bezug auf die letztere, die theoretische Ausbildung, hatten sie sich mit der geeigneten Lectüre versehen. Gleich am folgenden Tage brachte mir einer derselben eine Anzahl Lieferungen eines, wie er sagte, vorzüglichen Buches. Ich warf einen Blick darauf und las mit Erstaunen: „Rinaldo Rinaldini, capo di Briganti di XVIII. secolo. I misteri degli Abruzzi, Romanze popolare per A. Sondermann. Editore Meyer in Genf.“ (Rinaldo Rinaldini, Räuberhauptmann des achtzehnten Jahrhunderts. Die Mysterien der Abruzzen; volksthümlicher Roman von A. Sondermann, Verleger Meyer in Genf.)

Also zwei Deutsche, wenigstens dem Namen nach, erwarben sich das unschätzbare Verdienst, durch Schilderung der Gräuelthaten des bekannten Räubers das Bildungsbedürfniß der eingesperrten Verbrecher zu befriedigen und ihre Laufbahn als edel und erhaben in den lockendsten Bildern ihnen vorzumalen.

„Rinaldo Rinaldini,“ so sagen sie in ihrer Ankündigung. „Wer hat nicht von ihm sprechen hören, das Leben dieses Sohnes der Wälder besingen hören, des mächtigen Beherrschers der Abruzzen? Selbst die Kinder kennen ihn dem Namen nach.“ – O, ihr Herren Sondermann und Meyer, möchtet ihr doch selbst in die Abruzzen gehen oder – zum Henker! – Mit großen Lettern war dann unter dieser Anpreisung verheißen: „Ciascun abbonate ricevera in premio gratuito:

Il ritratto del Re Umberto.“

Also jeder Abonneten erhielt gratis ein Bild des Königs Humbert von Italien! – Hatte diese Verheißung dem berühmten Räuber den Eintritt in das Gefängniß der Verbrecher ermöglicht, damit seine Geschichte fort und fort wirke zur Bildung würdiger Nachfolger? Ich weiß es nicht; ich habe nur gesehen, daß man diese Lectüre ruhig in den Händen der Leute ließ, während man mir Taschentuch, Kamm und Seife als wahrscheinlich unpassende, wenn nicht gefährliche Dinge versagte. – O Italien, wunderbares Land! Land der Contraste!

Während des ganzen Tages saßen die Leute und arbeiteten. Frauenstrümpfe mit kunstvollen Rändern, Kindermützchen u. dergl. wurden von ihnen ohne Vorlage geschickt und in unglaublich kurzer Zeit angefertigt. Gegen Abend aber wurde Rinaldo hervorgeholt. Einer der Jüngeren, der des Lesens kundig war – ein Priester kam jede Woche drei Mal, um die jüngeren Gefangenen in der Kunst des Lesens zu unterweisen und zu üben, wie man mir sagte, ohne dafür von der Regierung bezahlt zu werden – also Einer setzte sich dann auf einen Strohsack, die Anderen gruppirten sich um ihn und hörten mit sichtlichem Interesse zu. Der Vorleser unterbrach sich oft, um eine Stelle mit anderen Worten zu wiederholen oder auch eine Erklärung zu geben. Kam eine besonders interessante Stelle oder etwas, was sie nicht erwartet hatten – und interessante Stellen schien es viel zu geben – dann stießen sie den Ruf aus, der alle Empfindungen auszudrücken schien und den ich hunderte Mal täglich hörte: „O Christo! O Christo santo! O Christo e Madonna!“

Wenn dann die Dunkelheit hereinbrach, dann hörte wohl der Leser auf, aber das durch die Lectüre angeregte Thema wurde fortgesponnen; es wurden Geschichten erzählt (und der ehemalige Chasseur d’Afrique war besonders stark darin), in welchen Carabinieri und Briganti die Hauptrolle spielten. Dabei liefen sie in der Zelle auf und ab, der Chasseur gesticulirte nicht nur lebhaft, sondern stellte die geschilderten Situationen auch dar, so weit es der beschränkte Raum zuließ. Bald glitt er an der Wand hin, wie um den Verfolgern auszuweichen, bald machte er gewaltige Sprünge, immer dabei lebhaft erzählend, oder er sprang auch wohl in das hochgelegene Fenster, hier alle möglichen gymnastischen Uebungen vornehmend, während die Anderen ihm bewundernd zusahen, um es ihm später nachzuthun. Er zeigte eine Kraft des Körpers, verbunden mit einer katzenartigen Geschmeidigkeit, daß er ein guter Lehrmeister der Anderen war, diese aber gelehrige und willige Schüler.

Wenn dann nach Dunkelwerden draußen die Glocke zum Schlafengehen ertönte, dann wurde das Gespräch leise, aber nicht minder lebhaft fortgeführt, bis um zehn Uhr die visitirende Wache kam. Ein Huschen hin und her, und die Eintretenden fanden Alles im tiefsten Schlafe. Doch nicht alle Abend wurde erzählt. Sie sangen und marschirten dazu. Unter den Marschliedern war eins, das besonders beliebt zu sein schien. Das Lied ist eine Erinnerung an 1870. Es wird in ihm von verrätherischen Generalen gesprochen, die 130,000 Gefangene an die Preußen geliefert haben, und schließlich Napoleon selbst als Verräter bezeichnet, den man nicht haben will: „Noi non vogliamo più Napoleone!“

Aber ich bin diesen Leuten doch zu Dank verpflichtet, und ich will nicht unterlassen, es zu erwähnen. Während die Wächter und Aufseher ihren ganzen Hohn und Spott tagtäglich über den kranken Tedesco ausschütteten, mir jede Hülfe versagt wurde, waren diese Ausgestoßenen barmherziger. Mit Sorgfalt machten sie mir die Kaltwasserumschläge, die ich verlangte.

Als ich eines Tages einen Asthma-Anfall bekam, der mich zu ersticken drohte, und die rohen Wächter, die gerufen wurden, auch jetzt, anstatt mir Hülfe zu leisten, respective den Arzt zu rufen, ärgerlich über die Störung in ihrem dolce far niente, nur Verwünschungen und Spott hatten, mit dem sie sich schleunigst wieder entfernten, bemühten sich diese Leute um mich, frottirten mir Brust und Rücken und ließen für ihr Geld – sie waren verurtheilte Verbrecher und konnten daher Alles haben, während man mir, dem Untersuchtungsgefangenen, Alles versagte – in der Cantine der Festung Camillenthee bereiten, den sie mir einflößten. Jeden Abend schüttelten sie mir meinen Strohsack auf, um mich so weich wie möglich zu betten, und verschiedene Abende besorgten sie mir sogar eine Tasse Milch, da sie, wie sie sagten, es unmöglich fänden, daß ich bei Wasser und Brod existiren könnte. Während sie seitens der Gefangenenanstalt mit reiner Wäsche sonntäglich versorgt wurden, versagte man mir ausdrücklich die Darreichung derselben. Da stellten sich die Verbrecher hin und wuschen mir meine Hemden, denn, bemerkten sie, es sei gegen ihre Ehre, mich in solchem Zustande zu lassen.

Dank Euch, Ihr ehrlichen Spitzbuben! Wer weiß, was ohne Euch aus mir geworden wäre!

Als ich zehn Tage in den geschilderten Zustande zugebracht hatte, wurde ich eines Morgens gezwungen, mich zu erheben, um vor das Tribunal geführt zu werden. Langsam nur konnte ich folgen. Man führte mich in die Schreiberstube, und hier geschah etwas, was nach allem Vorhergegangenen ich doch nicht erwartet hatte. Zwei Gensd’armen erwarteten mich. Kaum war ich eingetreten, als der eine derselben über mich herfiel, sich meiner linken Hand bemächtigte, eine starke eiserne Kette darum schlang, die er zusammenknebelte. Dann schloß er mich an ein anderes Individuum an, und nun wurden wir Beide hinausgetrieben über den Hof in ein gegenüber stehendes großes Gebäude, dort wurde ich in ein Zimmer gesperrt und an beiden Händen mit eiserner Kette geknebelt.

Ich glaubte, im Fiebertraum zu sein. Nach längerer Zeit wurde ich wieder herausgeholt, die Kette mir abgenommen und ich dann in einen Saal geführt, den ich sogleich als den Sitzungssaal des Tribunals erkannte. Er war mit Zuhörern dicht gefüllt und hatte ganz das Aussehen eines deutschen Gerichtssaales. Fünf Richter in schwarzem Talar saßen auf einer Tribüne, rechts der Staatsanwalt, links der Vertheidiger. Ich übergehe die ausführliche Beschreibung der Verhandlung, da sie von ähnlichen Proceduren in Deutschland nicht sehr verschieden ist.

Der Staatsanwalt beantragte auf Grund der Aussage jenes Wirthes, mich wegen versuchten Betrugs zu sechs Tagen Gefängnis zu verurtheilen, wie mir durch den Dolmetscher mitgetheilt wurde. Schon wollte ich, meine Schmerzen verbeißend, mich erheben, um meine Vertheidigung selbst zu führen, als auf einen Wink des Präsidenten der Vertheidiger sich erhob.

[724] In längerer Rede wies er, wie ich später erfahren, auf das gänzlich Unbegründete der Anklage hin. Ein Mann, so führte er aus, der einige Wochen eine wissenschaftliche Reise gemacht, wie aus den Notizen hervorgehe, die er bei sich trage, der ferner solche Documente, wie Paß und Diplom einer deutschen Universität, besitze, aus dessen Briefen man alle seine Angaben über seine Stellung, seinen Beruf etc. bestätigt finde, und der, was man auch gethan habe, um ihn zum Vagabonden zu stempeln, diesen Eindruck gewiß nicht mache, könne doch unmöglich hierher gekommen sein, in eine Gegend, die er nicht kenne, unter Leute, deren Sprache er nicht spreche, um einen Wirth um siebenzehn Franken zu betrügen. Vielmehr sei, da alle meine anderen Angaben sich als wahr ergeben hätten, auch wohl meine Aussage zu glauben, daß ich der Bestohlene sei. Er schilderte das Verfahren des Wirthes nicht blos als inhuman, sondern als perfid, da er, anstatt mir mit Rath in meiner durch den Verlust sehr unangenehmen Lage beizustehen, in perfider Weise mich als Betrüger der Polizei denuncirt habe.

Das war brav, Herr Advocat A…!

Der Gerichtshof zog sich zurück, die Verhandlung dauerte aber nicht lange. Bald erschienen die Herren und der Präsident verkündete den Spruch, wonach ich für nichtschuldig erklärt und mir eröffnet wurde, daß ich unmittelbar in Freiheit gesetzt werden sollte.

Ich athmete auf und vergaß sogar auf einige Zeit meine Schmerzen, so sehr wirkte dies freisprechende Urtheil auf mich und die Gewißheit, diesen Ort in wenigen Stunden schon verlassen zu können. Freiheit! Freiheit! Sie sollte mir Gesundheit und Alles wiedergeben, was mir theuer war. Als ich daher in das Gefängniß, diesmal ohne Ketten, zurückgeführt wurde, hielt ich dies blos für Formalität, bis die betreffenden schriftlichen Ordres etc. gegeben sein würden! Ich warf mich auf mein Lager, um Kräfte zu sammeln für den nachherigen längern Gang in die Stadt. Aber Stunde auf Stunde verging, und kein erlösender Engel in Gestalt eines blauen Unterofficiers erschien, um mich in die ersehnte Freiheit zu führen. Die Nacht brach herein, und für heute mußte ich wohl auf Befreiung verzichten, das sah ich ein.

Als der Morgen kam, hielt ich mich bereit, um auch nicht eine Minute länger hier bleiben zu müssen, wenn die Erlaubniß zum Fortgehen käme. Da kam denn endlich ein Unterofficier und theilte mir in französischer Sprache mit, daß ich auf Anordnung der Polizei bis auf Weiteres inhaftirt bleibe.

Ich war wie vom Schlage getroffen und brachte nur ein „unmöglich!“ heraus. Die Wächter brachen darüber in lautes Gelächter aus und entfernten sich. Es war aber auch gar zu spaßhaft, daß ein Deutscher eine solche Willkür der Polizei für unmöglich hielt. Ich mußte mich fügen und that es in stummer Resignation. Aber diese zehn Tage, die ich von dem freisprechenden Erkenntnisse an noch an diesem Orte zubringen mußte, waren härter als die vorhergehenden.

Ich verlangte Schreibmaterial, um endlich nach außen Nachricht von meinem Aufenthalte geben zu können – vergebens! Ich beanspruchte eine gesündere Zelle und bestand darauf, daß man kein Recht habe, mich mit bestraften Verbrechern einzusperren, nachdem ich freigesprochen sei – Alles vergebens! Ich war in der Gewalt der Polizei und sollte erfahren, was eine italienische Polizeibehörde vermag ungeachtet des Richterspruches, der in aller Form abgefaßt und rechtsgültig war.

Als einige Tage vergangen waren, rieth mir mein afrikanischer Chasseur, mich an den Geistlichen zu wenden, der alle Wochen mehrere Male zum Unterrichte komme. Er habe das Recht, sich der Kranken anzunehmen, und verschaffe ihnen die Bedürfnisse, die von der Verwaltung nicht gewährt würden. In meiner ungewöhnlichen Lage betrat ich diesen für mich ungewöhnlichen Weg, schickte ihm heimlich durch einen seiner Schüler einen Zettel, worin ich ihm meine Lage aus einander setzte und um seine freundliche Vermittelung bat.

Statt aller Antwort sandte er mir ein Buch in französischer Sprache „Conversion merveilleuse de Mr. Marie Ratisbonne“, eine Geschichte, in welcher unter Anführung der wahrheitsgetreuen Berichte von Augenzeugen erzählt wird, wie ein Jude, erfüllt von Haß gegen die katholische Kirche, im Jahre 1842 am 20. Januar in eine alte verlassene, der Jungfrau Maria geweihte Capelle eingetreten und dort in Zeit einer Viertelstunde durch das unmittelbare Erscheinen der heiligen Jungfrau in Person aus einem Feinde der Kirche in einen gläubigen Sohn derselben umgewandelt worden sei.

Ich schickte dem Herrn bei seinem nächsten Besuche das Buch mit bestem Danke zurück, worauf er mir sagen ließ, er habe nichts weiter für mich.

Da kam Bruder Meiniges und fragte mich, ob ich etwas lesen wolle, lesen sei erlaubt, aber weiter nichts. Ich erwiderte, daß es hier für mich wohl kaum etwas geben könne.

„O,“ erwiderte er, „der Chef hab Bücher, viel Bücher.“

Nicht lange darauf erschien der Gefängnißschreiber und redete mich mit seinem piemontesischen Französisch mit wichtiger Miene an. Er habe, so sagte er, auf sein Ansuchen vom Chef etwas Ausgezeichnetes erhalten. Der letztere lasse mir sagen, das Buch aber ja in Acht zu nehmen, da es ihm sehr werthvoll sei; es sei das Ausgezeichnetste und Feinste, was es gäbe. Zwar, und hier flog ein verschmitztes Lächeln über sein breites Gesicht, sei das Buch eigentlich unmoralisch, aber es ist etwas, das man lesen muß, denn der Zweck ist gut, ja man kann sagen, sehr gut.

Ich war nach dieser Einleitung etwas gespannt, dies sonderbare Buch kennen zu lernen. Als er es mir endlich in die Händc gab, las ich: „La dame aux Camélias par Alexandre Dumas fils“. Fast hätte ich gelacht, doch ich wollte den kleinen Mann nicht beleidigen, glaubte er doch, mir eine große Gefälligkeit zu erweisen durch Ueberreichung des Buches.

Welche werthvolle Lectüre gab es in diesem italienischen Gefängnisse! Die Verbrecher hatten ihren Rinaldo Rinaldini, der Priester seine Bekehrungsgeschichten von Juden, Protestanten und andern Heiden, der Chef aber seine „Cameliendame“ mit dem unmoralischen Inhalt, aber doch guten Zweck.

Ich schließe hiermit meine Geschichte und füge nur noch hinzu: Nachdem ich drei Wochen ohne Grund eingesperrt gewesen war, wie der gemeinste und schwerste Verbrecher behandelt, ließ man mich nicht etwa einfach frei, sondern ich wurde, auf Antrag der Polizei, vom Minister des Landes verwiesen. Ich will keinen zu schweren Stein auf die hier auf die Scene meiner Geschichte geführten Obrigkeiten werfen. Irren ist menschlich, nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Wenn aber eine Nutzanwendung für die Sicherheit von Reisenden gegen solche unberechenbare Irrthümer aus meinem Mißgeschick hervorgehen könnte, so würde dies mir die Erinnerung an dasselbe doch wenigstens zu etwas Erfreulichem machen.