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Unschuldig verurtheilt! (Die Gartenlaube 1891)

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Textdaten
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Autor: Friedrich Helbig
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Titel: Unschuldig verurtheilt!
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, 9, 20, 32, S. 6–8, 138–141, 328–331, 544–547
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Unschuldig verurtheilt!

Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums. 0 Neue Folge.
Seltsame Verkettungen und Lösungen des Zufalls. – Der Prozeß des Fräulein Schimmel. – Irrungen der Wiedererkennungszeugen. – Opfer falscher Anzeige.

Als wir im vorigen Jahrgang das Kapitel von den Verurtheilungen Unschuldiger, welches die „Gartenlaube“ bereits mehrfach beschäftigt hat, wieder aufnahmen, konnten wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Entschädigung solcher Opfer der irrenden Justiz bald eine gesetzliche Regelung erfahren werde. Diese Aussicht hat sich inzwischen durch die Wiedereinbringung eines dahinzielenden Antrags im Deutschen Reichstage verstärkt, und es könnte uns keine größere Freude bereitet werden, als wenn das erstrebte Ziel thatsächlich erreicht würde. In Erwartung dessen fahren wir mit unseren Veröffentlichungen einzelner besonders lehrreicher Fälle von Verurtheilungen Unschuldiger fort.

Ein bezeichnendes Beispiel, wie durch eine seltsame Verkettung zufälliger Umstände der Verdacht eines verübten Verbrechens mit scheinbar zweifelloser Gewißheit begründet und durch dieselbe Verkettung des Zufalls gleichzeitig wieder beseitigt wurde, ist das folgende.

Der Pfarrer von Wegby in England hatte im Jahre 1861 während einer längeren Abwesenheit vom Orte die Frau seines Küsters, Martha Smith, als Hüterin des Pfarrhauses bestellt. Sie schlief allein in dem geräumigen Hause. Als der Küster eines Morgens in gewohnter Weise seine Frau dort abholen wollte, fand er sie – es war an einem Montag – als Leiche am Boden liegen. Ihre Hände und Füße waren mit hanfenen Stricken zusammengebunden, ein Tuch ihr übers Gesicht gezogen, ein Strumpf ihr in den Hals gesteckt; ein Knüttel von Buchenholz lag im Zimmer. Nahe an der Schulter fand man ein mit Bindfaden geschnürtes Packet, welches verschiedene Papiere in deutscher Sprache enthielt, darunter ein Dienstbuch für „Karl Kranz in Schandau“ mit der üblichen Personalbeschreibung, einen Brief ohne Adresse mit der Unterschrift „Adolf Mohn“, ein an eine Dame gerichtetes Unterstützungsgesuch und den Empfehlungsbrief einer deutschen Opernsängerin in London, am Tage vor dem Morde geschrieben. Bald darauf wurde in London ein deutscher Handwerksbursche Namens Karl Kranz einer unerheblichen Uebertretung wegen festgenommen. Die Beschreibung im Dienstbuche paßte genau auf ihn. Eine Handelsfrau, die Witwe Blout, beschwor, daß sie am Sonntage früh Hanftau an zwei Ausländer verkauft habe, deren einer dem Kranz geglichen habe. Auch ihre Magd bestätigte dies. Der buchene Knüttel aber paßte genau zu einem abgebrochenen Baumaste in einem nahe bei dem Thatorte gelegenen Dickichte, in welchem ein Zeuge am Sonntag ebenfalls zwei unbekannte Bursche hatte vorbeigehen sehen, von denen der eine dem Kranz ähnelte. Beim Durchsuchen der Wohnung des Kranz in London endlich fand man, daß ein demselben gehörendes Hemd mit einem hanfenen Stricke zusammengebunden war von gleicher Beschaffenheit wie die Stricke, mit denen die Ermordete gebunden war, und der auch zu dem Ballen paßte, von dem die Frau Blout für den Fremden abgeschnitten hatte. Es war nämlich ein Gespinst von ganz besonderer Art. Bei einer solchen Häufung von Verdachtsgründen konnte kaum noch ein Zweifel bestehen, daß Kranz der Mörder der Küstersfrau sei.

Und nun die Lösung!

Karl Kranz war im Frühjahr 1861 nach England ausgewandert. Nachdem er in Hull gelandet war, nahm er zu Fuß den Weg nach London. Unterwegs begegnete er zwei Landsleuten, den Matrosen Adolf Mohn und Wilhelm Gerstenberg. Der letztere besaß keine Papiere und drang daher fortwährend in Kranz, daß er ihm sein Dienstbuch überlassen solle, was Kranz indeß ablehnte. Als aber die drei miteinander im Freien übernachteten waren am Morgen die beiden Matrosen verschwunden, zugleich mit ihnen das Kranzsche Dienstbuch und ein Packet, in dem sich ein zweiter Anzug befand, der genau so beschaffen war wie der, den Kranz bereits trug.

Damit war erklärt, wie der Mörder der Frau Smith in den [7] Besitz des auf Kranz lautenden Dienstbuchs gekommen war, das er wohlüberlegt am Orte der That zurückließ, um den Verdacht von sich ab auf den im Buche beschriebenen Inhaber zu lenken. Damit war zugleich erklärt, wie die Frau Blout und die andern Zeugen einen der beiden Fremden für Kranz halten konnten, da er den Anzug des Kranz angezogen hatte. Aber der hanfene Strick? Kranz behauptete, daß er den bei ihm vorgefundenen Hanfstrick in der Nähe eines Tabakladens in der Commerce-Street in London gefunden habe. Man untersuchte den Ort und bemerkte, daß neben dem Laden sich eine Seilerwerkstatt befand, aus welcher die Frau Blout in Wegby ihre hanfenen Stricke bezog. Man fand auch Theile solcher noch im Hofe und auf der Straße. Die Opernsängerin – es war Frau Jenny Lind-Goldschmidt – erklärte, daß ein Deutscher ihre Hilfe angegangen habe, um sich Empfehlungen zu verschaffen, aber die Beschreibung desselben paßte nicht auf Kranz. Durch Schriftenvergleichung wurde endlich festgestellt, daß die Unterschrift „Adolf Mohn“ nicht von Kranz herrührte. Nun war der Entlastungsbeweis geführt und Kranz wurde vom Schwurgericht freigesprochen. Fürwahr ein grausames Schicksal, das einen Menschen seiner Legitimationspapiere beraubte und sie in die Hände eines Mörders spielte, das diesem Mörder durch die gestohlenen Kleider soviel Aehnlichkeit mit jenem Unschuldigen verlieh, daß Zeugen beide verwechseln konnten, und das den Ahnungslosen auch noch in den Besitz der nämlichen Gattung eines Stricks versetzte, deren sich der wirkliche Mörder bedient hatte.

Von einem ähnlichen Schicksale wurde ein italienischer Matrose bedroht, der einem andern sein Messer kurz vor einer Schlägerei geborgt hatte. Die letztere fand in einer Hafenwirthschaft in London bei ausgelöschten Lichtern statt und endete damit, daß einer der betheiligten Matrosen erstochen wurde. Das Messer, welches ihm noch in der Brust stak, wurde bald als das jenes Italieners erkannt und dieser verurtheilt. Der richtige Mörder war inzwischen entflohen. Nur den opfervollen Bemühungen eines wohlhabenden Landsmannes des Italieners gelang es, den Flüchtigen ausfindig zu machen und zu einem Geständnisse zu vermögen. Das Urtheil über den vermeintlichen Mörder konnte nun zwar nach englischem Rechte nicht wieder rückgängig gemacht werden, aber die Strafe wurde ihm im Gnadenwege erlassen.

Erst neuerdings wurde die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen Fall der Verurtheilung einer Unschuldigen, eines Fräulein Amalie Schimmel in Breslau gelenkt, in welcher ebenfalls die eigenthümliche Lage der Umstände den Verdacht von vornherein zu rechtfertigen schien. Der Fall ist in einer bei Braun und Weber in Königsberg i. Pr. erschienenen Broschüre behandelt, welche der thatkräftige Verfechter der Entschädigungsansprüche unschuldig Verurtheilter im Reichstage, Rechtsanwalt Munckel in Berlin, mit einem Vorwort versehen hat.

Fräulein Schimmel, eine den gebildeten Ständen angehörige, zur Zeit bereits hochbetagte Dame, führte seit dem Jahre 1858 dem früheren Kaufmanne, späteren Rentier Kästner in Breslau die Wirthschaft. Sie wurde in dieser Stellung, welche sie sorgsam und gewissenhaft ausfüllte, auch belassen, als Kästner wegen eingetretener Geistesschwäche einen Zustandsvormund in der Person eines Kaufmann Rentsch erhielt. Als Kästner am 23. Juni 1886 starb, fand man bei Ordnung des Nachlasses, daß für 24 000 Mark Werthpapiere fehlten. Eine bei der Wirthschafterin vorgenommene Haussuchung ergab, daß diese gegen 10 000 Mark Werthpapiere besaß, unter denen sich auch 3000 Mark konsolidirte preußische Staatsanleihe befanden, von welchen genau feststand, daß sie dem Kästner gehört hatten. Die bereits in den siebziger Jahren stehende Wirthschaftsdame wies zwar im allgemeinen nach, daß sie gegen 10 000 Mark sich nach und nach erworben habe, und behauptete, daß sie die Konsols von Kästner ausgehändigt erhalten habe zur Deckung der Ansprüche, welche ihr gegen ihren Dienstherrn für Auslagen und Lohn erwachsen waren; da sie aber über den Verbleib der fehlenden 21 000 Mark keine Auskunft zu geben vermochte, da man außerdem entdeckte, daß in dem Verzeichnisse der Kästnerschen Wertheffekten ein Blatt herausgerissen war, und endlich auch ein Nachschlüssel zum Geldschranke sich vorfand, so wurde gegen Amalie Schimmel die Untersuchung wegen Diebstahls eingeleitet, deren Endergebniß am 6. Dezember 1887 die Verurtheilung der Angeschuldigten wegen Diebstahls von 24 000 Mark zu einem und einem halben Jahre Gefängniß und zwei Jahren Ehrverlust war.

Inzwischen war ein Bekannter der Verurtheilten, ein Kaufmann Rupp in Königsberg, der an ein Vergehen der Dame nicht glauben konnte, rastlos bemüht gewesen, ihre Unschuld zu Tage zu fördern und besonders den Verbleib der fehlenden Werthpapiere zu ermitteln. Es gelang ihm endlich, nachdem die Verurtheilung bereits erfolgt war, festzustellen, daß die 21 000 Mark Obligationen am 22. Juni 1886 bei der Handlung Günther und Rudolph in Dresden auf den Namen eines Herrn von Stutterheim-N.-(Nieder-)Wintersdorf verkauft worden waren und sich nach mehrfachem Weiterverkaufe jetzt im Depot der Firma S.  Bleichröder in Berlin befanden. Nun galt es, über den angeblichen Verkäufer der Papiere weitere Ermittelungen anzustellen. Dieselben erwiesen sich aber als erfolglos; der Name Stutterheim-N.-Wintersdorf war offenbar ein falscher. Indessen hatte ein von Rupp unter Aussetzung einer Belohnung erlassener öffentlicher Aufruf den Erfolg, daß, wenn auch zunächst auf dem Wege namenloser Mittheilungen, der Verdacht der Entwendung der Papiere auf den Kästnerschen Zustandsvormund Rentsch gelenkt wurde. Damit wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens erreicht, welche die volle Unschuld des Fräulein Schimmel und die Schuld des Rentsch ergab. Jene wurde, nachdem sie bereits neun Monate ihrer Gefängnißstrafe verbüßt hatte, wegen Diebstahls gänzlich freigesprochen, in Betreff der 3000 Mark Konsols wurde dagegen angenommen, daß sie zwar die Papiere in Pfandbesitz erhalten habe, aber dieselben, da inzwischen ihre Ansprüche an Kästner durch Zahlung getilgt waren, nicht länger hätte behalten dürfen. Das Gericht erblickte in dieser Handlungsweise – die alte Dame war sich deren Tragweite wohl nicht bewußt gewesen – eine strafbare Veruntreuung, für welche man eine Strafe von sechs Monaten Gefängniß in Ansatz brachte, sodaß die Angeklagte immerhin drei Monate unschuldig Strafe verbüßte. Der tapfere Befreier der Unschuld war dabei sogar in die Lage gekommen, eine Zeitlang selbst für den Dieb gehalten zu werden.

Mancher Unschuldige wird das Opfer einer falschen Zeugenaussage. Aber die Falschheit der Aussage braucht nicht immer den Charakter eines wissentlichen Meineids zu tragen, sie ist oft nur das Ergebniß unrichtiger Sinneswahrnehmung. Einer solchen Täuschung unterliegen namentlich die Zeugen oft dann, wenn es sich um die Frage der Wiedererkennung der Person des Angeschuldigten handelt. Eine Person, die man, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken, nur flüchtig sah, namentlich bei eingetretenem Wechsel der Kleidung wiederzuerkennen, ist keine leichte Sache gegenüber der Verantwortung, die man dabei übernimmt. Sichere Wiedererkennungszeugen sind daher auch ziemlich selten. Aber auch sie müssen dann manchmal erfahren, daß sie sich täuschten.

So wurde während der Untersuchung gegen eine Räuberbande, welche Ende der vierziger Jahre den Kreis Beuthen beunruhigte, ein gewisser Schewior von einem Kaufmann B., den man beraubt und dabei mit Erschießen bedroht hatte, bestimmt als Mitthäter erkannt und deshalb zu lebenslänglichem Zuchthause verurtheilt, obwohl der Verurtheilte behauptete, zu jener Zeit im Zuchthause gesessen zu haben. Man ließ die Ausrede unbeachtet, da der Angeklagte an sich nicht glaubwürdig erschien. Da derselbe aber im Gefängniß immer wieder auf die Angabe zurückkam, zog man die Akten bei und fand dieselbe bestätigt. Schewior wurde nunmehr nachträglich freigesprochen.

Bedenklich ist es auch, auf das Zeugniß von Kindern und halbwüchsigen Personen etwas zu geben, da dieselben vielfach den Einflüssen Erwachsener, besonders der bei der Sache interessirten oder gar auf gemeinen Gewinn spekulirenden Eltern unterworfen sind. Erst ganz neuerdings beschäftigte sich die Presse mit einem Falle, in welchem ein unbescholtener, gut gestellter Berliner Kaufmann infolge der lügenhaften Aussagen von drei Schulmädchen unschuldig zu schwerer Strafe verurtheilt wurde. Die Mädchen behaupteten, durch einen Wüstling sittlich geschädigt worden zu sein, dessen Person sie nicht näher zu bezeichnen vermochten. Ein Polizeibeamter hatte ihnen eine Belohnung von anderthalb Mark versprochen, wenn es ihnen gelänge, den Mann wieder aufzufinden. Die Mädchen stellten sich hierauf in der Belle-Alliancestraße auf, wo sie die Vorübergehenden musterten und hierauf dem Schutzmann den gerade vorübergehenden Kaufmann Gustav Lebram als den Schuldigen bezeichneten. Trotz der gegentheiligen Betheuerungen des Bezichtigten wiederholten die Mädchen auch vor Gericht ihre Angabe, und Lebram wurde auch in zwei Fällen des ihm zur [8] Last gelegten Verbrechens für überführt erachtet und zu einem Jahr Gefängniß und Ehrverlust verurtheilt. Einstweilen gegen Kaution freigelassen, sammelte Lebram so viel neue Belege für seine Schuldlosigkeit, daß er die Wiederaufnahme der Untersuchung durchsetzte; der Unschuldsbeweis wurde jetzt so überzeugend geführt, daß sich endlich auch die Mädchen herbeiließen, ihre gewissenlose Anzeige als falsch zu bezeichnen, und das Gericht in Uebereinstimmung mit dem Staatsanwalt den Angeklagten nicht bloß freisprach, sondern auch die Kosten der Vertheidigung der Staatskasse auferlegte. Das aber war nicht mehr zu beseitigen, daß Mann unter dem Drucke seiner Lage inzwischen nicht nur geistig und körperlich, sondern auch finanziell zusammengebrochen war.

[138]
Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums. 0Neue Folge. 0II.
Das eigne Kind als Ankläger seiner Eltern. – Ein falsches Geständniß zur eignen Rettung. – Der Beweis des Alibi. – Der Prozeß Ziethen-Wilhelm in Elberfeld: Schuldig oder Nichtschuldig?

Von den Opfern falscher Anzeigen sind sicher diejenigen die bemitleidenswerthesten, denen das eigene Kind als falscher Zeuge entgegentritt. Nachdem wir unseren letzten Artikel (Nr. 1 dieses Jahrgangs) mit einem Fall beschlossen, wo der Leichtsinn von ein paar Schulmädchen genügt hatte, um einen Unschuldigen durch falsche Aussage in Schmach und Unglück zu bringen, beginnen wir heute mit einem Beispiel, das ein Kind als falschen Ankläger der eigenen Eltern zeigt. Diese Art Fälle sind keineswegs so selten, wie man glauben sollte; schon in Hexenprozessen der früheren Jahrhunderte findet man diese tragische Erscheinung: es ist, als ob das Entsetzen beim Bestehen eines scharfen Verhörs auf die Kindesseele einen so überwältigenden Eindruck machte, daß sie das Opfer einer Art von Suggestion wird, in welcher sich ihr die Furcht, die Eltern könnten das Verbrechen begangen haben, in Ueberzeugung verwandelt.

Am 8. August 1856 brannte das Haus des Bauern Hans Heinrich Sidler in Weinhof bei Ottenbach, Kanton Zürich, ab. Der Verdacht der Brandstiftung konnte nicht auf den Eigenthümer fallen, weil derselbe die mit verbrannte ganze Ernte nicht versichert hatte. In dem Hause wohnten aber weiter die Eheleute Jakob und Elisabeth Sidler mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Gottfried. Die Familie war arm und nährte sich von Seidenweberei für Lohn. Auch ihnen war ihre ganze Habe mit verbrannt. Es stand aber fest, daß das Feuer angelegt sein mußte. Da zeigte nach einiger Zeit die vierzehnjährige, in dem Orte Ottenbach wohnende Katharine Dubs an, daß sie auf Anstiftung der letztgenannten Sidlerschen Eheleute das Haus angezündet habe. Sie sei öfters in deren Wohnung gekommen; am Tage vor dem Brande nun habe sich die Frau Elisabeth Sidler darüber entrüstet gezeigt, daß ihr der Hauseigenthümer, Hans Sidler, ein Darlehn von fünf Franken abgeschlagen habe. „Sie sagte,“ gab die Dubs an, „ich solle das Haus anzünden, daß diese Sidlers auch nicht mehr hätten wie sie.“ Anfangs habe sie sich geweigert, dann aber auf längeres Zureden sich entschlossen, der Aufforderung zu folgen, und habe nun das niedrige Strohdach des Schweinestalls mit Schwefelhölzern angezündet. Zu diesem Zeugnisse des gut beleumundeten Kindes trat dann noch das des eignen Sidlerschen Sohnes Gottfried. Er erklärte vor der Polizei und dem Untersuchungsgerichte, sein Vater habe ein der Fabrik, für welche er arbeitete, gehöriges Stück Seidenzeug entwendet und verkauft. Und da habe die Mütter erklärt, das Haus müsse fort, damit der Diebstahl nicht herauskäme. (Es sollte damit wohl gemeint sein: damit man sagen könne, das Zeug sei mit verbrannt.) Darauf habe der Vater erwidert: „Laß das nur! Ich will’s schon besorgen.“

Infolge dieser Angaben wurden beide Eheleute gefänglich eingezogen. Sie betheuerten laut weinend ihre Unschuld; da aber Katharine Dubs mit ihrer Aussage ja sich selbst als Brandstifterin bezeichnete, die ihrer Strafe entgegensah, und andererseits man nicht annehmen konnte, daß der Sohn die eignen Eltern fälschlich beschuldigen würde, so wurden die Jakob Sidlerschen Eheleute vom Schwurgericht in Zürich wegen Anstiftung zur Brandlegung zu mehrjährigem Zuchthause und das von ihnen „verführte“ Kind zu einem Jahr Gefängniß verurtheilt. Im Zuchthause betheuerten die beiden Verurtheilten noch fortwährend ihre Unschuld. Die Aufwärterinnen nahmen wahr, daß die Frau Sidler halbe Nächte durch weinte und den Himmel laut anflehte, ihre Unschuld an den Tag zu bringen, oder sie von ihren Leiden zu erlösen. Der Vater Jakob Sidler behauptete, daß von einem Diebstahle von Seide gar nicht die Rede sein könne, da erst am Brandtage sein ganzer Vorrath von der Fabrik nachgewogen und für richtig befunden worden sei. Diese Umstände bewogen den Anstaltsdirektor, den Sohn Gottfried ins Gebet zu nehmen. Er ließ ihn kommen und erfuhr nunmehr, daß der Knabe erst durch einen übereifrigen Polizeibeamten, der ihm gesagt habe, er komme drei Jahre ins Zuchthaus, wenn er’s nicht gestehe, veranlaßt worden sei, seine Eltern zu beschuldigen. Andererseits fiel es auf, daß Katharine Dubs, die bisher ein gesittetes Betragen an den Tag gelegt hatte, im Zuchthause allerlei Bosheiten und schlimme Streiche verübte. Als man sie frug, warum sie dies thue, erklärte sie, sie könne nicht mehr gut thun, sie finde keine Ruhe mehr, da sie die Sidlers vor Gericht falsch angeklagt habe. Sie habe das Haus selbst aus freien Stücken angezündet. Sie habe kurz vorher ein Feuer in einem Nachbarorte gesehen und dabei gedacht, sie wolle das Haus des Bauern Sidler anbrennen; der sei ein reicher, aber harter Mann. Sie sei der Ansicht gewesen, es werde allen Leuten recht sein, wenn sie das Haus anzünde. Nunmehr wurde das frühere Urtheil umgestoßen, das Ehepaar freigesprochen und Katharine Dubs statt zu einem zu drei Jahren Gefängniß verurtheilt. Auch der Sidlersche Sohn Gottfried erhielt seine Strafe wegen falscher Anzeige.

Daß die Hilflosigkeit eines unter falscher Anschuldigung oder falschem Verdacht stehenden Menschen diesen schließlich zu solcher Verzweiflung bringt, um in einem falschen mildernden Geständnisse sein Heil zu suchen, gehört ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. In dem nachfolgend erzählten Falle erlangte der Beklagte sogar durch solches falsches Geständniß seine Freisprechung.

Am Sonntag den 4. Juni 1884 früh sechs Uhr wurde das Bahnwärterehepaar Nacke von Neustadt a. Aisch in dem an der Bahnstrecke Würzburg-Nürnberg einsam im Walde gelegenen Wärterhäuschen aufgefunden, die Frau mit eingeschlagener Schädeldecke todt auf dem Boden hingestreckt, der alte Bahnwärter Nacke stieren Blickes mit stark geschwollnem Kopfe, aber noch lebend im Bette sitzend. Da der letztere mit seiner Frau oft im Streite gelegen hatte, so fiel sofort der Verdacht auf ihn selbst. An einen Raubmord war ja nicht zu denken, denn wer hätte sich einen armen Bahnwärter zu einem solchen ausgesucht! Nacke stellte jedoch den Mord an seiner Frau hartnäckig in Abrede, obwohl man von allen Seiten auf ihn eindrang, er solle doch ein Geständniß ablegen. Als er schließlich einsah, daß ihm sein Leugnen doch nichts helfen würde, da der Verdacht zu schwer auf ihm lastete, verfiel er in der Angst seines Herzens auf ein eigenthümliches Mittel, welches ihm wohl von andrer Seite nahegelegt worden war, denn er selbst war geistig nicht sehr geweckt. Er gestand auf einmal ein, daß er sein Weib getödtet habe, behauptete aber, daß er sich der jungen kräftigen Frau gegenüber, mit der er in Streit geraten sei, seines Lebens habe wehren müssen. Danach würde er in Nothwehr gehandelt haben, was ihn straflos machte, und dies Geständniß konnte ihm somit das Leben retten. Seine eigne schwere Verwundung ließ die Angabe in der That glaubhaft erscheinen. Und wirklich, die Rechnung stimmte! Nacke wurde vom Geschwornengericht in Nürnberg zwar der Tödtung seiner Frau für schuldig erklärt, aber, da er die That aus Nothwehr verübt habe, von der Strafe freigesprochen. Allgemein galt er jedoch immer als der Mörder seiner Frau.

[139] Inzwischen war in einer dem Thatorte nahegelegenen Mühle ein dreifacher Raubmord verübt worden, ohne daß man den Thäter entdecken konnte. Unter den dieser That Verdächtigen wurde auch ein gewisser Johann Adam Dauth genannt, der Pathensohn eines Schuhmachermeisters Hauch; zu diesem Hauch äußerte nun eines Tages der Schuster Assold aus Neustadt, er könne den Dauth wegen einer andern Sache unters Richtbeil bringen. Derselbe habe ihn bewegen wollen, eins der Wärterhäuschen am Walde auszuplündern. Er sei aber nicht darauf eingegangen. Hauch zeigte die Sache an; das Gericht nahm eine Haussuchung bei Dauth vor und fand bei ihm die dem Nacke gehörige Uhr, welche dieser seit der Unthat vermißte. Dauth wurde verhaftet, leugnete anfangs, gestand aber dann zu, die Frau Nacke thatsächlich gemordet und bei dem Mann dasselbe beabsichtigt zu haben, und zwar, wie die Untersuchung weiter feststellte, aus schnöder Gewinnsucht. Er hatte nämlich erfahren, daß an jenem 3. Juni Nacke sein Monatsgehalt als Bahnwärter ausgezahlt erhalten hatte. Daß dieser letztere dem Tode entgangen, war nach Angabe der Aerzte auf den Umstand zurückzuführen, daß der Mörder dem in der niedern Thür stehenden Manne mit dem großen achtzehn Pfund schweren Hammer nicht recht hatte beikommen können. Rührend war es dabei, wie Nacke trotz seiner schweren Kopfwunde noch seinen Dienst bei dem herankommenden Eisenhahnzuge verrichtet, seiner verwundeten Frau Umschläge gemacht und sich dann bluterschöpft ins Bett gelegt hatte.

Dauth wurde wegen Raubmords zum Tode verurtheilt; ein Urtheil, das er kalt und ohne eine Miene zu verziehen entgegennahm. –

Viele Angeschuldigte sehen sich angesichts der auf sie eindringenden Verdachtsumstände auf die Führung des Beweises ihres „Alibi“ beschränkt, d. h. auf den Nachweis, daß sie sich zu der Zeit, als die That geschah, irgendwo anders als am Orte der That befanden, also dieselbe unmöglich begehen konnten. Dieser „Alibibeweis“, der in den Untersuchungen eine große Rolle spielt, ist immer schwer zu führen, da die Zeugen fast nirgends mehr irren und sich widersprechen als da, wo es sich um die Angabe der Zeit und deren Feststellung nach Stunden und Minuten handelt.

So wurde ein vor dem Schwurgerichte zu Naumburg anfangs der fünfziger Jahre verhandelter Fall in der Fachpresse viel besprochen.

Am 23. Mai 1852, einem Sonntage, begab sich der Förster Ollermann von seiner einsam im Forste gelegenen Behausung mit Tagesgrauen – also gegen vier Uhr morgens – ins Revier, um Wilddieben aufzulauern. Zwölf Stunden später wurde er in einem längs des Fußweges sich hinziehenden Graben, eine Viertelstunde vom Forsthause entfernt, erschossen aufgefunden. Neben der Leiche lag außer Mütze und Tabakspfeife ein Notizbuch. In diesem las man mit der noch zwischen den Blättern liegenden Bleifeder geschrieben die Worte: „Seyffert hat mich geschossen; Ollerm –“ und dann noch einmal auf der nächsten! Seite: „Seyffert hat mich gesch–“. Der damit als Thäter Bezeichnete konnte kein andrer sein als der wegen Wilddieberei bereits bestrafte herrschaftliche Schußjäger Bernhard Seyffert in Collenbey. Hatte doch Förster Ollermann demselben vier Wochen vorher in der Schenkstube zu Collenbey zugerufen: „Seyffert, kommen Sie mir nicht wieder zu nahe mit Ihren Consorten!“ Die Handschrift im Notizbuche rührte zweifellos von der Hand des Försters her. Seyffert wurde verhaftet, bestritt jedoch, die Täterschaft und berief sich darauf, daß er am Sonnabend von neun Uhr abends bis zum andern Morgen sieben Uhr zu Hause und bis sechs Uhr im Bette gewesen sei. Es wurde hierauf auch festgestellt, daß er um sieben Uhr früh mit seinem Hausherrn Kaffee getrunken hatte, während seine Hauswirthin bezeugte, daß sie ihn um sechs Uhr früh in seinem Bette aufrecht sitzend bemerkt habe. Sie hatte durchs Schlüsselloch geschaut, um nachzuforschen, ob Seyffert noch nicht aufgestanden sei, nachdem sie unmittelbar vorher auf die Uhr gesehen hatte, um zu erfahren, ob es Zeit sei, den Kaffee zu kochen. Im Laufe des Vormittags war Seyffert zu Hause anwesend; hatte er also den Mord vollbracht, so mußte er nach Vollendung desselben schon um sechs Uhr früh nach Hause zurückgekommen sein, sich ausßezogen und wieder ins Bett gelegt haben. Da nun der Mord nicht vor vier ein viertel Uhr morgens geschehen sein konnte, indem der Förster um 4 Uhr seine Wohnung verlassen hatte und der Thatort von der Försterei noch eine Viertelstunde entfernt war, so hatte Seyffert höchstens anderthalb Stunden Zeit gehabt, um seine Wohnung rechtzeitig, das heißt noch einige Zeit vor sechs Uhr, zu erreichen. Nun betrug aber die Entfernung zwischen dem Orte Collenbey und dem Thatorte zwei bis zweieinhalb Stunden. Gleichwohl wurde Seyffert vom Naumburger Schwurgerichte zum Tode verurtheilt, weil man offenbar das Hauptgewicht auf das in dem Notizbuche von der Hand des sterbenden Ollermann geschriebeite Zeugniß legte, einem alten Erfahrungssatze folgend, daß ein Sterbender angesichts des Todes keine Lüge sage.

Die Hinrichtung des Seyffert, der beharrlich die Thäterschaft in Abrede stellte, wurde bereits vorbereitet, als die Nachricht kam, daß der Nachfolger des Försters Ollermann auf demselben Revier, nur etwa 70 bis 100 Schritte weiter vom Forsthaus, ebenfalls von einem Wilddieb erschossen worden sei. Jetzt wurde die Vermuthung laut, daß beide Mordthaten wahrscheinlich von einer und derselben Person verübt worden seien. Bevor aber der neue Mörder, den sein eigner bei der That anwesender Sohn verrathen hatte, weiter über diese Frage vernommen werden konnte, endete er sein Leben durch Selbstmord. Es fehlte sonach an einem neuen Beweismittel, das nöthig war, um die Wiederaufnahme der Untersuchung zu begründen. Man sah nur unter diesen Umständen von einer Vollziehung der Todesstrafe ab und wandelte dieselbe in lebenslängliches Zuchthaus um. Da aber Seyffert ich Zuchthause die Betheuerung seiner Unschuld hartnäckig fortsetzte und Spuren einer Gemüthskrankheit zeigte, so wurde nach Verlauf einer fünfjährigen Strafzeit seine Entlassung aus dem Zuchthause bewilligt und dabei von dem befürwortenden Gerichte die Unklarheit seiner Schuld ausdrücklich anerkannt.

Aus diesem Falle geht auch recht eindringlich hervor, mit welcher erdrückenden Belastung ein Zeugniß wirkt, das als letztes Wort eines Gemordeten in die Gerichtsakten kommt. Dies ist die Form, in welcher eine falsche Anschuldigung in den meisten Fällen jeder Berichtigung spottet. Im Falle des ermordeten Försters Ollermann, wo das Zeugniß des Sterbenden schriftlich erfolgte, blieb die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der wirkliche Mörder, seines Opfers Handschrift nachahmend, die Denunziation selbst in das Notizbuch geschrieben hätte. Aber konnte nicht der Sterbende im Zwielicht der Morgendämmerung das Opfer einer optischen Täuschung geworden sein? Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Ollermann den Seyffert, dem er das Wildern legen wollte, erst wenige Wochen vorher verwarnt hatte, daß er diesem gerade in jener Morgenfrühe aufzulauern im Begriff gewesen, so gewinnt diese Erklärung eine hohe Wahrscheinlichkeit.

Daß ein Mann von seiner eigenen Frau fälschlich als Mörder bezeichnet wird mit jener Unwiderruflichkeit der letzten Worte eines Sterbenden, dürfte sich wohl als der Gipfelpunkt einer erdrückenden Anklage der hier geschilderten Art erweisen. Dieser Fall hat sich in neuerer Zeit in Elberfeld ereignet. Er hat auch sonst Aehnlichkeit mit dem vorher erzählten. In der Zeitschrift „Nord und Süd“ hat er erst kürzlich von seiten des vielgenannten Rechtsanwaltes Dr. Fr. Friedmann in Berlin, welcher die Ermittelung unschuldig Verurtheilter sich zur besondern Aufgabe gemacht hat, eine nähere Beleuchtung erhalten. Wir meinen den Fall Ziethen-Wilhelm. Zwar paßt derselbe in sofern nicht unter die von uns gewählte Ueberschrift, als die Unschuld des verurtheilten Ziethen nicht durch Richterspruch erwiesen ist. Aber dieser Fall bestätigt in ganz besonderer Weise die Schwierigkeit der Feststellung der Schuldfrage, die Unsicherheit des menschlichen Urtheils, die Gewalt des Zeugnisses von sterbenden Lippen. Wir glauben deshalb, daß eine gedrängte Wiedergabe des Thatbestands unsern Lesern nicht unwillkommen sein dürfte, wobei wir stenographischen Aufzeichnungen aus der Hauptverhandlung und dann dem oben angeführten Artikel folgen.

Der Barbier Albert Ziethen besaß in der Bachstraße in Elberfeld ein Haus, worin er das Barbiergeschäft und zugleich eine Restauration betrieb. Am 25. Oktober 1883 war er nach Köln gefahren, wie er das in letzter Zeit an jedem Donnerstage in der Woche zu thun pflegte. Er kehrte dann gewöhnlich mit dem Abendzuge um elf Uhr drei Minuten wieder heim. An dem genannten Tage hörte der im Hause wohnende Handelsmann Frenzel, wie Ziethen etwa um 11 Uhr. 20 Minuten die Treppe herauf kam und das auf demselben Stockwerk wie Frenzel [140] schlafende Dienstmädchen Johanne Pasche mit dem Ausrufe weckte, seine Frau liege drunten in der Gaststube in ihrem Blute. Es sei Ihr die Hirnschale eingeschlagen. Die Magd, später auch Frenzel, sowie andre Hausbewohner gehen hinunter und finden in der Wirthsstube die Frau Ziethen am Boden liegen. Sie hatte eine große klaffende Wunde an der Stirn, die Kniee waren hinaufgezogen, die Kleider in Unordnung, die Zöpfe lagen abgerissen auf der Diele. Auf dieser war eine große Blutlache sichtbar, in welcher der zerbrochene Aufsteckkamm der Frau lag.

Frenzel nahm den Kopf der Frau in die Arme; sie röchelte schwer, war aber noch am Leben; Ziethen selbst eilte auf Veranlassung der Anwesenden zum Doktor und zur Polizei. Auf die von dem hinzugekommenen Wachtmeister an die Frau gerichtete Frage, wer sie geschlagen habe, nannte sie erst den Färber Roßbach, dann aber bezeichnete sie wiederholt ihren Mann als den Thäter. Auch als man sie ins Krankenhaus schaffte, wo sie noch bis zum dritten Tage, in einem schlafähnlichen Zustande lebte, nannte sie auf Befragen immer ihren Mann als den Thäter. Von Ziethen war es bekannt, daß er seine Frau, die ein sanftes versöhnliches Wesen besaß, vielfach körperlich mißhandelt hatte und ihr ein keineswegs treuer Ehegatte war. So hatte er auch einem Mädchen die Ehe versprochen, eben jener, welche er am Nachmittag des 25. Oktober in Köln besucht hatte. Der Verdacht gegen ihn war also nahestehend und dringend, und man nahm ihn in Haft. Ziethen leugnete aber hartnäckig, die Frau gemordet zu haben. „Wenn ich verurtheilt werde“, erklärte er, „so werde ich unschuldig verurtheilt, meine Unschuld muß sich herausstellen. Ich habe nur einen Zeugen, das ist die Uhr, die muß es bekunden, daß ich’s nicht gethan habe?“

In dieser Beziehung ergab nun die Beweisaufnahme folgendes: Ziethen war mit dem Kölner Abendzuge angekommen. Ein Zeuge hatte ihn auf dem Bahnhof gesehen, wie er raschen Schrittes nach Hause lief. Der Zug hatte an dem Tage fünf Minuten Verspätung, war also 11 Uhr 8 Minuten angekommen. Die Entfernung vom Bahnhofe nach Ziethens Behausung betrug acht Minuten. Ziethen wäre also gegen 11 Uhr 16 Minuten zu Hause eingetroffen, hätte sonach zur Ausführung des Verbrechens nur 4–5 Minuten gebraucht.- Ein Zeuge will ihn sogar 11 Uhr 20 Minuten schon wieder auf der Straße gesehen haben.

Wenn man aber auch einige Minuten noch zugiebt, was mußte in dieser Kürze nicht alles geschehen sein! Zeugen aus der Nachbarschaft hatten gehört, daß schon kurz nach 11 Uhr die Pumpe in dem Ziethenschen Hofe zweimal gezogen wurde. Ferner fand man Tags daraus in der Wirthsstube den Hammer, mit dem der Mord nach dem Befunde der Wunde offenbar verübt worden war, in einer Schublade liegen. Der Hammer war gereinigt, der Stil abgeschabt, die blutigen Spähne lagen noch auf der Erde. Sonach mußte Ziethen gleich bei seiner Nachhausekunft mit der Frau angebunden, sich mit ihr in einen Kampf eingelassen – es lagen außer den Zöpfen noch die Geldtasche der Frau und einige Markstücke am Boden – dann sie mit dem Hammer wiederholt den Kopf geschlagen, sich und den Hammer an der Pumpe gereinigt, den Stiel des Hammers mit einem Messer abschabt – so später konnte er’s nicht thun, da er noch an dem Abende verhaftet wurde –, dann sich in das obere Stockwerk und von da wieder zurückbegeben haben! Die Geschwornen legten indeß diesem Alibibeweis kein Gewicht bei. Ziethen wurde am 2. Februar 1884 des Gattenmordes für schuldig erklärt.

Gleichzeitig mit Ziethen war aber dessen achtzehnjähriger Lehrling August Wilhelm wegen Betheiligung an dem Verbrechen mit in Haft genommen worden. Derselbe war an jenem Abende, als der Polizeiwachtmeister seinem Lehrherrn das Verbrechen auf den Kopf schuld gab, aus erster Ecke, in welcher er unbeachtet kauerte, aufgesprungen Und hatte ausgerufen: „Wie können Sie das wagen, Ziethen war der Mörder nicht!“ Auch hatte die Frau Ziethen mit einer Handbewegung angedeutet, daß Wilhelm beim Mord zugegen war. Er wurde indeß freigesprochen, da ja für ihn jeder Beweggrund, an dem Morde theilzunehmen, zu fehlen schien.

Ueber sein Verhalten an jenem Abende wurde übrigens noch folgendes festgestellt: Um zehn Uhr abends begab sich das Dienstmädchen Pasche zur Ruhe. Da waren im Gastraume noch die Frau Ziethen, Wilhelm und der jüngere Lehrling August Volherg anwesend. Der letztere forderte Wilhelm, mit dem er zusammen in einer Kammer schlief, auf, ebenfalls zu Bett zu gehen, aber Wilhelm erklärte, er wolle erst noch einmal ausgehen. Nach zehn Minuten kehrte er zurück, und nun gingen beide hinauf in ihm Kammer. Während Volberg rasch einschlief, schlich Wilhelm sich wieder fort, denn er erschien ein Viertel nach zehn Uhr in der Wohnung einer Frau Kesting, mit deren Tochter er ein Verhältnis hatte. Da das Mädchen aber nicht zu Hause war, entfernte er sich nach fünf Minuten wieder. Um halb elf Uhr betrat er die Wirthschaft von Wilhelm Faßbender und ließ sich einen Cognak geben, wobei dem Wirthe das aufgeregte Wesen des jungen Menschen auffiel; auch das Dienstmädchen Pasche hatte schon bemerkt, daß er angetrunken war. Nachdem er den Cognak rasch getrunken hatte, entfernte er sich wieder und kehrte in die Schlafkammer zurück. Gegen drei Viertel auf elf Uhr erhob er sich dort abermals und ging hinab in die Wirthsstube, in welcher sich die Frau Ziethen nach Schluß der Gastzeit ganz allein befand. Ein Viertel nach Elf hörte die neben der Kammer der Lehrlinge wohnende Frau Romann, die um elf Uhr zu Bett gegangen, aber noch nicht eingeschlafen war, wie die Treppe knarrte und jemand in Strümpfen heraufkam und in die Kammer trat. Es war Wilhelm, die Zeugin hörte, wie er seine Stiefel hinsetzte. Nicht lange danach hörte sie, daß Ziethen die Magd rief. Sonach wäre festgestellt, daß Wilhelm sich in der Zeit von drei Viertel auf elf Uhr bis ein Viertel nach elf Uhr mit der Frau Ziethen allein in der Wirthsstube befunden hat. Weiter ist der Umstand zu erwähnen, daß der Lehrling Volberg, als er infolge des Rufs seines Herrn aufstand, um hinunter zu gehen, das Taschenmesser des Wilhelm offen auf dessen Koffer liegen sah. Er knickte es zusammen und nahm es mit, um es später dem Wilhelm wieder zu geben. Das Messer ist aber in Verlust gerathen und daher nicht untersucht worden.

Die erkannte Todesstrafe wurde an Ziethen nicht vollstreckt, sondern in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt. „Von dem Tage seiner Verurtheilung an“ – wir lassen jetzt Dr. Friedmann in dem angezogenen Aufsatze in „Nord und Süd“ selbst reden – „hörte Ziethen nicht auf, in jedem Briefe, welchen er aus dem Zuchthause heraus an seine in Berlin lebenden Verwandten, einen hochbetagten Vater und einen Bruder richtete, seine Unschuld zu betheuern und dieselben immer wieder anzuspornen, alles aufzubieten, um sie zu beweisen.

„Der freigesprochene Lehrling hatte in den nächsten Jahren als Barbiergeselle Deutschland durchzogen und war schließich in Berlin angekommen; er war aus mehreren Stellen seines ausschweifenden Lebenswandels halber entlassen worden. Zur bessern Legitimation führte er einen mit ,Albert Ziethen’ unterzeichneten, höchst lobenden, natürlich von ihm gefälschten Lehrlingsschein bei sich, aber, sonst sprach er nicht gern von jener Zeit, veränderte auch seinen Vornamen und blieb unstet.

„Da, im Juni 1887, trat er mit dem Geständnisse hervor, er habe Frau Ziethen ermordet, sein früherer Meister wisse nichts davon. In Berlin von seinem Prinzipal, dem Kriminalkommissar, dem Richter verhört, blieb er zunächst bei seiner Aussage, dann aber, nach Elberfeld überführt, widerief er vor dem dortigen Untersuchungsrichter das Geständniß, um es bei einer abermaligen Vernehmung zu erneuern und ins einzelste auszumalen, wie er die seine Zärtlichkeiten abwehrende Frau kurz vor Ziethens Heimkehr erschlagen habe. Seine Bekundung, daß er den bei dem Morde benutzten Hammer gegen elf Uhr zu reinigen gesucht habe, dann nach seiner Lagerstelle geschlichen sei, um schließlich der unglaublichen Verhaftung des Meisters beizuwohnen, deckte sich völlig mit den Zeugenbeobachtungen. Ein hervorragender Berliner Kriminalbeamter wurde ausdrücklich beauftragt, sorgfältige Erhebungen darüber anzustellen, ob sich irgend welche Anhaltspunkte für eine etwaige Bestechung Wilhelms durch Ziethensche Verwandte oder Gönner ergäben. Aber der Bericht dieses Beamten spricht unumwunden aus, daß nichts dergleichen vorläge, daß aber zahlreiche noch unerhobene Beweise auf Wilhelms Schuld und jetzige Wahrhaftigkeit deuteten.“

Auf Grund des neuen Materials beschloß im Oktober 1887 die Strafkammer des Landgerichts zu Elberfeld die Wiederaufnahme des Verfahrens. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde indeß der Beschluß wieder aufgehoben. Man hielt die Selbstbezichtigung des Wilhelm für erlogen und nicht für beweistüchtig.

Ein neues Gesuch des Vertheidigers, die Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen, welches Gesuch sich auf eine Darlegung des Vorlebens und Charakters des Wilhelm stützt, wurde ebenfalls, [141] und zwar aus formellen Gründen, verworfen, da es mehr psychologische Momente als neue Thatsachen enthielt. „So muß ich“, schließt der von dem Bewußtsein der Unschuld seines Klienten vollständig durchdrungene Vertheidiger, „die Hoffnung aufgeben, dem Verlornen zu helfen. Jeder weitere Tag verwischt mehr die Spuren des Thatbestands und kein Lichtstrahl durchbricht wohl noch die tiefe Nacht.“ Ob das in jüngster Zeit bei dem Kaiser selbst eingereichte Immediatgesuch eines Stiefbruders von Ziethen eine Aenderung dieser Sachlage herbeiführen wird, bleibt abzuwarten.

Unsre Leser werden wohl zugeben, daß hier die Beweise für Schuld und Unschuld sich mindestens die Wage halten. Wäre es formell möglich, noch einen zweiten Spruch in der Sache herbeizuführen, wer weiß, ob er dann der gleiche wäre wie der, den die Geschwornen in Uebereinstimmung mit der öffentlichen Meinung am 2. Februar 1884 gefällt haben!

[328]
Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums.0 Neue Folge. III.
Irrthümer der Medizin und der Naturwissenschaft. – Der Prozeß gegen die Ottoschen Eheleute wegen Mords der eigenen Kinder. – Mord oder Selbstmord? – Wahnsinn oder Verstellung?

Bei der Feststellung des wirklichen Thatbestands, das heißt bei der Beantwortung der Frage, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt oder nicht, ist der Richter oft ganz auf den Ausspruch der medizinischen Sachverständigen angewiesen. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Todesursache festzustellen, wenn der Tod eines Menschen unter verdächtigen Umständen erfolgte. Der Gerichtsarzt übernimmt in solchen Fällen das Amt des urtheilenden Richters und die damit verbundene oft weittragende Verantwortung. Die Schwankungen und Irrthümer in den Lehrsätzen der Erfahrungswissenschaften, welche heute oft etwas als unumstößliche Wahrheit aufstellen, was sie nach einer Reihe von Jahren wieder als falsch verwerfen müssen, beeinflussen damit auch die Frage der Schuld oder Nichtschuld eines Angeklagten. So fällt namentlich die Entscheidung darüber, ob der Tod eines Menschen die Folge der Beibringung von Gift gewesen ist, neben der Medizin zunächst der Chemie zu. Ihre Aufgabe ist es, im Wege der chemischen Untersuchung das Vorhandensein oder Fehlen von Gift oder Giftspuren in der vielleicht schon längere Zeit im Grabe ruhenden Leiche festzustellen. Und gerade nach dieser Richtung hin hat die Chemie in den letzten Jahrzehnten durch Erfindung geeigneter Apparate und Entdeckung neuer Verfahren große Fortschritte gemacht. Aber mit jeder neuen Verbesserung der Methode verband sich zugleich die Feststellung der Mängel der frühern und der möglichen Irrthümer, welche durch sie verschuldet sein konnten. Mit dem irrenden Ausspruche der Wissenschaft irrt aber auch der Richter.

Auch hierfür liefert die Geschichte der Strafrechtspflege mehrfache Beispiele, in welchen die Wahrheit noch zum Worte gekommen ist, ehe es zu spät war.

Im Herbst 1889 spielte sich vor dem Schwurgerichte in Gera der Schlußakt einer Untersuchung ab, welche gegen den Drahtwarenfabrikanten Eduard Otto und dessen Ehefrau in Jena wegen versuchter und vollendeter Ermordung ihrer eignen Kinder durch Beibringung von Gift anhängig gemacht worden war. Bei diesem Prozesse lag der Ausgang ganz in den Händen der Chemie und Medizin.

Den beiden genannten Eheleuten waren während ihrer vierzehnjährigen Ehe elf Kinder geboren worden. Von diesen starben zwei Mädchen im Alter von anderthalb Jahren bezw. vier Monaten [330] im Jahre 1882, dann aber vier weitere in rascher Aufeinanderfolge innerhalb der zwei Jahre 1888 und 1889: ein Sohn Arthur, drei Monate alt, im Januar 1888; im November desselben Jahres eine Tochter Erna im Alter vom vier Jahren; endlich am 29. Januar 1889 der nur sechs Tage alte Georg und in der Nacht vom 19. auf den 20. April die schon neunjährige Tochter Else. Gleichzeitig mit ihr war auch die ältere Schwester Fanny erkrankt, aber wieder genesen.

Diese Häufung von Krankheits- und Todesfällen in derselben Familie erregte die öffentliche Aufmerksamkeit, und man schöpfte umsomehr Verdacht, als die äußeren Verhältnisse der Eheleute derart bescheidene waren, daß sie eine so großes Anzahl von Kindern wohl als eine schwerdrückende Last empfinden konnten.

Fanny und Else waren am 15. April 1889, dem Tag nach Palmsonntag, nach dem zu Hause eingenommenen gemeinsamen Mittagsmahl auf ein nahe bei Jena gelegenes Dorf zum Besuche einer befreundeten Wirthsfamlie gegangen und hatten dort Semmeln, Milch, Kuchen und Weißbier genossen. Schon auf dem abendlichen Heimgange war es dem einen der beiden Kinder übel geworden. Beim häuslichen Abendessen fehlte ihnen der Appetit und sie mußten sich erbrechen. Nach vier Tagen starb Else, während Fanny, wie erwähnt, wieder gesund wurde. Schon die während der Krankheit hervortretenden Anzeichen – Gelbsucht, Leberanschwellung, Herzschwäche – ließen für die behandelnden Aerzte die Möglichkeit einer Phosphorvergiftung zu. Es wurde Untersuchung gegen die Eltern eingeleitet, und man ließ die Leichen der Else und der drei letztgestorbenen Kinder wieder ausgraben, da ähnliche Erscheinungen auch die Krankheit der andern Kinder begleitet hatten. Der Befund legte für die Gerichtsärzte die Annahme nahe, daß der Tod der Kinder durch Einführung von Gift (Phosphor oder Arsenik) verursacht war. Beide Ehegatten wurden nunmehr verhaftet. Die chemische Untersuchung durch den Professor Dr. R. ergab für diesen, daß in dem Körper der zuletzt verstorbenen Else Phosphor in der Form von Phosphorsäure ziemlich reichlich vorhanden war, wenn auch nicht so viel, daß es zur Bestimmung der Menge des substantiellen Phosphors ausgereicht hätte. Auf dies hin gaben die Gerichtsärzte ihr Gutachten dahin ab, daß der Tod der Tochter Else der Einwirkung von Phosphor zuzuschreiben sei. Die Staatsanwaltschaft konnte sich indeß nach Abwägung der vorliegenden Verdachtsgründe nicht entschließen, förmliche Anklage gegen die Ottoschen Eheleute zu erheben. Sie gab vielmehr nach Schluß der Voruntersuchung das weitere der Strafkammer anheim, und diese beschloß, das Hauptverfahren gegen die Angeschuldigten zu eröffnen wegen dringenden Verdachts, daß sie ihre Tochter Else durch Phosphor vorsätzlich und mit Ueberlegung getödtet und in gleicher Weise die Tödtung der wiedergenesenen Fanny versucht hätten. Der hiernächst zur Begutachtung des Falls aufgeforderte Geheime Medizinalrath Liman in Berlin, ein bedeutender Fachgelehrter, erklärte, daß nach dem Leichenbefunde Erscheinungen, welche auf eine Vergiftung zu schließen berechtigten, nicht vorhanden gewesen seien und es überhaupt eine bedenkliche Sache sei, nach drei Monaten noch die Anwesenheit von Phosphor feststellen zu wollen, wenigstens mit dem Mitscherlichschen, von Professor R. angewandten Apparate. Es wurde infolgedessen auf Antrag der Vertheidigung noch der in gerichtlich-chemischen Untersuchungen hocherfahrene Chemiker Dr. Bischoff aus Berlin in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichte vernommen. Derselbe erklärte, es sei die von Professor R. angewandte Prüfungsmethode (nach Mitscherlich), nicht einwandsfrei. In neuerer Zeit werde die Methode Dusart-Blondlot angewandt, welche allein zuverlässige Ergebnisse gewähre. Es rechtfertige sich daher keinesfalls der sichere Schluß, daß freier Phosphyr bei Lebzeiten der Else in deren Körper eingeführt worden sei, da die vorgefundene geringe Menge von Phosphor in Substanz wohl von den aus der Phosphorsäure gebildeten Krystallen herrühren könne. Phosphorsäure finde sich aber in normaler Weise im thierischen Körper, besonders in den Knochen. Inzwischen hatte man auch entdeckt, daß der unter der Tapete der Kinderstube befindliche, theilweise losgelöste und abgebröckelte Anstrich des Kalkputzes der Wände in hohem Grade arsenikhaltig war. Die Verbindung des Arseniks mit der feuchten Zimmerluft konnte aber nach Angabe der Sachverständigen Arsenwasserstoff, ein äußerst scharfes Gift, erzeugt haben, durch dessen Einschlucken und Einathmen chronische Arsenikvergiftung herheigeführt worden sein könne.

Diese neuen Gutachten vernichteten die ganze Unterlage, auf welcher die Anklage sich aufgebaut hatte. Es wurde sogar für unnöthig gehalten, noch weitere Beweise zu erheben, vielmehr erfolgte auf Antrag der Staatsanwaltschaft die alsbaldige Freisprechung der Angeklagten von der furchtbaren Beschuldigung, unter deren Druck sie fünf Monate, größtentheils im Gefängniß, gelebt hatten. Alle übrigen Beweismittel für ihre Schuld waren in der That so schwach, daß sie jetzt alle selbständige Bedeutung verloren. Mochte den Angeschuldigten auch die große Anzahl ihrer Kinder manche Sorge bereiten, so hatten sie doch deren Pflege nie wesentlich verabsäumt, namentlich es nie unterlassen, bei den zahlreichen Krankheiten derselben ärztliche Hilfe rechtzeitig zur Stelle zu rufen. Ein in der Behandlung von Kinderkrankheiten besonders erfahrener Arzt war ihr ständiger Berather. Verdächtig war nur die von ihnen nicht bestrittene einmalige Anschaffung von Phosphorbrei zur Vertilgung von Ratten, aber eine solche Verwendung hatte in der That stattgefunden. –

Auch die Frage, ob bei einem ungewöhnlichen Todesfalle Mord oder Selbstmord vorliege, unterliegt zunächst und in den meisten Fällen der Entscheidung des Arztes. Ihre Beantwortung ist nicht immer so leicht, wie man glauben möchte. So war in dem Rechtsfalle des Dienstknechtes Loth, den wir im Jahrgange 1887 der „Gartenlaube“, S. 345, näher geschildert haben, die Verurtheilung auf die Annahme der Gerichtsärzte gegründet, daß der todt aufgefundene Zorn von dritter Hand und zwar durch drei auf ihn abgegebene Schüsse getödtet worden sei, wogegen durch drei andere Aerzte in dem Wiederaufnahmeverfahren überzeugend festgestellt wurde, daß die beiden ersten Schüsse von Zorn selbst herrührten, während erst der dritte Schuß von fremder Hand abgefeuert war, durch welches Gutachten die ganze Sachlage verändert wurde.[1]

Ein ähnlich zugespitzter Fall war der folgende.

Der Maschinenbauer Carl Schmidt zeigte der Ortspolizei von N. an, daß sein Vater, der alte Auszügler Schmidt, sich in seiner Wohnstube erschossen habe. Bei der Besichtigung der Leiche fand sich eine Schußwunde an der rechten Schläfe, welche offenbar mit dem neben der Leiche liegenden Terzerol beigebracht worden war, die Annahme eines Selbstmordes schien also gerechtfertigt zu sein. Nun fand sich jedoch gleichzeitig eine Wunde am Hinterkopfe vor, welche dem Anscheine nach von einem scharfen Instrumente herrührte, das mit solcher Wucht geführt worden sein mußte, daß es die Hirnschale zertrümmert hatte. Diese ebenfalls tödliche Verwundung konnte sich Schmidt nicht selbst beigebracht haben. Dieselbe müßte also wohl von einem Dritten herrühren, und dieser Dritte, so konnte man weiter schließen, hatte, nachdem er den alten Mann vielleicht nicht mit Absicht und Ueberlegung, sondern im Streit und in der Erregung getödtet hatte, nunmehr den Todten oder Sterbenden mit einem Terzerol in die Schläfe geschossen und das Terzerol ihm dann nur in die Hand gedrückt, um den Anschein zu erwecken, als ob er sich selbst erschossen habe. Für diese Annahme sprach sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit insofern, als der Sohn des Gemordeten sich in einer lieblosen und schadenfrohen Weise über den Tod des ihm wegen seiner Arbeitsunfähigkeit lästigen Vaters ausgesprochen hatte. Carl Schmidt wurde deshalb verhaftet, und zwar gleichzeitig mit seiner Mutter, deren Verhältniß zu ihrem Manne ebenfalls kein freundliches gewesen war. Beide betheuerten ihre Unschuld. Im Laufe der Untersuchung fand nun eine nochmalige genauere Besichtigung der Oertlichkeit statt, an welcher der Tod erfolgt war. Da bemerkte man auf einer eisenbeschlagenen Truhe die Flecken von eingetrocknetem Blute und bei näherer Untersuchung mit dem Vergrößerungsglase einzelne mit dem Blute vermischte Haare, welche unter dem Mikroskope sich als Menschenhaare erwiesen und die gleiche Farbe trugen wie das Haar des Gemordeten. Nunmehr hellte sich die Sache in der Weise auf, daß der alte Schmidt, nachdem er sich in die Schläfe geschossen, beim Umfallen mit dem Hinkerkopfe auf die scharfkantige eisenbeschlagene Truhe gestürzt war und sich so die zweite schwere Verletzung, welche man ursprünglich für die erste gehalten, zugezogen hatte. Damit entgingen die Angeschuldigten der ihnen drohenden Verurtheilung.

[331] Eine weitere verantwortungsvolle Frage, die sehr oft jeder sicheren Aufklärung spottet, entsteht für den Richter, beziehungsweise für die ihm zur Seite stehenden wissenschaftlichen Sachverständigen durch den Zweifel: war der Angeklagte bei Begehung der verbrecherischen That geistig zurechnungsfähig oder nicht? – und auch hier ist der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntniß von entscheidendem Einfluß auf die Urtheilsabgabe. Die Ansichten der Irrenärzte haben sich schon vielfach gewandelt. So nahm man früher das Bestehen besonderer krankhafter Triebe an, welche die Zurechnungsfähigkeit für den Augenblick der That aufhöben, und sprach von einem „Brandstiftungs“- und „Diebstahlstrieb“ („Pyromanie“ und „Kleptomanie“). Die spätere Psychiatrie verwarf jedoch diese Lehre von den besonderen Manien und läßt sie nur gelten als Ausflüsse einer allgemeinen geistigen Erkrankung. (Man vergleiche den Artikel „Wahnsinn und Verbrechen“, Jahrgang 1885, S. 392.) Sie nimmt mit anderen Worten keinen bloß theilweisen, sondern nur einen allgemeinen Wahnsinn an. Neuerdings tritt aber eine Strömung unter den Irrenärzten hervor, welche der Unzurechnungsfähigkeit der Verbrecher noch eine weitere Grenze steckt. Diese Strömung geht auf Annahme eines sogenannten „moralischen Irreseins“ und weist zugleich, indem sie krankhafte Störungen bei den Vorfahren und Verwandten festzustellen sucht, der „erblichen Belastung“ maßgebende Bedeutung zu. Je mehr diese Lehre Einfluß und Beachtung gewinnt, desto größer wird die Zahl der Freisprechungen und desto größer muß also auch die Zahl derer sein, welche bisher unschuldig verurtheilt wurden. Es ist ja kein Zweifel, daß diese Lehre eine gewisse Gefahr des Mißbrauchs in sich birgt. Trotzdem aber kann sie nicht von der Schwelle des Gerichtssaales gewiesen werden, und thatsächlich ist es denn auch schon vorgekommen, daß die Vertreter der ärztlichen Wissenschaft, wenn sie das abgeschlagene Haupt eines von der Justiz Gerichteten unter ihre kritische Sonde nahmen, sich haben gestehen müssen, daß der Verurtheilte statt dem Henker dem Irrenarzte hatte überwiesen werden sollen.

Die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit ist namentlich um deswillen eine schwierige, weil die verbrecherische That oft das erste Zeichen des im Verbrecher bereits heimlich schlummernden Wahnsinns ist, während er bis dahin ganz vernünftig gehandelt hatte. Sie wird aber für den Arzt häufig noch dadurch erschwert, daß manche Verbrecher, um der Strafe zu entgehen, Wahnsinn vorspiegeln (simuliren). In den Registern der gerichtlichen Medizin wird namentlich ein Fall angeführt, in welchem es zur vollen Erledigung jener Frage eines Zeitraums von elf Jahren bedurfte, während dessen der Angeklagte sein Leben zwischen Irrenhaus und Gefängniß hinbrachte. Es ist dies die Geschichte eines Schuhmacherlehrlings namens B., der in seinem 18. Jahre am Abend des 12. Februar 1852 einen gewaltthätigen Angriff gegen die Witwe S. ausführte. Er zeigte kurz vor und nach der That Anzeichen von Verrücktheit. Der Gefängnißarzt Dr. R. erklärte sein tobsüchtiges Gebühren für Verstellung. Da aber B. in seinem tollen Handeln fortfuhr, unsinnige Reden führte und alles zerstörte, was unter seine Hände kam, sich im Winter auf die platte Erde legte, ohne von der Zudecke Gebrauch zu machen, aus dem Waschbecken trank etc. und monatelang stumm blieb, wurde er einer Irrenanstalt übergaben. Der Direktor derselben, Dr. J., erklärte, B. sei wirklich wahnsinnig und zwar unheilbar. Zur Aufhebung dieses Widerspruchs wurde ein Gutachten des Medizinalkollegiums eingeholt. Dieses entscheidet sich für die Wahrscheinlichkeit einer Verstellung. B. wird daher aus dem Irrenhause wieder ins Gefängniß zurück gebracht. Dort unterzeichnet er alle Protokolle statt mit seinem Namen mit „Napoleon“. Vors Schwurgericht gestellt, giebt er auf keine einzige Frage Antwort und bleibt stumm. Die dort vernommenen Sachverständigen widersprechen sich von neuem. Dr. R. und Dr. Rtz. halten ihn für einen Heuchler, Dr. S. erklärt dies für höchst zweifelhaft.

Nachdem die Verhandlung auf einige Stunden unterbrochen und dem Angeklagten vorgehalten worden ist, daß er durch sein hartnäckiges Verharren in der Stummheit nur seinen Prozeß und damit seine Haft in die Länge ziehe, verharrt er, wieder in den Saal zurückgeführt, dennoch in dem früheren Schweigen und setzt dasselbe auch im Gefängniß fünf Vierteljahre lang fort. Nun werden neue Gutachten eingeholt. Dr. R. hält jetzt in Uebereinstimmung mit Dr. S. eine Verstellung auch für unwahrscheinlich, da sie keinen Zweck mehr habe, indem sie den B. nur länger im Gefängniß zurückhalte. Der Angeklagte wird von neuem ins Irrenhaus gebracht. Dort kehrt nach acht Monaten bei ihm die Sprache wieder. Ein erneutes Gutachten der Medizinalkommission schließt mit der erneuten Annahme einer wahrscheinlichen Verstellung.

Um die Sache endlich zum Abschlusse zu bringen, wird vom Gerichte ein End- und Obergutachten von der wissenschaftlichen Deputation des Medizinalwesens in Berlin eingeholt, und in diesem wird ausgeführt und wissenschaftlich begründet, daß B. niemals geheuchelt habe, daß er schon bei Begehung des Verbrechens wahnsinnig gewesen sei und daß dieser Wahnsinn fortgedauert habe bis zur Gegenwart. Auch sein Stummsein in der Schwurgerichtssitzung und später sei nur als ein Ausfluß seiner Verrücktheit anzusehen.

Nun erst konnte das gerichtliche Verfahren durch die Freisprechung des B. zu Ende geführt werden. In der Zeit aber, die seit seiner Inhaftnahme verflossen war, würde er die ihn schlimmstenfalls treffende Strafe schon längst verbüßt gehabt haben.

[544]
Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums. 0Neue Folge. IV.
Das Zeugniß des Irrsinnigen. – Angeblich verleitet. – Ein Komplott falscher Zeugen. – Der Müller von Kroppenstedt. – Das Wirken der Menschenliebe. – Was ist Wahrheit?

Wie es sich in dem zuletzt erzählten Falle des Schuhmacherlehrling B. gezeigt hat, kann die Täuschung über die geistige Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten zur Verurtheilung eines wenn auch nicht der Thatsache, so doch der rechtlichen Haftbarkeit nach Unschuldigen führen. Dieselbe Täuschung wirkt aber leicht auch dann verhängnißvoll, wenn sie nicht die geistige Gesundheit des muthmaßlichen Thäters selbst, sondern die eines Zeugen betrifft. Das beweist ein neuerer Fall aus der österreichischen Justiz.

Peter Pabst, Hausbesitzer und Heger bei der gräflich Weißenwolf’schen Forstverwaltung in Steyregg, wurde im September 1888 vom Schwurgerichte zu Linz hauptsächlich auf Grund der Aussage des Forstpraktikanten Karl Breitwieser wegen Diebstahls und Brandstiftung zu zwölf Jahren schweren Kerkers verurtheilt. Nachdem er bereits einunddreiviertel Jahre von dieser Strafe verbüßt hatte, brachte jener Breitwieser bei Gericht zur Anzeige, daß an ihm ein Raubmordversuch verübt worden sei. Die eingeleitete Untersuchung ließ indeß Zweifel an der Wahrheit dieser Anzeige und mit ihnen weitere Zweifel an der geistigen Zurechnungsfähigkeit Breitwiesers aufkommen; die nach dieser Richtung vorgenommenen Erhebungen ergaben, daß derselbe schon seit Jahren an der Fallsucht (Epilepsie) litt. Dabei entlockte ihm der prüfende Gerichtsarzt zugleich das Geständniß, daß er jenen Brand, dessen er den verurtheilten Pabst bezichtigt, selbst angelegt habe. Als er das verhängnißvolle Zeugniß ablegte, war er mit „transitorischer Manie“ d. h. mit vorübergehenden Wahnvorstellungen behaftet und von krankhaftem Hasse gegen Pabst erfüllt, Fabulant und Verleumder. Das spätere Geständniß war nur die Frucht eines lichten Augenblicks, in welchem das schlafende Gewissen zu seinem Rechte kam. Pabst wurde darauf aus der Strafhaft entlassen, aber sein Vermögen war verloren und ein anhaltendes Blutbrechen hatte seine Gesundheit untergraben. Es ist indeß zu hoffen, daß ihm infolge seiner an das österreichische Abgeordnetenhaus gerichteten Eingabe wenigstens der Schaden an Geld und Gut wieder ersetzt werde.

Manche Uebelthäter suchen das Gewicht ihrer Verschuldung dadurch zu verringern, daß sie angeben, sie seien von andern Personen zu der verbrecherischen That verleitet worden; in heimtückischer Bosheit ziehen sie auf diese Weise oft Unschuldige mit in das Verderben.

Am 20. September 1888 stand der Dienstknecht Franz Wallner vor dem Schwurgericht zu Graz, angeklagt der absichtlichen Brandlegung an den Wirthschaftsgebäuden des Gutsbesitzers Blasius Karner in Emporsdorf bei Wildon. Er hatte zugleich seinen Dienstherrn, den Gutsbesitzer Franz Fedl und dessen Frau, sowie die Magd Marie Wagner der Verleitung zu diesem Verbrechen bezichtigt und mit sich auf die Anklagebank gebracht. Der Brand bei Karner hatte furchtbare Folgen gehabt. Die Hausfrau hatte bei der Rettung des Viehs so schwere Brandwunden erlitten, daß sie daran starb. Die Pflegetochter war infolge des ausgestandenen Schreckens irrsinnig geworden und ebenfalls nach kurzer Zeit gestorben.

Was den Verdacht der Urheberschaft an dieser folgenschweren That auf die Bewohner des dem Gutsbesitzer Franz Fedl gehörigen Nachbargehöfts lenkte, war zunächst der auffallende Umstand, daß sie die einzigen Nachbarn im Dorfe waren, welche nicht auf der Brandstätte erschienen, ja daß sie sogar zu Hause während des Feuers nach den Klängen einer Ziehharmonika lustig und munter tanzten. Kurze Zeit vor diesem Ereigniß waren ferner Franz Fedl und sein Knecht Wallner von Karner, der zugleich Jagdaufseher war, wegen Wilddiebstahls angezeigt und vom Bezirksgericht Wildon bestraft worden. Damit war auch ein Beweggrund gefunden: die Bestraften hatten sich offenbar an Karner rächen wollen.

Franz Wallner war auch der That geständig, er behauptete aber, sein auf Karner erboster Dienstherr habe ihn wiederholt dazu aufgefordert. Um ihm Muth zu machen, habe er ihm an dem Tage viel zu trinken gegeben, auch ein Päckchen Zündhölzer zugesteckt mit dem Bemerken, er solle warten, bis alles schlafe, und dann das Gehöft des verhaßten Jagdaufsehers anzünden. Marie Wagner, die Dienstmagd, welche für ihre Person jede Betheiligung bestritt, wollte doch dabei gewesen sein, wie Franz Fedl dem Wallner für das Anzünden des Karnerschen Gehöfts fünf Gulden und die Frau Fedl noch einen weitern Gulden versprochen habe. Zwei junge Burschen, welche sich an dem Tanze im Fedlschen Hause betheiligt hatten, konnten bezeugen, daß sie von den Fedlschen Eheleuten abgehalten worden seien, dem bedrohten Nachbar beizuspringen. Das Ergebniß war, daß die Frau und die Magd freigesprochen, bei Wallner die Schuldfrage einstimmig und bei Franz Fedl die Frage der Verleitung mit zehn von den zwölf Stimmen bejaht wurde. Das Urtheil lautete demgemäß bei jenem auf zehn Jahre schweren Kerkers, bei diesem auf lebenslänglichen schweren und geschärften Kerker.

Beide traten ihre Strafe an. Franz Fedl stellte jedoch jegliche Verleitung, jegliche Einwirkung auf seinen Knecht in Abrede. Er machte wiederholt Anstrengungen, die Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen, allein sie blieben ohne Erfolg, bis endlich den Wallner eine schwere, voraussichtlich tödliche Krankheit befiel. Da schlug ihm das Gewissen und seinem Munde entrang sich das Bekenntniß, daß er, um seine Schuld abzuschwächen, seinen Dienstherrn mit Unrecht als seinen Verführer beschuldigt habe. Er nahm alle hierauf gerichteten Angaben zurück.

Das Verfahren wurde nun wieder aufgenommen und auf Grund der neuen Erhebungen das alte Urtheil für nichtig erklärt. Fedl verließ den Kerker, in dem er zwei Jahre lang die durch das Bewußtsein seiner Unschuld verschärften Qualen eines Verurtheilten erduldet hatte. Man kann den Gedanken nur mit Entsetzen ausdenken, daß dieser Mann ohne das Bekenntniß eines Sterbenden sein ganzes Leben in schwerer Kerkerhaft hätte verbringen müssen. Und doch lag nach menschlichem Ermessen die Sache so, daß die Verurtheilung Fedls gar nicht Wunder nehmen konnte. Denn gegen jene Bosheit und Niedertracht, wie sie in dem Verfahren des Knechts Wallner lag, ist der Richter waffenlos. Er muß eben vor allem glauben, daß es die Wahrheit ist, was er aus dem Munde eines des Lügens nicht verdächtigen Zeugen vernimmt, muß es um so mehr glauben, wenn dieser Zeuge seine [546] Angaben mit einem Eide bekräftigt; der Eid ist die letzte, äußerste Vorsichtsmaßregel, welche das Gesetz dem Richter an die Hand giebt, und nicht umsonst wird er mit den feierlichsten Formen umkleidet. Aber leider muß man wieder und wieder die Erfahrung machen, daß auch dieser ernsteste Anruf an das Wahrhaftigkeitsgefühl in der Menschenbrust keine vollkommene Sicherung gegen die Lüge bildet.

Das trat ist erschreckender Weise in einem Straffalle zu Tage, der sich im Jahre 1880 zu Berlin abspielte. Hier wurde eine Frau Luise Ernestine Steigerwald, Ehefrau eines Restaurateurs, das Opfer eines ganz niederträchtigen Komplotts falscher Zeugen.

Die Steigerwaldschen Eheleute lebten in kinderloser Ehe und hatten deshalb ein junges Mädchen, Edwine M., aus dem Waisenhause an Kindesstatt angenommen. Die Wahl war keine gute gewesen. Das Kind erwies sich als undankbar und durch und durch lügnerisch. Diese schlimmen Eigenschaften wußte das Dienstmädchen S. für ihre Zwecke auszubeuten. Sie war von ihrer Dienstherrin mit einem schlechten Zeugnisse entlassen worden und sann nun auf Rache. So beschloß sie, die Frau Steigerwald in Untersuchung und Strafe zu bringen, indem sie dieselbe der fortgesetzten schweren Mißhandlung der Pflegetochter beschuldigte. Um der Anzeige Erfolg zu verschaffen, verleitete sie das zwölfjährige Kind zu allerlei falschen Angaben. Es mußte vor Gericht aussagen, daß es von der Pflegemutter immer aufs strengste und gröbste behandelt und häufig mit einem dicken Stricke geschlagen worden sei; man habe es sogar unter fortgesetzten Drohungen gezwungen, die ekelhaftesten Dinge zu verzehren. Die S. zog auch den Stiefbruder ihrer Herrin, einen Füsilier E., der mit seiner Stiefschwester nicht in gutem Einvernehmen stand, mit in das Komplott und wußte ihn zu bestimmen, daß er als Belastungszeuge auftrat. Da die S. die Aussage des Kindes mit ihrem Eide bestätigte, so wurde den Betheuerungen der Frau Steigerwald, daß ihre Pflegetochter durch und durch unwahrhaftig sei, kein Glaube geschenkt; die unglückliche Frau wurde vielmehr wegen schwerer Mißhandlung zu einer dreijährigen Gefängnißstrafe verurtheilt.

Jetzt machte es sich aber ein Bekannter der Familie Steigerwald namens Bornstedt zur Aufgabe, die Wahrheit ans Licht zu ziehen, nachdem es ihm zunächst gelungen war, auf Grund ärztlicher Zeugnisse eine vorläufige Haftentlassung der einst kräftigen und gesunden, jetzt ganz hinfälligen Gefangenen zu erzielen. Er bediente sich dabei einer List. Er reiste nach Brandenburg, wo der Stiefbruder der Frau Steigerwald in Garnison stand, gewann dessen Vertrauen und erfuhr von ihm, daß er mit der Hauptzeugin, dem früheren Steigerwaldschen Dienstmädchen, noch in Briefwechsel stehe und daß deren Aufenthalt Berlin sei. Nunmehr sandte er an diese eine Mittelsperson, welche sie im angeblichen Auftrag des E. bestimmte, ihre Briefe, um sie einer etwaigen Beschlagnahme zu entziehen, durch die Hand Bornstedts laufen zu lassen. Die S. ging in die ihr gestellte Falle. Bornstedt behielt die Originalbriefe und schickte dem E. bloß Abschriften. Einige verrätherische Bemerkungen darin brachten das heimtückische Komplott an den Tag, und die Untersuchung wurde wieder aufgenommen. Zwar betheuerte in der neuen Hauptverhandlung das Dienstmädchen wiederholt die Richtigkeit ihrer früheren Aussage – durch einen Widerruf hätte sie sich ja selbst eines Meineids überführt – aber die von Bornstedt vorgelegten Schriftstücke legten ein vernichtendes Zeugniß wider sie ab. Der Stiefbruder zog es vor, von dem ihm als Verwandten zustehenden Rechte der Zeugnißverweigerung Gebrauch zu machen, dagegen sagte eine neue Zeugin, Frau Kothe, bei welcher die S. nach ihrem Abzuge von der Frau Steigerwald einige Zeit gedient hatte, unter anderem aus, ihre damalige Hausgenossin habe kurz vor der falschen Anzeige zu ihr geäußert, sie werde die Steigerwald schon hereinlegen, deren Stiefbruder werde ihr dazu verhelfen und den Eid werde sie schon leisten, den brauche man ja nur nachzuplappern. Auch die mittlerweile in einer Zwangspflege untergebrachte Edwine M. war inzwischen in sich gegangen und erklärte ihre frühere Aussage für erlogen. Sie habe dieselbe nur auf Zureden der S. gemacht.

Nach Schluß der Beweisaufnahme beantragte der Staatsanwalt, die Frau Steigerwald freizusprechen und die S. wegen Meineids in Haft zu nehmen. Es sei ihm, führte er aus, ganz zweifellos, daß die Angeklagte unschuldig verurtheilt worden sei auf Grund eines empörenden Lügengewebes, welches die S. gesponnen habe. Es handle sich hier um ein furchtbares Unglück, welches über die Frau hereingebrochen sei. Die Sache habe dasselbe Gewicht, wie wenn jemand ermordet oder dem Arzte, der helfen und operieren wolle, hinterrücks ein vergiftetes Instrument zugesteckt würde. Mit solchen vergifteten Instrumenten habe in diesem Falle der Gerichtshof operieren müssen, und deshalb falle die Schuld nur auf das Haupt derer, welche die Frevelthat verbrochen hätten. Das Gericht sprach denn auch, wie nicht anders möglich, die Frau Steigerwald frei und legte dem Staate die Tragung sämmtlicher Kosten und Auslagen auf. Der Vorsitzende erklärte nach Verkündigung dieses Urtheils, daß er bedauere, der schuldlosen Frau nach Lage der Gesetzgebung nicht mehr gewähren zu können.

Sie hatte anderthalb Jahre im Gefängniß gesessen und ihre Gesundheit eingebüßt.

Ein besonders greller Fall, der seiner Zeit großes Aufsehen erregte und die Theilnahme der Presse und des Publikums bis über den Ocean hinüber gewann, war derjenige des Mühlknappen Schrader in Kroppenstedt, welcher wegen Brandstiftung zu einer fünfzehnjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt wurde; er hatte schon sieben Jahre davon verbüßt, als endlich das Licht erlösender Wahrheit in seine Kerkerzelle fiel. Auch in diesem Falle handelt es sich um eine, vom eigentlichen Thäter mit teuflischer List ins Werk gesetzte Ablenkung des Verdachts auf einen unschuldigen Dritten.

Am 3. November 1867 – wir folgen hier einem ausführlichen Berichte der „Magdeburger Zeitung“ – brannnte die dem Müllermeister Ferdinand Könnecke zu Kroppenstedt gehörige, in kurzer Entfernung vor dem Kirchthore daselbst gelegene Bockwindmühle ab, auf welcher der Mühlknappe Friedrich Schrader vom Sommer 1866 bis dahin 1867 gearbeitet hatte. Der Brandstifter wurde nicht ermittelt und Könnecke baute an derselben Stelle eine neue Mühle auf. Auch in dieser brach am 2. Mai 1869 morgens gegen drei Uhr Feuer aus, Feldarbeiler, die in der Morgenfrühe vorüber gingen, hatten die Mühle offen stehen und einen dunklen Gegenstand die Treppe hinab kollern sehen. Beim Näherkommen fanden sie den Müllerburschen Günther in scheinbar bewußtlosem Zustande dort liegen. Die Beine waren ihm mit einem Stricke und die Hände mit einem Stücke Weißzeug zusammengebunden. In der Mundhöhle stak ein Taschentuch. Die Jacke hatte bereits Feuer gefangen. Durch ärztliche Hilfe wieder ins Bewußtsein zurückgerufen, machte er die Angabe, es habe nachts zwei Uhr an der verschlossenen Eingangsthür der Mühle geklopft und eine Stimme habe gerufen: „Mach’ auf!“ Als er öffnete, seien zwei Männer mit geschwärzten Gesichtern eingetreten, von denen er den einen als den Mühlknappen Schrader erkannt habe. Dieser habe ihn sofort gepackt und dann, während der andere ihn von hinten festhielt, einen Stricks und ein Vorhemdchen herbeigeholt, um ihm Beine und Hände zusammenzubinden. Zuletzt habe Schrader ihm das Taschentuch aus der Tasche gezogen und in den Mund gestopft. Dann sei der zweite, ihm nicht bekannte Mann daran gegangen, den größeren Cylinder in der Mühle in Brand zu setzen, und da ihm dies nicht gelang, habe er den Versuch bei dem kleineren wiederholt, der dann auch bald in hellen Flammen aufgelodert sei. Darauf hätten sich die Eindringlinge entfernt. Ihm selbst habe die Angst vor dem Feuertode noch soviel Kräfte verliehen, daß er sich bis an die von den Brandstiftern offen gelassene Thür habe schleppen können, um sich von dort die Treppe hinab fallen zu lassen, worauf ihm das Bewußtsein geschwunden sei. Den ihm gegenüber gestellten Schrader bezeichnet er nochmals bestimmt als einen der Thäter auch der Kleidung nach, nur habe er eine andere und zwar eine rothgestreifte Jacke getragen. Schrader versicherte dagegen, überhaupt nur eine Jacke zu besitzen. Bei der Haussuchung fand sich indeß noch eine zweite und zwar rothgestreifte Jacke vor, welche allerdings ganz zerlumpt war.

Dieser Umstand und der weitere, daß Schrader während seiner Dienstzeit bei Könnecke einmal geäußert hatte, er werde an diesem schon noch Rache nehmen, ließen die Aussage des Günther begründet erscheinen. Am 12. Juli 1869 wurde der Angeklagte trotz seines beharrlichen Leugnens von dem Schwurgerichte zu Halberstadt der vorsätzlichen Brandstiftung und des versuchten Mordes für schuldig erklärt und zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt.

Am 21. Juli 1869 trat er seine Strafe im Zuchthause zu Halle an. Zwei Gesuche um Wiederaufnahme des Verfahrens blieben ohne Erfolg. Dabei wurde indeß doch etwas ermittelt, [547] was das Zeugniß Günthers in ein eigenthümliches Licht stellte. Dieser hatte inzwischen bei dem Müllermeister Hackeborn in Arbeit gestanden. Wegen schlechten Betragens wurde er entlassen und – zwei Tage darauf brannte die Mühle nieder. Auch die Verwendung des Magistrats zu Kroppenstedt und der Versuch, im Wege der Gnade eine Aenderung in Schraders Schicksal herbeizuführen, blieben ohne Erfolg. Alle Mittel schienen somit erschöpft.

Da – es war am 31. Oktober 1876, also sieben Jahre nach jener Verurtheilung – meldete sich Günther beim Fürstenwallposten zu Magdeburg und gab an, daß er die Könneckesche Mühle am 2. Mai 1869 selbst angesteckt habe, daß seine Erzählung von der Thäterschaft Schraders erlogen gewesen sei. Dieses Bekenntniß wiederholte er auch vor Gericht.

Danach sollte sich die Sache folgendermaßen zugetragen haben:

Ein Ziegeldecker zu Kroppenstedt verleitete Günther am Abend des 1. Mai 1869 dazu, seinem Dienstherrn einen halben Scheffel Roggenmehl zu entwenden und ihm für sechs Groschen zu überlassen. Die Furcht vor Entdeckung dieses Diebstahls brachte in Günther den Entschluß zur Reife, die Mühle in Brand zu stecken und damit die Spuren des Vergehens zu verwischen. Gegen ein Uhr nachts legt er das Feuer an. Als die Flammen rasch um sich greifen, fesselt er sich an Händen und Füßen in der Absicht, sich selbst mit zu verbrennen. Aus einer Ohnmacht wieder zu sich gekommen, hört er den Namen Schraders rufen, und um die Thäterschaft von sich abzulenken, bezeichnet er ihn als Brandstifter. Der Zufall will es dann, daß eine von ihm aufs Gerathewohl beschriebene Jacke sich wirklich in Schraders Besitz befindet.

Obwohl die angestellten Erhebungen das Selbstbekenntniß Günthers nicht in allen Punkten bestätigten, namentlich nicht in Betreff des Beweggrundes, so blieb doch kein Zweifel übrig, daß Schrader schuldlos verurtheilt worden war. Eine irrenärztliche Prüfung ließ auch die Zurechnungsfähigkeit Günthers als ganz zweifellos erscheinen. In Uebereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft wurde auf Freisprechung Schraders erkannt und nunmehr Günther wegen vorsätzlicher Brandstiftung und Meineids mit sechs Jahren Gefängniß bestraft.

Das Schicksal Schraders erweckte, wie erwähnt, eine weitgehende Theilnahme. Namentlich war es die „Magdeburger Zeitung“, welche in einigen warmen Artikeln für die Sache des unschuldig Verurtheilten eintrat. „Sein Besitzthum,“ schrieb sie, „ist verkauft; seine Familie zerstreut. Entblößt von allem, ist er des Mitleids wohlthätiger Menschen werth.“ Dieser Ruf an die Menschenliebe verhallte nicht ungehört. Sie trat ein in die von der Gesetzgebung offen gelassene Lücke und brachte in kurzer Zeit die Summe von dreißigtausend Mark auf als Sühnegeld für das dem armen Müllergesellen zugefügte Unrecht.

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Die von uns gesammelten Beispiele haben gezeigt, wie viele Ursachen zusammen wirken können, um einen falschen Urtheilsspruch zustande zu bringen. Einsichtsvolle Geschworene, gewissenhafte Richter, die feierlichsten Einrichtungen, welche menschliche Bildung und menschliche Sitte geschaffen haben, um das heilige Recht aufrecht zu erhalten, werden hier zu willenlosen Spielbällen eines äffenden Zufalls, heimtückischer Bosheit, kindischer Schwachheit, wissenschaftlicher Fehlgriffe. Nicht Absicht oder böser Wille auf seiten derer, welche berufen sind, das Recht zu finden, liegen hier vor, nur der Irrthum ist es, der obwaltet, dessen letzter Grund aber wieder in der Unvollkommenheit aller menschlichen Weisheit und Erkenntniß liegt.

„Was ist Wahrheit?“ Diese Frage des römischen Landpflegers wird immer eine offene sein und bleiben, solange nicht der Himmel zur Erde steigt. Nur geistige Beschränktheit und eitle Selbstgefälligkeit wird meinen, ihr Ausspruch sei unfehlbar. Und es liegt ein tiefer Sinn drin, wenn der mohammedanische Richter, indem er vor der Weisheit eines Höhern sich beugt, seine Urtheile stets mit dem Ausruf schließt: „Allah weiß es besser.“

Unter den Urtheilen, welche jährlich zu Tausenden in die Welt hinausgehen, bilden indeß diejenigen, welche einen Unschuldigen irrthümlich der Strafe zeihen, nur einen sehr geringen Prozentsatz, und es steht andererseits fest, daß mehr Schuldige freigesprochen als Unschuldige verurtheilt werden. Wo aber dennoch das letztere geschah und wo dann eine glückliche Wendung die Wahrheit an den Tag förderte, die Unschuld des Verurtheilten zu unbestreitbarer Gewißheit erhob, da, meinen wir, sollte es der Staat als seine heilige Pflicht betrachten, das einem seiner Bürger widerfahrene Unrecht zu sühnen, soweit es überhaupt geschehen kann, ihm Ersatz zu leisten wenigstens für den Ausfall an materiellen Gütern. Es bleiben ja doch, wie sich uns wiederholt enthüllt hat, Schädigungen moralischer Art genug übrig, die auszugleichen in keines Menschen Macht steht. Nur dann, wenn der Staat nicht bloß den Schuldigen straft, sondern auch den unschuldig Gestraften nach einem alten Rechtsausdruck „wieder einsetzt in den vorigen Stand“, nur dann ist er, was er sein soll, ein – nach menschlichem Maße gemessen – vollkommener Hüter des Rechts. Fr. Helbig.     


  1. Der erst zum Tode verurtheilte und später freigesprochene Loth lebt jetzt als Wirthschaftsinspektor auf einem Gute bei Leipzig, hat eine Familie gegründet und genießt des besten Leumunds. Alljährlich am Tage seiner Freisprechung erstattet er seinem Retter, dem Dr. Koch in Gera, brieflich seinen Dank.