Um Paris herum. I.
Draußen donnern die Feuerschlünde und manchmal zittern die Scheiben in den Fenstern von dem furchtbaren Gedröhn der Batterien, aber sonderbar, wo man sich sonst vielleicht, bei dem Getöse einer Schlacht, beängstigt, beunruhigt fühlen konnte, da ist hier gerade das Gegentheil der Fall, ja, man horcht sogar ungeduldig hinüber, wenn das Feuer einmal zu schweigen beginnt.
Das war ein Jubel hier, als nur erst einmal die Schanzarbeiten begannen, und die Soldaten hackten und schaufelten mit einem wahren Feuereifer und in den Compagnien sangen sie wieder ihre deutschen patriotischen Lieder, besonders die „Wacht am Rhein“, die ich hier zuerst wieder gehört. An ihnen sollte es wahrlich nicht liegen, wenn die heißersehnte Beschießung auch nur um eine Minute verzögert würde. Aber immer noch verging Woche auf Woche – jeder Tag brachte neue Vorräthe von Munition und Lebensmittel die Hülle und Fülle, und die Soldaten auf den Vorposten hatten einen schweren Stand. Sie wurden unaufhörlich, besonders von dem an allen Ecken und Enden befestigten Mont Avron beschossen und durften nicht antworten. Viele arme Teufel fielen unter den mörderischen Geschossen der Feinde, aber trotzdem arbeiteten die übrigen unverdrossen fort, denn sie wußten, daß ihnen jetzt bald Gelegenheit geboten wurde, die freundlichen französischen Eisengrüße mit gleicher Münze zu bezahlen.
Und der Tag kam – auf dem Mont Avron wimmelte es von Soldaten, die da drüben in größter Sicherheit exercirten und manövrirten, Signale bliesen, trommelten und aus ihren zahlreichen Batterien unaufhörlich, ja selbst dahin schossen, wo sie nur einen einzelnen Mann erblickten.
Unsere Batterien waren verdeckt erbaut worden, so daß der Feind die Arbeit gar nicht bemerkt zu haben scheint und sie wenig – meistens wohl nur durch Zufallsschüsse belästigte. Eine Batterie stand hinter einer Mauer, andere hinter Bäumen und Gestrüpp. Da fielen eines Morgens, wie mit einem Schlage – diese Deckungen und jetzt fegten unsere schweren Granaten dort hinüber, mitten zwischen den Soldatenschwarm und richteten eine fabelhafte Verwirrung an. Im ersten Augenblick stob Alles auseinander und fuhr durcheinander, aber dies Gefühl der Ueberraschung dauerte nicht lange, denn als Granate auf Granate folgte, gefiel der Besatzung da oben der Punkt nicht mehr und in wenigen Stunden selbst war der Platz von jeder Infanterie geräumt. Nur die Artillerie hielt noch eine Weile Stand, fand aber doch auch bald, daß ihr die feindlichen Geschütze zu heiß wurden, und gab die bisher allerdings unangefochtene Stellung preis.
Doch das ist eigentlich schon eine geschichtliche Thatsache und nicht gerade das, was ich dem Leser der Gartenlaube erzählen möchte. Meine Absicht ist, ihm womöglich einen Ueberblick über diesen Theil des Gefechtsfeldes zu geben, so daß er sich ein Bild von den riesigen Belagerungsarbeiten wie dem Terrain selber machen kann. Ich weiß recht gut, daß es nicht eben leicht ist, aber der Versuch muß jedenfalls gewagt werden.
Ich liege hier – nur eben außer Schußweite der Forts, in Le Vert galant, dem Hauptquartier des Prinzen Georg von Sachsen, und vor allen Dingen wird es nöthig sein, ein paar Worte über diesen Punkt selber zu sagen, da eine Schilderung des kleinen Platzes zugleich den Charakter der ganzen Gegend wiedergiebt. Diese besteht allerdings aus einer weiten großen fruchtbaren Ebene, aber wohin das Auge auch fällt, ist sie mit kleinen reizenden Ortschaften, Villen, Dörfern, Gärten oder industriellen Anstalten wie besäet. Diese Städtchen oder Dörfer haben nur das eine Unangenehme, daß sie fast sämmtlich, und mit sehr wenig Ausnahmen, eine einzige endlose Straße bilden. Es scheint und ist auch wohl so, daß keiner der Bewohner, die sich hier ein Haus gebaut, von dem Hauptverkehr dieser nach Paris hineinführenden Straßen ausgeschlossen bleiben wollte, was sicherlich in irgend einer Seitenstraße der Fall gewesen wäre, also deshalb keine Seitenstraße, und nur der eine lange Häuserdarm, der den Hindurchwandernden fast zur Verzweiflung bringt.
Glücklicher Weise sind die Franzosen in Allem, was Straßenbau betrifft, das, was sie im Ganzen sich zu sein dünken, nämlich „das erste Volk der Erde“, denn ihre Verkehrswege lassen Nichts zu wünschen übrig und Louis Napoleon hat sich da wenigstens, an die Arbeiten Louis Philipp’s anknüpfend, ein Verdienst um die sonst arg genug gemißhandelte Nation erworben. Diese ganzen Straßen sind mit großen viereckigen Steinen gepflastert, und wenn das nicht wäre, so würde bei dem jetzigen Schmutzwetter jede Verbindung entweder unterbrochen sein, oder doch wenigstens furchtbar erschwert werden. Jetzt geht es; der Schlamm liegt allerdings auf den Steinen, trotzdem daß ganze Colonnen Soldaten mit dem Besen auf der Schulter ausmarschiren und daran arbeiten, aber man hat doch festen Untergrund, wenn auch freilich reine Stiefel nur so lange bestehen, bis man den zweiten Schritt aus dem Haus hinausthut.
[114] Daß ich dem ununterbrochenen Kanonendonner, der bald klar und deutlich von unseren Batterien hinüber nach den feindlichen Forts, bald dumpf und grollend von dort zu uns herüber dröhnte, nicht lange aus der Ferne zuhören mochte, läßt sich denken.
In Lagny hatte man mir allerdings auf der Commandantur gesagt, daß mein ganzer Weg vergeblich sei, denn seit wenigen Tagen sei strenger Befehl gekommen, Niemanden, wer es auch sei, in die Batterien mehr zu lassen, selbst nicht Officiere, wenn sie ihr Dienst nicht selbst dort hielt, da so viele Unglücksfälle vorgekommen wären, aber ich verließ mich auf mein gutes Glück. Prinz Georg von Sachsen, der hier commandirt, und bei den Truppen nicht allein seines leutseligen Wesens, sondern auch seines Muthes wegen überall beliebt ist, empfing mich in so liebenswürdiger wie ehrender Weise. Nicht allein, daß er mir die erbetene Erlaubniß augenblicklich ertheilte, nein, einige der Herren vom Generalstab erboten sich sogar, mich zu führen, und auf wackeren Thieren trabten wir dem Schall der Geschütze entgegen.
Die verschiedenen Hauptquartiere liegen allerdings überall außer dem Bereich der feindlichen Geschütze, Le Vert galant ist aber trotzdem kaum mehr als eine halbe Stunde von unseren Batterien von Rancy entfernt, und je weiter wir ritten, desto deutlicher wurde der Donner der Geschütze, der immer mächtiger zu uns herüberdröhnte. Die Gegend hier war, wenn auch nicht sehr coupirt, doch so von den verschiedenen Parks und Gehölzen umschlossen, daß man keinen recht freien Blick gewinnen konnte, bis wir endlich das ziemlich hochgelegene Dorf Rancy erreichten, und von dort den ersten Ueberblick gewannen.
Ich sage Dorf Rancy, das wäre aber jedenfalls ein falscher Ausdruck, wenn wir den Begriff damit verbinden wollten, den wir uns daheim unter einem sogenannten Dorf machen. Rancy liegt in der nächsten Nähe von Paris und dies Dorf schon besteht aus einer Anzahl der reizendsten Landsitze, die sich auf der Welt nur denken lassen. Kleine Parks und Villen wechseln miteinander ab, und die Straße bilden die elegantesten Gebäude, die nur einen schlechten Geschmack in dem Anstrich zeigen. Die Ecken derselben sind nämlich – was gerade keinen angenehmen Eindruck auf das Auge macht, roth und weiß gemalt – ebenso die Pfeiler, welche die Gärten umgeben, während die eisernen Gitter grün angestrichen stehen und die einzelnen Namen der Straßen auf einem lilla Untergrund prangen. Das Ganze ist viel zu bunt, um einen guten Eindruck zu machen, aber das vergißt man bald, sowie nur die Bäume vorn eine weitere Aussicht gestatten, und dort, unmittelbar vor uns liegt die hohe Hügelkette, die Paris umschließt, und klar und deutlich – denn ich traf glücklicher Weise in dieser ewig regnerischen und trüben Zeit einen hellen Tag – lassen sich die Forts Rosny und Romainville, besonders durch die eigenthümlich hohen und plump darauf erbauten mächtigen Casernen erkennen, die allerdings einen prachtvollen Zielpunkt bieten.
Noch aber war das Ganze zu undeutlich, zu sehr von Gebüsch und Bäumen bedeckt, um einen vollen Ueberblick zu gewinnen; außerdem donnerten die Geschütze zu verlockend nahe, um nicht zu ihnen hinüber zu dringen, und deshalb die Pferde hier in dem Schutz der Gebäude lassend, stiegen wir ab und gingen zu Fuß nach den Batterien hinüber.
Armes Rancy, welch ein bewegter Platz mag es früher gewesen sein, wie mag es von fröhlichen Menschen, besonders in Sommerszeit gewimmelt haben, und wie verlassen, wie öde lag es jetzt! Keines der Häuser war mehr bewohnt, ja auch nur eingerichtet, denn nicht, etwa unsere Truppen, sondern die Franctireurs und anderes Gesindel aus Paris hatten schon vor Eintreffen unserer Armee die ganze Umgegend von Paris durchzogen und verwüstet, um den „deutschen Barbaren“, wie sie meinten, jede Hülfsquelle, jeden Schutz abzuschneiden. Den einzigen Schaden thaten sie aber nur sich und ihren eigenen Landsleuten, denn gerade diese den feindlichen Batterien zu sehr preisgegebenen Plätze wurden von unserer Armee nur allein durch die nöthigsten Posten besetzt gehalten.
Uebrigens fanden wir hier schon im reichsten Maße die Spuren eingeschlagener Granaten, theils an den Häusern, theils im Wege selber, theils an den Bäumen, und manchen Centner Eisen haben die Franzosen, seit sie hier Deutsche wußten, herübergeworfen, ohne vielen Schaden anzurichten – wenigstens im Verhältniß zu der Masse von geschleuderten Geschossen.
Unmittelbar vor uns aber donnerten jetzt die Zwölf- und Vierundzwanzigpfünder, ohne daß von drüben herüber bis jetzt eine einzige Kugel gekommen wäre, und durch einen kleinen Wald – eine Art Park – mit ziemlich hohen Bäumen schreitend, standen wir plötzlich unmittelbar hinter der Batterie Nr. 1 und vielleicht zwölf Schritt höher als diese. Aber mein Blick suchte zuerst nicht etwa die mächtigen vor uns stehenden Geschütze, die in drohender Reihe vor uns eingegraben und feuerbereit standen, sondern schweifte hinüber nach dem Ziele unserer Sehnsucht – Paris, und konnte sich nicht losreißen von dem prachtvollen Bilde.
Die Stadt Paris war nun allerdings von hier aus noch nicht zu erkennen, denn erstlich beträgt die Entfernung von dieser Höhe bis zu der äußersten Enceinte derselben in gerader Richtung noch voll eine deutsche Meile; dann aber auch legte sich der ziemlich hohe Hügelrücken dazwischen, auf dem die Forts gebaut sind, und schnitt die Aussicht ab; aber interessant genug war schon das, was das Auge erreichen und überfliegen durfte.
Dicht und unmittelbar vor uns lag der langgestreckte, sich nach rechts zu Thale neigende Mont Avron, dessen so glückliche Beschießung den Parisern zum ersten Male die Augen öffnete, daß die ganze Sache mit der Belagerung der „Hauptstadt der Welt“ doch eigentlich kein bloßer muthwilliger Scherz der „deutschen Barbaren“ sei, sondern in blutigen Ernst auszuarten beginne. Dahinter erhob sich voll und deutlich Fort Rosny, dem Romainville mit eben solchen Casernen und Wällen folgte. Rechts davon in der Ebene, aber noch ziemlich weit entfernt, lag das Dorf Bondy, das von uns jetzt stark beschossen wird und aus dem wir die Franzosen schon ein paar Mal hinausgejagt haben, ohne daß sie es bis jetzt ganz aufgeben mögen, indem sie wenigstens noch den westlichen Theil desselben besetzt halten.
Wie donnerte das um mich her, während ich meinen Blick noch immer nicht von der Hauptstadt da drüben abwenden konnte, indeß in den Batterien selber Alles seinen geregelten Gang nahm!
Die Batterien, die immer in einer bestimmten Entfernung von einander liegen, sind, wie vorher erwähnt, an dem äußersten Hange des Berges, von wo aus sie einen vollkommen freien Ueberblick haben, eingegraben, und liegen nach außen zu so versteckt und in dem gleichfarbigen Erdboden umher so unsichtbar daß sich ihre Stellung nur durch das Aufblitzen der Geschütze und den nachher emporsteigenden Pulverrauch erkennen läßt. Es stehen dort sechs bis acht Geschütze – selten mehr – nebeneinander (meist Vierundzwanzigpfünder, aber auch einige Zwölfpfünder) und werden auf das Commando des darüber wachenden Unterofficiers in nicht zu langen Zwischenräumen abgefeuert.[1]
Hat das Geschütz seinen Schuß abgegeben, so reinigt es die Mannschaft erst wieder und das Rohr bekommt eine kurze Zeit Ruhe, um sich abzukühlen, dann wird die Kugel – es sind sämmtlich Hinterlader – vorsichtig eingehoben und Alles steht bereit, um den Befehl zum Feuern abzuwarten. Das Geschütz befindet sich dabei nicht auf der bloßen und jetzt weichen Erde, denn schon das Gewicht desselben wie der Rückstoß würden es da tief hineintreiben. Die Kanonen haben alle einen starken Unterboden von Planken, auf welchen sie nach abgegebenem Schuß an dem sie haltenden Seil eine Strecke zurückfahren und dann leicht wieder vorgeschoben und gerichtet werden können und unübertrefflich ist die Ruhe, mit der hier Alles gehandhabt wird.
„Bombe!“ tönt da plötzlich der monotone Ruf des wachhabenden Postens, der besonders auf die feindlichen Batterien aufzupassen und sie im Auge zu behalten hat, und die eben noch so ruhigen, fast regungslosen Gestalten der Soldaten heben sich und gewinnen Leben und Bewegung. Theils richten sie sich empor und spähen aufmerksam nach dem Feind hinüber theils drücken sie sich hinter die schützende und fest aufgewallte Brustwehr – und jetzt kommt es durch die Luft in dumpfem unheimlichen Zischen und Rauschen, lauter und lauter mit jeder Secunde und jetzt – ein dumpfer Schlag auf den Boden, in dem Moment fast ein dröhnender Knall und nun kommt der gefährliche Augenblick, denn besonders nach vorn, aber auch etwas zur Seite spritzen die Stücke des gesprungenen Geschosses, und wehe dem, den sie mit ihren scharfen zerrissenen Kanten streifen oder treffen!
Es schien das nur ein Probeschuß gewesen zu sein, aber er war nicht schlecht gewesen und hatte unmittelbar neben der Batterie [115] – die Richtung angenommen, von welcher das Feuer seitwärts kam – eingeschlagen. Eine Minute wohl kam kein zweiter Schuß, und mit lauten Schlägen, bei denen die kurzen Vierundzwanzigpfünder besonders eine nervenerschütternde Stimme haben, antworteten unsere Bulldoggen.
Wir waren etwa vierzig Schritt im offenen Walde hin einer hohen Mauer zugegangen und blieben dort stehen, um eine französische Granate zu betrachten, die gestern hier in den weichen Thonboden eingeschlagen, nicht crepirt war, und nun noch, bis zum vierten Theil etwa, aus dem Boden oder vielmehr aus dem aufgerissenen Loch hervorsah, und wandten uns dann langsam ab, um die nächste Batterie zu besuchen.
„Bombe!“ schrie da der Posten wieder, und diesmal, viel rascher als vorher, hörten wir schon fast mit dem Rufe zugleich das Sausen in der Luft und unmittelbar danach den Schlag.
An ein Ausweichen ist dabei natürlich nicht zu denken, denn in nächster Nähe verkürzt sich der Ton so, daß man kaum bestimmen kann, nach welcher Richtung die Granate fliegt, als sie auch schon explodirt und ihre Sprengstücke umherspritzt. So war es hier. Das Geschoß schlug viel näher zum Fort ein, als das vorige und ein paar große Stücken sausten vorbei – so nahe, daß man sehen konnte, wie sie durch die Luft sausten. Der Platz aber, auf dem sie einschlugen, war genau derselbe, auf dem wir kurz vorher zusammengestanden.
Jetzt aber ging das Schießen tüchtig los, und besonders machten einige Bouquets einen vorzüglichen Effect – mit diesem zierlichen Namen belegt man nämlich eine gleichzeitige Salve der Geschütze, also das, was an Bord eines Kriegsschiffs eine Breitseite genannt werden würde. Es waren immer fünf oder sechs Geschosse, die in Zeit von vielleicht 4 Secunden abgefeuert wurden, und dann auch in gleichem Tempo einschlugen. Dort drüben hatten sie auch die großen Marinegeschütze – sogenannte Achtundvierzigpfünder. Eines von diesen schlug, als wir wieder fortgingen, vor uns in den Weg und spritzte über die Straße hinüber. Das eine Stück davon hatte dabei die Größe und auch sonderbarer Weise die Form eines Hemmschuhs.
Ueberhaupt sollen die französischen Granaten lange nicht so gefährlich sein als die deutschen, weil sie gewöhnlich nur in einzelnen großen Stücken auseinander springen, während die unseren in eine Menge kleiner Theile zerplatzen und dadurch einen viel größeren Raum decken und gefährden.
Das war doch wenigstens ein eiserner Gruß aus Paris, und ich fühlte mich von meinem Empfang außerordentlich befriedigt.
Ehe wir die Batterien verließen, besuchten wir noch das mit Erde gedeckte und so viel als möglich schußfest gemachte Lager der dortigen Wacht, und einen pittoreskeren Platz kann es kaum auf der Welt geben. Es war nicht mehr als ein langer, halbgeschlossener und kaum vier Schritt breiter Schuppen, der sich an der einen Batterie hinzog und den die Soldaten im Innern auf das Wunderlichste ausgestattet hatten.
In dem größten Theil desselben lag allerdings Stroh, auf dem die müden Posten ausgestreckt eine kurze Ruhe suchten, um wenn aufs Neue gerufen, wieder frisch bei Kräften zu sein, aber auch andere Bequemlichkeiten waren vorhanden, und zwar nicht von geringerer Art: Ein sehr hübsch überzogenes Sopha nahm den Mittelpunkt ein, oder bildete vielmehr das Centrum des ganzen Ameublements – rechts und links davon standen zwei weich gepolsterte Lehnstühle, in denen behaglich zwei Unterofficiere Platz genommen und ihre kurzen Pfeifen rauchten, links am Eingang stand ein Schreibtisch mit Schreibmaterialien darauf – rechts davon ein kleiner eiserner Ofen, den der benachbarte Wald mitheizte, und neben diesem wieder ein augenblicklich leerer, aber sehr bequemer Fauteuil.
Die Leute hatten sich diese Meubles jedenfalls aus dem nicht fern davon gelegenen Rancy herbei geholt, ihre provisorische Wohnung damit ausstaffirt und befanden sich allem Anschein nach sehr behaglich. Ob eine gerade direct auf das Dach schlagende achtundvierzigpfündige Granate nicht doch am Ende durchgeschlagen wäre, ist schwer zu sagen, aber gegen umherfliegende Splitter boten die theilweisen Wände doch einigermaßen Schutz, und die Soldaten werden zuletzt überhaupt durch die ununterbrochen drohende Gefahr so abgestumpft, daß sie selbst gleichgültig gegen dergleichen kleine Unannehmlichkeiten sind.
Uebrigens fehlt ihnen hier Nichts zu einem guten Leben.
„Früher, ja,“ sagten mir Verschiedene, die ich deshalb frug, „hatten wir wohl manchmal Noth und mußten uns mit geringer Kost behelfen – doch geht das nicht anders im Krieg. Jetzt aber haben wir die Hülle und Fülle und befinden uns vortrefflich.“
Als wir den Heimweg antraten, dauerte die beiderseitige Beschießung fort, und ich hörte auch hier, daß die Franzosen gewöhnlich um halb drei Uhr Nachmittags ihr Feuern beginnen, weil sie die Sonne dann von den Forts aus gegen Rancy im Rücken, und dadurch ein besseres Licht zum Zielen haben. Unseren Batterien ist dagegen, aus denselben Gründen, der Morgen günstiger. – – –
Am Zweiundzwanzigsten hatte ich die Batterien besucht; am Dreiundzwanzigsten erbot sich einer der Herren vom Stabe des Prinzen in liebenswürdigster Weise, mich zu den äußersten Vorposten gegen Bondy zu führen, damit ich auch einmal eine ordentliche Feldwache zu sehen bekäme.
Der ziemlich lange Weg dahin führte den Canal entlang, der hinein in die Vorstadt Villette mündet, und hier bekam ich volle Gelegenheit, die wahrhaft künstlerische äußere Vertheidigungslinie unserer Truppen kennen zu lernen, und dadurch erst bekommt man einen wirklichen Ueberblick über die eigentliche Cernirung von Paris, von der man sich daheim kaum einen deutlichen Begriff machen kann.
Eine Belagerung von Paris wurde sonst, ganz abgesehen von den starken Forts, schon deshalb für unmöglich gehalten, weil die enorme Ausdehnung der Belagerungstruppen, die sich doch den Forts nicht allzusehr nähern durften, eine riesige Armee erfordert hätte – und doch ist es der an das Wunderbare grenzenden Taktik unserer Heerführer gelungen, selbst das für unmöglich Gehaltene durchzuführen.
Der größte Theil des Weges, nach der sogenannten Pondretten- oder Düngerfabrik hinaus, wo die Feldwache liegt, führte an dem Canal hin und war, den jetzigen Stand der Straße in Betracht genommen, leidlich gut, sodaß wir die Pferde wenigstens konnten austraben lassen. Ehe wir diesen aber erreichten, passirten wir die erste, oder vielmehr die letzte Vertheidigungslinie, die ich auf den ersten Blick für eine weite Fläche hielt – und doch hatte hier noch vor kurzer Zeit ein prachtvoller, mit starken Bäumen bewachsener Park gestanden, der aber der Artillerie geopfert worden.
An den Grenzen der bewachsenen Fläche, die sich nach innen zog, lief hie und da eine Mauer hin – dort waren Verhaue angelegt, da stand ein einzelnes, kleines Haus – dann lief ein Stück Wald rechtwinklig voraus – aber das Alles war zur Vertheidigung eingerichtet, die Frontlinien mit den Flanken deckend, und die Bäume des Parks hatten fallen müssen, um ein Gefechtsfeld zu öffnen und den Geschützen freie Bahn zu geben.
Geschütze waren jetzt freilich dort noch nicht eingegraben, aber die Stellen dazu bereit, und überhaupt Alles so vorbereitet, daß in der kürzesten Frist und bei dem ersten Alarm eines Ausbruchs Alles gerüstet stehen und den Feind empfangen konnte. Jeder Mann wußte genau seinen Posten, wohin er bei der ersten Alarmirung eilte, und wäre der Feind wirklich selbst bis hierher gedrungen, was aber nur mit Forcirung der beiden vorderen Vertheidigungslinien bewerkstelligt werden konnte, so kam er da erst in die schlimmste Klemme.
Und das nicht allein – am Canal hinreitend gelangten wir bald zu einer Stelle, wo unsere Ingenieure den Canal abgegraben und dadurch einen doppelten Zweck erreicht hatten. Erstlich entzogen sie dadurch einem Theil des östlichen Paris das Wasser und dann führten sie dieses in das niedere Land gen Norden, zwischen Rancy und unseren Truppen, sodaß nach dieser Richtung ein Ausfall zur Unmöglichkeit wurde. Aber selbst der trocken gelegte Canal wurde dadurch unpassirbar gemacht, daß man die an seinem Ufer stehende Allee fällte und dieselbe beim Sturz schräg, den Canal entlang, hineinzog. Durch den Schlamm und die Zweige, Aeste und Stämme hätte jetzt nie ein Corps durchdringen können, ohne sich vorher, wie in einem Urwald, mühsam Bahn zu hauen – und auch das würde man ihnen versalzen haben.
Nach etwas mehr als einer halben Stunde scharfen Rittes erreichten wir die Poudretten-Fabrik – auf der Karte unter dem Namen Voicie angegeben. Kleine Häuser standen unmittelbar am Canal und die Soldaten davor, und, wie es schien, unter dem Schutz des größten Gebäudes. Von dort aus wurde uns auch schon zugewinkt, und als wir hielten, rief uns der dort befehlende Hauptmann zu, ein wenig rasch zu reiten, denn sie bekämen [116] Granaten. Allem Anschein nach war ich gerade wieder zur rechten Zeit angekommen.
Wir passirten den erbärmlichen Steg, der über den Canal führte, und stiegen dort ab.
Diese Poudretten-Fabrik ist eine der großartigsten Anstalten in dieser Art, die ich je in meinem Leben gesehen. Hierher wird der größte Theil des Düngers aus ganz Paris geführt und eine große Anzahl von Schlammteichen schrecklichster Art breiten sich da über die ganze Nachbarschaft aus, ebenso stehen ungeheure Haufen des schon fabricirten Stoffes zum Abfahren fertig – werden jetzt aber wohl noch eine Weile stehen bleiben müssen.
Höchst interessant war eine kleine bombenfeste Hütte, welche sich die Mannschaft, um vollständig geschützt zu sein, in einen der größten Composthaufen hineingebaut und dann noch hoch mit dem festen Staub überdeckt hatte. Es war, wie bei Batterie Nr. 1, ein langer derber Schuppen, der aber keine weitere Bequemlichkeit bot, als auf dem Boden dicht aufgeschüttetes Stroh. Durch Stein oder Holz mag nun die Granate, wie diese furchtbaren Achtundvierzigpfünder der französischen Marinegeschütze, durchschlagen aber nie und nimmer durch diese weiche, elastische Masse, die wohl dem Druck nachgibt, aber gerade dadurch, daß sie die Kraft bricht, den mächtigsten Widerstand leistet.
Schon auf dem Wege hierher und längs des Canals fanden wir die ganze Bahn, oft den Canalrand selbst, von Sprenggeschossen aufgewühlt, die tiefe Löcher in den Boden gerissen, Bäume zerschmettert, und einen besonders mit der ganzen zerrissenen Wurzel aus der Erde herausgewühlt hatten – und doch wird man fast gleichgültig gegen die Gefahr und horcht nur aufmerksam empor, wenn das weit gehörte Brausen des häßlichen Geschosses sein Nahen kündet. Wo es eben hinschlägt, muß man abwarten.
Hier hatte die Feldwacht ihren Sammelplatz, der Name Feldwacht begreift aber eben den Vorpostendienst, und die ganze Wacht bleibt jedesmal vierundzwanzig Stunden aus, wo sie dann wieder von einer anderen abgelöst wird. Nachmittags um fünf Uhr etwa zieht die dafür bestimmte Abtheilung aus, um ihren manchmal ziemlich fernen und immerhin gefährlichen Posten einzunehmen, und den andern Abend um sieben oder halb acht Uhr, je nach der Entfernung, kehren sie in ihr Quartier zurück; vier Tage haben sie dann Ruhe.
Dort aber, an der Poudrettenanstalt, war nur das „Hauptquartier“ der Feldwacht, und von hier ab werden erst die eigentlichen Vorposten, in zwei Stationen, ausgeschickt. Die erste von diesen dient als Stützpunkt der zweiten und äußersten, und diese, die abwechselnd von der ganzen Mannschaft bezogen wird, hat den schwersten und gefährlichsten Dienst, denn sie muß den schärfsten Ausguck halten und wird dabei nicht allein zeitweilig von den Granaten der Forts, sondern oft auch von den Chassepots der ihr gegenüber und gar nicht etwa sehr entfernt stehenden französischen Vorpostenlinie beschossen.
In der Poudrettenanstalt hatten sich die Herren übrigens ganz behaglich eingerichtet – die Soldaten in ihrem bombenfesten Local, die Officiere in dem kleinen Hause, das freilich einer einschlagenden Bombe nur wenig Widerstand geboten haben würde. Es war eben, wie der commandirende Hauptmann meinte, nur ein „moralischer“ Schutz, denn hier im Zimmer kümmerte man sich nicht um das, was draußen vorging.
In dem riesigen Composthaufen war oben auch ein Observationsposten für die Schildwache angelegt, und von hier aus hatte man einen vortrefflichen Ueberblick über die Forts, ja man konnte sogar von dem rechts liegenden und deutlich sichtbaren Fort St. Denis die Gebäude und etwas nach links die äußersten Thürme der nördlichen Vorstadt von Paris, Chapelle, unterscheiden.
Und dort drüben dicht bei und fast in Büchsenschußnähe lag das bestrittene Bondy, das schon eine ganze Weile von uns beschossen ist, und das Franzosen wie Deutsche versucht haben in Brand zu stecken, um keiner der feindlichen Abtheilungen einen Zufluchtsort zu gewähren. Aber diese französischen Dörfer mit ihren massiven Häusern brennen nur schwer, noch dazu, da die Franzosen vorher schon alles Brennbare, wie Meubles und dergleichen Dinge, ausgeräumt und entweder zerstört oder fortgeschleppt haben. Vergebens sind deshalb eine Anzahl von Brandgeschossen in das überhaupt verlassene Nest von beiden Seiten hineingeworfen worden – das Resultat blieb dasselbe und besetzt konnte es dabei von keinem Theile ordentlich bleiben, da es von unseren wie den französischen Batterien bestrichen wird. Nur ein kleiner Vorposten der Franzosen hat sich noch bis jetzt darin gehalten.
Hinter Bondy lag aber das seiner häufigen Gefechte wegen berühmte Le Bourget, das schon eine solche Menge theuren Blutes gekostet hat, und erobert, genommen und wieder erobert wurde, wie es denn auch jetzt noch die sächsischen Truppen besetzt halten.
Mich drängte es aber noch die äußersten Vorposten zu besuchen, um den Franzosen wenigstens so nahe als irgend möglich zu sein, und dorthin schritten wir jetzt, den Canal entlang, erreichten die erste Station, wo aber nicht viel zu sehen war, und gelangten jetzt zu dem äußersten von uns festgehaltenen Punkt, von wo aus man schon dort drüben in den im Felde liegenden Gebäuden ein paar wachestehende Franzosen erkennen konnte. Beide Theile mochten kaum mehr als achthundert oder tausend Schritt von einander entfernt stehen.
Drinnen in dem kleinen massiv gebauten Häuschen saßen die wenigen Soldaten und draußen hinter einer Art Barricade von flach aneinandergelegten Planken lehnte der Mann auf Wache und schaute still und aufmerksam durch eine Schießscharte hinaus in’s Weite, um bei irgend einer verdächtigen Bewegung des Feindes sogleich den Alarm zu geben.
Es ist ein mühseliger Dienst – stundenlang lehnt der Mann da auf Wacht, und verwendet keinen Blick von dem vor ihm liegenden Terrain, ja, hat sein Gewehr ununterbrochen schußfertig zur Hand. Es kann den Burschen da drüben jeden Augenblick einfallen, ihre Chassepots auf ihn abzubrennen, und allzu vollkommen schützt ihn die luftige Plankendeckung nicht, aber er darf nicht weichen, denn oft schon sind solche kleine Detachements von dem listigen Feind aufgehoben worden und seine Unaufmerksamkeit könnte das Verderben aller seiner übrigen Cameraden hier draußen zur Folge haben. Der Mann sah müde und erschöpft aus, aber er rührte sich kaum, als wir zu ihm traten, und wandte auch, während der höhere Officier mit ihm sprach, nur selten den Blick von draußen ab.
Der Platz war mir unheimlich. In den Batterien hatte ich mich wohl gefühlt – da war Leben und Action und wenn auch ein paar Granaten herumspritzten, so wußte man doch, daß sie der Feind aus seinen Donnerschlünden herüberschickte, und sie kamen wahrhaftig nicht heimlich angeflogen. Hier aber war Alles todtenstill – kein Laut wurde gehört – selbst die Schildwache sprach nur leise, als ob sie fürchtete, ihren Standpunkt zu verrathen.
Wir hatten hier genug gesehen – dort drüben lagen die Franzosen in dem kleinen Haus.
„Die könnten wir einmal aufheben,“ meinte mein Begleiter.
„Wenn sie sich mausig machen, ja,“ erwiderte der Soldat, „bis jetzt halten sie aber Frieden.“
„Und dort drüben?“
„Da lagen auch welche, die haben wir aber schon ausgeräuchert.“
Dieser Plankenzaun bildete gegenwärtig die westliche Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, und dort hinter jenen niedrigen Hügeln lag die Hauptstadt des in den Staub geworfenen Reiches.
Kein Schuß fiel hier in der Nähe, nur von drüben feuerte Boissière auf Rancy hinüber, und bekam auch jedes Mal rasche Antwort. Ich war froh, als wir den öden Platz endlich verließen und zu Menschen zurückkehrten.