Steppengestalten
Erinnerung aus meinem Wanderleben von F. Sch.[1]
Es war Abend geworden, und noch immer wollte sich das Ziel meiner diesmaligen Wanderung, ein einsames Steppendorf, nicht zeigen. Ermüdet warf ich mich in das kurze, graue, nach Regen lechzende Haidegras und blickte forschend umher, ob sich nicht irgendwo eine Spur von der Anwesenheit menschlicher Wesen entdecken ließe. Aber die ganze weite, nur von fernen Sandhügeln umsäumte Steppe schien öde und ausgestorben gleich der Sahara Afrikas.
Der Anblick war nicht tröstlich, und doch fesselte er mich bald so sehr, daß ich darüber Müdigkeit, Durst und Hunger vergaß, denn fand auch das suchende Auge keinen Strauch, keine Hütte, keinen Bach, keine Hecke und keinen Weg, ja nicht einmal einen Stein als Ruhepunkt, so bot diese monotone, graue Fläche, von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne beleuchtet, dennoch ein Bild, unendlich reich an schwermüthiger Poesie und seltener Naturschönheit. Ueber die düstere, dunkelnde Wüstenei spannte sich eben ein unermeßliches, unbewegtes Gewölbe, dessen ganzer westlicher Theil vom Zenith bis zum Horizont in unbeschreiblicher Farbengluth prangte, vom tiefsten Purpurroth bis zum glänzendsten Goldgelb, an das sich wieder das dunkle Violett der Sandhügel abschließend reihte, während drüben im Osten ein silberheller Lichtstreifen auf schwarzblauem Hintergrunde das Erscheinen der nächtlichen Himmelsleuchte verkündete, all diese farbenprächtigen Gebilde aber warfen auf die dunkle Haidefläche ihre riesigen Schattenbilder, über welche ab und zu einzelne Sumpfmöven dahin huschten, mit eintönigem klagendem Schrei nach Atzung haschend für die hungernden Kleinen drüben im fast vertrockneten Moor, wogegen dort am wasserlosen Tümpel um so resignirter ein einsamer Reiher stand, unbeweglich mit gesenktem Kopfe – eine Stellung, ganz entsprechend seinen zweifellos pessimistischen Betrachtungen über die Vergänglichkeit irdischer Frösche.
Wer die Steppe zu solcher Stunde sah, dem wird der mächtige Einfluß der Landesbeschaffenheit auf den Charakter der Bewohner einleuchten; er wird die Schwermuth ungarischer Lieder wie das wilde Feuer der Tänze, des Magyaren fanatische Vorliebe für sein Vaterland wie seinen Stolz, seine gutmüthig eitle Gastlichkeit wie seine Zügellosigkeit begreiflich finden, wird aber auch erkennen, daß ein Volk, welches während einer Jahrhunderte langen Herrschaft inmitten seiner Heimath so riesige, culturfähige Flächen in poetischer Oede erhalten konnte, ein zwar höchst interessantes, nie und nimmer aber ein Culturvolk ist.
Die ernsten, nicht mehr abzuweisenden Mahnungen des Magens entrissen mich endlich meinem Schauen und Sinnen und veranlaßten mich, die letzten Lichtreflexe im Westen zu einem nochmaligen Entdeckungsversuche mittelst meines Taschenperspectives zu benützen. Zu meiner angenehmen Ueberraschung gelang derselbe über Erwarten. In nicht allzu großer Entfernung gewahrte ich einen dunkeln Punkt, über welchem eine schlanke röthliche Rauchsäule die Thätigkeit menschlicher Wesen verrieth. Rasch schritt ich darauf los und erreichte nach kurzem Marsche das improvisirte Lager eines Csikos (Pferdehirten), der eben sein frugales Abendbrod bereitete. Eine passendere Staffage für das stimmungsvolle Steppenbild ließ sich kaum denken. Ich stand vor dem von malerischen Pferdegruppen umgebenen sogenannten „Lager“, einer Art spanischer Wand aus leichtem Rohrgeflecht, welche nur schwachen Schutz gegen Wind und Wetter gewährte. Hinter dem „Lager“ ruhete eine kräftige Männergestalt, mit dem nationalen Hemd bekleidet und mit sichtlichem Behagen die süßen Düfte vaterländischen Tabaks und bratender Kartoffeln gleichzeitig genießend. Bei meiner Annäherung schnaubten die Pferde wild auf über die fremde Erscheinung, und ein paar zottige Hunde fuhren grimmig auf mich los. Der Pfiff ihres Herrn rief sie jedoch alsbald zur Ordnung, worauf dieser selbst mir ein wenig mürrisch und mit dem schweren Fokos (eine Art Beilhammer mit langem Stiel) in der Hand entgegentrat.
Dem gemeinen ungarischen Manne scheint die Sympathie für militärisches Wesen angeboren, vielleicht als Erbe jener Zeit, wo jeder Magyar seinem Fürsten Heeresfolge leistete, wenn es galt, in den benachbarten deutschen Landen gute Beute zu machen. So wurde auch mein Csikos, als er den Militär in mir erkannt, sogleich freundlich und erwiderte auf meine Frage nach dem Dorfe, daß er selbst bald dahin aufbreche und mir als Führer dienen wolle, was mir selbstverständlich hoch willkommen war. Bald lagerten wir ganz traulich einander gegenüber in jener malerischen Stellung, welche Römer und Griechen bei ihren Gastmählern einzunehmen pflegten, und mein Wirth übte die Pflichten der Gastfreundschaft in der That mit nicht mindrer Freigebigkeit als Lucullus oder Alkibiades, indem er mir die Hälfte seiner Kartoffeln nebst einem ansehnlichen Stücke geräucherten Specks darbot. Ich kannte die Landessitte genügend, um zu wissen, daß gänzliches Zurückweisen des Gebotenen einer Beleidigung gleich geachtet würde. So ließ ich mir’s denn schmecken und erwiderte die Freundlichkeit des Gastgebers durch brüderliche Theilung meines Cigarrenvorrathes, was ebenso einfach angenommen wurde.
Während des Essens hatte ich genügend Muße, den Mann genauer zu betrachten. Die Züge desselben waren männlich ausdrucksvoll und angenehm wie bei den meisten seiner Landsleute, auch keineswegs unintelligent, doch schien sich diese Intelligenz bei jedem Worte, jedem Gedanken erst durch eine äußere Kruste von Starrheit oder Stumpfheit hindurch arbeiten zu müssen, ein Zustand, welchen ich geistige Verschlafenheit nennen möchte, die sich zwar im Gesichtsausdrucke Ungebildeter aller Nationen vorfindet, doch immer typischer wird, je weiter man gegen Osten vordringt.
„Wahrlich, Ihr lebt gar nicht übel da auf Eurer Haide,“ sagte ich, nachdem die Cigarren in Brand gesteckt worden waren, um den Mann zum Sprechen zu bringen.
Dieser schüttelte jedoch melancholisch den Kopf und blickte geraume Zeit in die Kohlengluth, ehe er antwortete:
„Einst, Herr, war das Csikosleben wohl schön, und damals hätte ich mit keinem Könige getauscht, mag er auch das ganze Jahr Tokayer trinken und in goldenen Stuben wohnen, aber da kam das Jahr Achtundvierzig und mit ihm die Freiheit, welche uns die Herren, wie sie sagten, zum Geschenke machten, und seitdem wird es schlimmer und schlimmer im Lande.“
„Wie das?“ fragte ich verwundert.
„Nun seht, Herr,“ fuhr der Csikos nach einigem Besinnen fort, „früher war der Bauer allerdings der Diener seines Herrn; er mußte für ihn Frohndienst thun, die Steuern für ihn zahlen, und auch an Prügel fehlte es nicht, aber vor Noth und Elend war er wenigstens sicher, denn hatte er selbst nichts mehr zum Leben, so mußte der Herr für ihn sorgen, wollte er seine Arbeiter nicht verlieren. Nun, die Frohn haben sie freilich abgeschafft; der Bauer ist ja frei, aber Prügel bekommt er doch, und sind sie auch, wie der Herr Notar meint, nur ungesetzliche, sie thun nicht weniger weh, die Steuern aber sind dreimal so hoch geworden, und kann der Bauer sie nicht zahlen, verkauft man ihm Hab’ und Gut; dann hat er die Freiheit, betteln oder unter die armen Bursche (landesüblicher Ausdruck für Räuber) zu gehen.“
Diese eigenthümliche Anschauungsweise über den Werth der erlangten Freiheit, eine Folge der herrschenden Mißwirthschaft und Indolenz unten und oben, war mir nicht neu, da sie unter den Bauern – die wohlhabenden ausgenommen – ziemlich allgemein [118] herrschte; daß sie aber auch von dem Sohne der Pußta getheilt wurde, dem die Freiheit das sein sollte, was dem Fische das Wasser oder dem Vogel die Luft, dies erregte meine Verwunderung, der ich unverhohlen Ausdruck gab.
Es kostete dem an Mittheilung seiner Gedanken wenig gewohnten Manne aber offenbar keine geringe Anstrengung, sich in dem durch meine Einwürfe entstandenen Ideenchaos zurecht zu finden, doch nachdem er ein Dutzend Rauchsäulen in die Luft gewirbelt, mehrmals energisch ausgespuckt und die Kohlengluth mit dem Fokos aufgefrischt hatte, sagte er mit trübem Lächeln: „Je nun, Herr, es mag schon sein, daß die gewonnenen Rechte, wie sie’s nennen, auch uns manchmal zu Gute kommen, bis jetzt aber brachten sie dem Csikos nur Schlimmes; denn freier konnte er nicht werden, als er war, und bei der Vertheilung von Grund und Boden erhielt er nur die Luft, die darüber streicht, und so lieb diese dem Csikos ist, sie sättigt ihn nicht. Wahr ist’s, sie that dies auch vor dem Jahre Achtundvierzig nicht, aber damals konnte der Csikos mit seinem Lohne von zwölf Gulden jährlich und den paar Stücken Vieh, die er halten darf, leben wie ein Graf, denn was er sonst noch brauchte, durfte er offen nehmen von jedem Felde. Niemand fiel es ein, ihm das zu wehren. Dem Bauer nicht, weil ja fast nichts sein war, dem Herrn nicht, weil er mehr hatte, als er verbrauchen konnte. Seitdem aber der Bauer weiß, daß der Ertrag seiner Felder ihm allein gehört, seitdem die Herren Steuern und Lohn an die Arbeiter zahlen müssen, wird jeder Kukuruzkolben, jede Kartoffel gezählt und bewacht; der Csikos mag nun sehen, wie er es anfange, nicht zu verhungern.“
Bei diesen Worten des Mannes gedachte ich mit Wehmuth der Kartoffeln, die mir so vortrefflich gemundet. Armer Csikos, was war Lucullus’ Gastfreundschaft gegen die deine, welche dir zwar sicher kein Geld, aber vielleicht einen blauen Rücken kostete!
„Wenn dem so ist, dann soll Euch der Herr jetzt besser lohnen,“ sagte ich nach kurzer Pause.
„So dachte auch ich,“ versetzte der Csikos kopfnickend, „und als mich die Bauern einmal fast halbtodt geschlagen, ging ich zum Herrn Grafen und brachte ihm mein Anliegen vor; der aber sagte:
‚Josi,‘ (Josef) sagte er, ‚was fällt Dir ein? Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen; wirst Du mir, wenn ich Dir auch doppelten Lohn gebe, das Vieh ersetzen, welches vier- und zweibeinige Wölfe stehlen?‘ ‚Das kann ich nicht, Herr,‘ sagte ich, ‚wenn aber alle Herren ihre Csikos doppelt bezahlen, so werden die zweibeinigen Wölfe nicht mehr stehlen, und diese sind die schlimmsten.‘
‚Gut, Josi, wenn Alle es thun, thue ich’s auch,‘ sagte der Graf, ‚aber Du weißt, sie thun’s nicht. D’rum geh’ und sei vernünftig! Eine Tracht Schläge sind für einen ganzen Kerl wie Du nicht der Rede werth; es thäte mir leid, müßte ich einen andern Csikos nehmen, denn Du bist ein braver Bursche, und ich bin Dir gut, Josi.‘
So ging ich wieder zu meinen Pferden, denn zum Bauernknecht tauge ich doch nicht mehr. Aber es wurde noch schlimmer, denn bald darauf kamen die Gensd’armen in’s Land, und jetzt muß der Csikos froh sein, wenn er einiger elender Kartoffeln wegen nur Schläge bekommt und nicht gar eingesperrt wird wie ein Dieb. Wahrlich, jeder arme Bursche ist jetzt besser daran als unser Einer, und lebte nicht die alte Frau, die mich zur Welt gebracht, wer weiß, was schon geschehen wäre.“
Der Mann schwieg finster, ich aber begriff jetzt die Aeußerung eines Gensd’armen, nach welcher sich sämmtliche Csikos und Hirten überhaupt in zwei Classen theilen: in solche, die schon Räuber sind, und in solche, die es werden wollen.
Eben wollte ich meinen Csikos zweiter Classe durch ein freundliches Wort seinem düstern Hinbrüten entreißen, als dieser aufhorchend den Finger auf die Lippen legte. Dann griff er nach dem an seiner Seite liegenden Fokos und verließ die „spanische Wand“. Jetzt hörte auch ich deutlich den Hufschlag eines galoppirenden Pferdes, das sich rasch näherte und nach einigen Secunden kaum zehn Schritte vom Lagerplatze des Csikos schnaubend stille stand.
Das dünne Geflecht, das mich verbarg, gestattete mir, ohne daß ich meine Stellung änderte, den Durchblick auf die jetzt vom Monde hell beleuchtete Steppe, indem ich das Auge dicht anlegte, und so sah ich denn, wie ein Mann von dem eben angekommenen schweißbedeckten Pferde sprang und ohne Weiteres dem nächsten der weidenden Thiere zuschritt.
In demselben Augenblicke aber trat der Csikos aus dem durch die Rohrwand gebildeten tiefen Schatten hervor, den Fokos wurfgerecht in der Faust, und sagte mit der dem Magyaren eigenen umfangreichen Modulation der Stimme: „Hast Du vergessen, Lajos (Ludwig), daß es für Dich hier kein Pferd giebt?“ Der Mann wendete sich sichtlich betroffen dem Sprechenden zu und zeigte sich nun im vollen Mondlichte als eine ungewöhnlich muskulöse Gestalt in der gemeinen Landestracht, die nur durch einen Ledergürtel vervollständigt wurde, aus welchem der Griff einer Pistole hervorblitzte.
Das bärtige Gesicht, von langem, wirrem, pechschwarzem Haar umwallt, hätte unbedingt für schön gelten können, wären die Züge nicht durch den düstern Ausdruck unbändiger Wildheit entstellt gewesen.
Der Mann, welchen der Csikos Lajos nannte, schien seinen Gegner einen Moment zu messen, während gleichzeitig seine Hand nach dem Gürtel griff. Aber schon schwang auch der Csikos seine in solcher Faust fast unfehlbare Waffe; da sank die Hand wieder vom Gürtel, und mit vor Zorn vibrirender Stimme sagte der Mann:
„Willst Du einen Landsmann in die Hände der Pickelhauben liefern?“ (Pickelhauben, Ausdruck für Gensd’armen.)
„Warum nicht, Lajos?“ lautete die kaltblütige Gegenfrage.
Der Zorn des Mannes schien in Folge dieser Antwort einer tiefen Niedergeschlagenheit zu weichen, denn er ließ den erst hochgetragenen Kopf wie ermüdet sinken und sagte in ganz verändertem, fast weichem Tone:
„Josi, mein Pferd ist lahm geritten.“
„Ich sehe es, Lajos,“ erwiderte der Csikos kurz.
„Josi, wir waren einst Freunde.“
„Ja, Lajos, wir waren es.“
„Weißt Du noch, Josi, wie wir zur Kirschenzeit über den Zaun des Herrengartens stiegen? Und wie der große Kettenhund Dich faßte? Er hätte Dich zerrissen, wäre ich ihm nicht mit der Faust in den Rachen gefahren – die Narben sind noch sichtbar, Josi.“
„Ich weiß es,“ entgegnete der Csikos, „aber wenn ich allein beim Feuer liege, denke ich oft, es wäre besser gewesen, der Kettenhund hätte mich damals zerrissen.“
Lajos zuckte jetzt plötzlich zusammen, horchte einen Augenblick nach der Richtung, in welcher er gekommen, und sprach dann hastig: „Josi, was verlangst Du für ein Pferd?“
„Nichts, Lajos, denn ich gebe Dir keines,“ klang es rauh zurück.
„Josi, gab ich Dir nicht meine ganze Baarschaft, als man Dich in den Soldatenrock steckte? Es waren zehn Zwanziger und ein Marienthaler, den ich von meiner Mutter hatte.“
„Und nahmst mir dafür, während ich im Soldatenrock steckte, mein Mädel,“ sagte der Csikos; „ich wollte, Lajos, Du hättest Dein Geld behalten – es war ein schlechter Handel.“
Abermals und jetzt noch heftiger schrak der Mann zusammen, und über sein blasses Gesicht rannen dicke Schweißtropfen. Unbekümmert um die drohende Haltung des Csikos, näherte er sich diesem und flüsterte: „Es ist wahr, Josi, ich nahm Dir Dein Mädel, aber Ilka ist jetzt mein Weib und trägt ein Kind unter dem Herzen; willst Du, daß Mutter und Kind Dir fluchen?“
Diese in leise zitterndem Klageton gesprochenen Worte des wilden, trotzigen Mannes erschütterten selbst mich, den unbetheiligten Zuhörer.
„Ist das auch wahr, Lajos?“ fragte der Csikos schwer aufathmend.
„Es ist wahr, Josi,“ betheuerte der Mann.
Noch zauderte der Csikos, mit sich kämpfend, dann aber entfiel der Fokos klirrend seiner Faust; unmittelbar darauf hatte Lajos mit einem Tigersprunge das weidende Pferd erreicht, und eine Secunde später flog er ohne Sattel und Bügel über die Steppe dahin.
Es war die höchste Zeit gewesen. Kaum hatte der Csikos das zurückgebliebene dampfende Thier des Flüchtigen mit einem kräftigen Hiebe abseits vom Lager unter die übrigen Pferde getrieben, als auch schon die weithin blitzenden Pickelhauben zweier berittener Gensd’armen sichtbar wurden.
[119] Jetzt trat der Csikos zu mir und sagte leise „Ihr werdet mich nicht verrathen, Herr?“
„Ich bin kein Spion,“ erwiderte ich[WS 1] ruhig.
Der Csikos nickte mit dem Kopfe, als hätte er keine andere Antwort erwartet, pfiff seinen Hunden, welche die Herannahenden mit wüthendem Gebell begrüßten, und postirte sich außerhalb des Lagers, indem er sich scheinbar unbekümmert und theilnahmlos auf seinen Fokos stützte. Ich blieb auf meinem Platze, fest entschlossen, das Vertrauen des Mannes auch dann zu rechtfertigen, wenn die Gensd’armen mich bemerken und befragen sollten. Wußte ich doch nicht einmal den Grund, weshalb jener Mann verfolgt wurde; zwar die Pistole in dessen Gürtel sprach ziemlich deutlich, allein ich hatte die Gastfreundschaft des Csikos genossen, und das entschied.
„Kam der schwarze Lajos hier vorbei?“ fragte jetzt einer der Gensd’armen, sein Pferd anhaltend.
„Ja, Herr,“ sagte der Csikos zu meinem nicht geringen Erstaunen.
Auch der Gensd’arm schien die Bejahung seiner Frage nicht erwartet zu haben und betrachtete den Csikos mit unverkennbarem Mißtrauen.
„Welche Richtung hielt er ein?“ fragte er weiter.
„Nach dem Dorfe,“ erwiderte der Csikos abermals wahrheitsgetreu, was mich fast vermuthen ließ, daß der Mann seinen Edelmuth bereute und den verhaßten Nachfolger nachträglich verrathen werde.
Die Gensd’armen wechselten leise einige Worte untereinander und trieben dann ihre Pferde in der angegebenen Richtung vorwärts.
„Warum habt Ihr den Mann verrathen?“ fragte ich den zu mir tretenden Csikos.
„Ich that es nicht,“ erwiderte dieser.
„Sagtet Ihr nicht die Wahrheit?“
„Ja, Herr, und aus gutem Grunde,“ versetzte der Csikos, „hätte ich geleugnet, daß er hier war, so würden die Pickelhauben die ganze Heerde visitirt und das schweißbedeckte lahm gerittene Pferd gefunden haben. Damit wäre dem Lajos nicht gedient gewesen, mich aber hätten sie als seinen Helfershelfer mitgenommen.“
„Warum aber verriethet Ihr die Richtung, die Lajos eingeschlagen?“ fragte ich begierig.
Der Csikos zeigte, verschmitzt in sich hinein lachend, seine beneidenswerth weißen Zähne.
„Weil sie ihn jetzt im Dorfe zu allerletzt suchen werden,“ sagte er, „denn der Gensd’arm glaubt einem Csikos so wenig, wie dieser ihm.“
„Sie schlugen aber doch dieselbe Richtung ein?“ bemerkte ich.
„Wohl, Herr, so lange wir sie sehen konnten,“ meinte der Csikos, „aber ich wette mein bestes Pferd gegen ein Ferkel, daß sie tausend Schritte weiter schon die Pferde wendeten.“
Die Gründe des Csikos waren schlagend, und eben so viele Beweise für dessen Schlauheit wie für die Schwierigkeit des Sicherheitsdienstes in diesem Lande. Der Csikos hatte während dieses Gespräches seine „spanische Wand“ abgebrochen und führte mir nun ein Pferd zu, dessen Rücken aus besonderer Aufmerksamkeit für mich mit einer Decke versehen war. So ritten wir denn bald wohlgemuth dem Haidedorfe zu, etwa ein halbes Hundert Rosse vor uns hertreibend.
Allen voran trabte ein vielgeprüfter lebenserfahrener Schimmel, gleichmäßig und gesetzt wie es dem Alter ziemt; er stammte, wie mir der Csikos sagte, von edlen Eltern und hatte einst eine bessere Zeit gekannt, hatte in der Herrenstallung köstlichen Hafer und süß duftendes Heu gespeist und manch stolzen Reiter hinter flüchtigen Füchsen und Hasen oder an der Spitze prachtvoller Banderien (berittenes Gefolge bei Festlichkeiten, auch Ehrengeleite) getragen – jetzt genoß er dafür das Gnadenbrod auf der grauen Steppe als Leitroß. Ihm folgte das übrige Volk behufter Vierfüßler in bunter Reihe, doch bildeten die in der Schule des Lebens gereiften und zugerittenen Thiere den Kern des Haufens, welchen die liebe Jugend, die weder Sporn noch Zügel, weder schwere Last noch verweichlichendes Wohlleben kannte, nach allen Richtungen ausschlagend, wiehernd und schnaubend umkreiste. Trieben sie es aber gar zu toll, dann blickte der Schimmel mißbilligend auf sie zurück, als wollte er sagen: „Na, wartet! Auch an euch wird bald die Reihe kommen; auch euch wird Zügel und Peitsche den Uebermuth austreiben, bis ihr, lebensmüde wie ich, dem Grabe zuhumpelt.“ Es war ein ebenso fesselndes wie charakteristisches Bild des Thierlebens oder vielmehr des Lebens überhaupt; ist doch dem allgemeinen Gesetze des Blühens und Verwelkens, Werdens und Vergehens selbst das Heer der Sterne unterworfen, deren Licht für ewige Dauer geschaffen scheint.
Während ich mich solcher Betrachtung als einem erprobten Mittel zur Wiedererlangung gestörter Gemüthsheiterkeit hingab, beschäftigte sich mein Csikos, dessen Seelenruhe dem äußern Anscheine nach nicht im geringsten gelitten hatte, mit den Gegenständen meiner Aufmerksamkeit ebenso eifrig, doch weit praktischer. Mit freundlichem Zurufe oder drohendem Peitschenknalle, je nach Erforderniß hippologischer Pädagogik, beschrieb er bald nach rechts, bald nach links weite Bogen, um seine ungeberdigen Pfleglinge in Ordnung zu halten, worauf er wieder einen raschen Blick nach dem himmlischen Rosselenker auf der Milchstraße warf, wohl um sich zu überzeugen, ob sich des alten Schimmels Führergeschick auch heute bewähre. Dieser aber war offenbar über jeden Zweifel erhaben und schien in seiner humpelnden Vorwärtsbewegung ebenso untrüglichen mathematischen Gesetzen zu folgen wie die Sterne in ihrer Himmelsbahn.
Anderthalb Stunde mochten wir so abwechselnd über Steppenflächen und Sandhügel unsern Weg verfolgt haben, als die Klänge eines Csardas uns die Nähe des Dorfes verkündeten. Mit freundlichen Dankesworten verließ ich nun den Csikos, der noch die Rosse zur Tränke trieb, und ging der Dorfschenke zu, überzeugt, dort meine Quartiermacher zu finden. Ich täuschte mich nicht. Selbst Landeskinder, tummelten sie sich mitten im lustigen Reigen mit den flinksten Burschen um die Wette, ich aber gönnte ihnen gern das Vergnügen und benutzte einstweilen den tiefdunkeln Schatten einer Eiche, um unbemerkt den Anblick der ländlichen Lustbarkeit zu genießen.
Auf festgestampftem Lehmboden unter dem grünen Dache geflochtener Eichenzweige bewegten sich etwa ein Dutzend Paare nach den bald melancholisch weichen, bald stürmisch brausenden Weisen des Csardas. Das Orchester bestand nur aus zwei Personen: einem alten graubärtigen, finster dreinschauenden Zigeuner, der das Cymbal auf einem umgestülpten Fasse handhabte, und einem blitzäugigen, struppigen Jungen, der den Fiedelbogen führte.
Zigeunermusik ist selten vollkommen gut, aber noch seltener ganz schlecht. Griff auch der zerlumpte Junge manchmal falsch, schlug auch der Alte bisweilen neben die Saiten – aus Beider Augen sprühte musikalischer Künstlergeist, dem Töne und Rhythmen nicht blos Mittel zum Erwerbe, sondern Selbstgenuß und Befriedigung gewährten, und oft erhob sich dieser Geist zu ganz wunderbar tönendem Klagen und Weinen, Jubeln und Jauchzen.
Auch Tänzer und Tänzerinnen zeigten meist schlanke, geschmeidige Gestalten, ja einige Mädchen waren sogar entschieden hübsch zu nennen. Feurig und gluthäugig aber waren sie alle, Bursche wie Dirnen, durchwogt von heißem Blute, mit Leib und Seele ergeben der Lust des Augenblickes. Während ich aber so die Paare musterte, entdeckte ich mitten unter ihnen eine Gestalt, deren Anwesenheit hier mir fast unbegreiflich schien. Oder täuschten mich die Augen? Aber nein, diese Züge waren zu markirt, zu ausdrucksvoll, um sie zu verwechseln; es war Lajos, der dort eine der hübschesten und üppigsten unter den anwesenden Frauengestalten umfaßt hielt und sie laut jauchzend mit seinen muskelkräftigen Armen hoch über die Köpfe der übrigen Paare schwenkte.
Ja, er war es, und dort stand ja auch der Csikos, abseits von den Fröhlichen, mit gekreuzten Armen, und schaute trüb und sinnend die Lust des schönen Paares. Vielleicht bewunderte er gleichzeitig mit mir die Stahlnerven des Mannes, der, kaum den Verfolgern entronnen und auch jetzt noch keine Minute vor denselben sicher, rückhaltlos sich der Freude hingeben konnte. Zum Csikos trat jetzt ein weißhaariger Mann, schüttelte ihm kräftig die Hand und führte ihn dann zu den Tischen, die ebenfalls unter grünem Dache neben dem Tanzboden angebracht waren. Die kurzgeschürzte Schenkin stellte unaufgefordert eine volle Flasche nebst Gläsern auf den Tisch, an welchem die Beiden Platz genommen, und jetzt kamen auch Lajos und seine Tänzerin herbei.
Letztere reichte dem Csikos die Hand, als aber auch Lajos dem Jugendfreunde die Rechte entgegenstreckte, that dieser, als [120] sähe er es nicht, und trank ruhig sein Glas aus. Lajos’ heftiges Temperament wollte aufflammen, aber schon trat dessen Tänzerin dazwischen, bald an den Einen, bald an den Andern der Gegner begütigende Worte richtend. Lajos’ leicht erregbares Gemüth schien sich unter dem sanften Einfluß des jungen, schönen Weibes ebenso rasch zu beruhigen, denn unmittelbar darauf erhob er sein Glas, dem Csikos zuzutrinken, als aber dieser auch jetzt finster abweisend verharrte, da schleuderte der Beleidigte das volle Glas zu Boden, daß es klirrend in Scherben ging, ergriff dann den Arm seiner Tänzerin, um sie hinwegzuführen, und nahm endlich die Widerstrebende, als wäre sie nur ein Kind, in die Arme, worauf er mit seiner hübschen Last laut aufjauchzend wieder in die Reihe der Tanzenden stürmte.
Allein diesmal erweckte der wilde Jubelruf ein gar seltsames Echo. Es war ein langgedehnter, offenbar aus weiter Entfernung dringender Ton, der mehr dem Geheul eines hungernden Wolfes, als einer menschlichen Stimme glich und grell den Tanzrhythmus des Orchesters durchschnitt. Dieser Ton aber übte auf Lajos und seine Tänzerin eine zauberhafte Wirkung. Wie erstarrt standen Beide und horchten in die Nacht hinaus, während sich die übrigen Paare in ihrem Vergnügen nicht im mindesten stören ließen. Noch einmal und ein drittes Mal erscholl das unheimliche Signalgeheul, und noch ehe es ganz verhallte, war das schönste Paar vom Tanzboden verschwunden.
Ich blickte nach den Tischen, aber auch der weißhaarige Mann und der Csikos hatten sich entfernt, und da das Schauspiel mit dem Verschwinden der mir bekannten Personen den Hauptreiz für mich verloren, ließ ich einen meiner Leute durch die Schenkin herbeirufen und wanderte, von diesem geführt, meiner Nachtherberge zu.
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Das Dorf mochte kaum mehr als etwa dreißig Häuser, respective Hütten zählen, denn die Benennung „Haus“ verdiente wohl keines der mit Stroh gedeckten und aus Lehmwänden bestehenden Gebäude. Das stattlichste derselben und deshalb für meine Unterkunft erwählte befand sich fast in der Mitte des Fleckens und war nach Landesbrauch von einem Hofe umgeben, dessen Raum den ganzen Grundbesitz mancher unserer Keuschler an Flächeninhalt überbot. Nachdem wir uns, mit Händen und Füßen stoßend und schiebend, durch eine hier nächtigende Heerde langgehörnter Wiederkäuer einen Weg gebahnt, wurde ich von meinem Diener, der mich hier erwartete, in eine der Stuben des Hauses geführt.
Dieselbe zeigte die bei wohlhabenden Bauern übliche Einrichtung: Tisch und Stühle von Eichenholz und die blumige Truhe, das hoch aufgerichtete Bett. Sie unterschied sich von der anderer Bauernstuben nur durch eine ungewöhnliche Reinlichkeit und Nettigkeit. Während ich noch die nöthigsten Toilette-Requisiten aus dem Koffer kramte, wurde die Thür geöffnet, und mich umwendend, erkannte ich zu meiner nicht geringen Ueberraschung in der eintretenden jugendlich üppigen Gestalt die schöne Tänzerin des verfolgten Lajos, noch erhitzt und hastig athmend vom Tanze und der darauf folgenden Flucht, dabei aber blaß und offenbar angstvoll aufgeregt. Diese Aufregung ließ sie wahrscheinlich auch mein Erstaunen bei ihrem Anblicke nicht bemerken. Nach freundlichem Gruße begann sie alsbald den Tisch zu decken, wobei sie jedoch wiederholt innehielt, um zum offenen Fenster zu treten und aufmerksam hinauszublicken.
Jetzt, wo ich die ländliche Schöne in der Nähe betrachten konnte, wurde mir die gewaltige Leidenschaft der beiden Freunde und ihre Entzweiung ganz begreiflich, denn selten sah ich einen kräftigeren und zugleich geschmeidigeren Wuchs, selten auch regelmäßigere und feinere Züge, deren Schönheit jetzt durch den Ausdruck von Trauer und Melancholie noch edler erschien als vorher. Meine lebhaft angeregte Phantasie begann alsbald alle die charakteristischen Gestalten, welche der Zufall mir an diesem Abende vorgeführt, unter einander zu verbinden, und ich hatte eben die ersten, meiner Meinung nach höchst effectvollen Capitel eines Romans daraus gesponnen, als ein köstlich duftendes Paprikahuhn, von meiner schönen Hauswirthin auf den Tisch gestellt, ein rasches „Ende“ meines dichtenden Phantasirens herbeiführte.
Jetzt trat auch der weißhaarige Mann, welchen ich in der Schenke gesehen, mit einem mächtigen Weinkruge ein und setzte sich zu mir, nachdem er mich mit ungewöhnlicher Herzlichkeit begrüßt hatte. Sein Erscheinen überraschte mich nicht mehr, da ich schon während der Scene in der Schenke in ihm den Vater Ilka’s, Lajos’ schöner Tänzerin, vermuthet hatte, doch war ich über die Bestätigung um so erfreuter, als ich nun hoffen durfte, Genaueres und Sichereres als die Resultate meiner Combination zu erfahren. Diese Hoffnung verwirklichte sich in der That, denn der alte Herr war mir, wahrscheinlich durch den Csikos, schon günstig gestimmt, dankte mir auch in warmen Ausdrücken für meine „Diskretion“ und meinte auf meine Frage, aus welcher Ursache Lajos von den Gensd’armen verfolgt werde, es wäre eigentlich eine zu traurige Geschichte, um sie einem werthen Gaste zu erzählen, da ich mich aber für den armen Lajos interessire und meine Theilnahme schon bewiesen, so wolle er mir gern mittheilen, was er selbst wisse.
Das magyarische Volk besitzt bekanntlich die Gabe der Beredsamkeit in hohem Grade, und es ist gar nichts so Seltenes, daß Landleute ihren Gedanken so fließend Ausdruck zu verleihen wissen, wie etwa ein Professor, der einen Vortrag in seinem Fache hält. Diese Gabe nun war auch meinem Wirthe eigen, und indem ich seine Worte zu wiederholen versuche, bedauere ich den eigenthümlichen Reiz nicht wiedergeben zu können, den der alte Herr durch den charakteristischen Wechsel der Betonung, der Mienen und Geberden zu erzielen wußte.
„Wie gesagt, bester Herr,“ begann er, „es ist eine traurige Geschichte, und Gott weiß, wie sie noch enden wird. Ilka ist mein einziges Kind, war immer mein Stolz, meine Freude und – ich darf es wohl sagen – das schönste Mädchen im Dorfe und der ganzen Umgegend. Wer mir je gesagt hätte, daß meine Tochter das Weib eines ‚armen Burschen‘ sein werde, dem hätte ich in’s Gesicht gelacht. Und doch war es so, vielleicht als Strafe für den Hochmuth, mit dem mich die wachsende Schönheit meines Lieblings erfüllte. Ihr könnt denken, lieber Herr, daß es dem Mädchen nicht an Bewerbern fehlte. Ich ließ ihm die Wahl, denn ich wollte mein einziges Kind glücklich wissen, und ich hätte den ärmsten Schwiegersohn willkommen geheißen, wäre er nur ein rechtschaffener Mensch gewesen. Ich glaubte auch lange, daß Josi, der Csikos, ein hübscher, flinker, kräftiger Bursche, alleiniger Hahn im Korbe sei; so oft er auf seinem gelben Rößlein dahergejagt kam wie ein jäher Windstoß, rötheten sich Ilka’s Wangen, lief sie in den Keller nach einem frischen Trunke für den erhitzten Burschen; doch Mädchensinn ist noch flüchtiger als ein Windstoß, und als sie den Josi zu den Husaren nahmen, da nistete sich ein Anderer in ihr Herz, der freilich noch hübscher, flinker und kräftiger war. Das war meines Schwägers Sohn Lajos, ein Bursche, Herr, der mit den Pferden um die Wette lief und dem im Ringen Keiner gewachsen war, selbst der Josi nicht. War auch sonst nichts an ihm auszusetzen, er verstand die Wirthschaft und arbeitete für Zwei, aber einen Fehler hatte er doch: zu ducken wußte er sich nicht und klein beizugeben, wenn es die Klugheit erforderte. ‚Biegen oder Brechen‘ hieß es bei ihm; er trug auch den Kopf immer hoch, als wär’ er zum Herrn geboren, und das wurde sein und unser Unglück.
Lajos hatte eine hübsche Schwester, die den Sommer über auf der Tanya (Meierei) hauste. Der junge Graf, der Sohn unseres gnädigen Herrn, jagte fast jeden Tag in jener Gegend, und wenn er müde und durstig war, kehrte er bei Lajos’ Schwester ein.
Eines Tages aber führte dieser Holz aus dem Tannenwalde herein, und da traf er mit dem jungen Herrn zusammen. Was damals auf der Tanya vorging, weiß Niemand, für den aber, der Lajos kennt, ist’s nicht schwer zu errathen. Genug, als er mit der Holzfuhr hereinkam, warteten schon die Panduren auf ihn (die Gensd’armen bekamen wir erst ein Jahr später) und führten ihn nach dem Herrenhof hinüber. Ich war gerade bei Lajos’ Vater und blieb bei ihm, nachdem sie den Jungen fortgeführt, denn mir ahnte nichts Gutes.
Nach einer Stunde etwa kam er wieder, aber Herrgott in welchem Zustande! Nie, Herr, werde ich den Anblick vergessen, würde ich auch hundert Jahre alt. Bleich wie der Tod, die Lippen blutig gebissen, die Augen aus dem Kopfe gequollen, die starken Arme schlaff hängen lassend, den Körper wie gebrochen vorbeugend, mit den Zähnen wie im Fieber klappernd, so stand er vor uns, wortlos, blöde, ein Jammerbild an Leib und Seele.
Schluchzend fiel ihm der Vater um den Hals, und wahrlich, Herr, es fehlte nicht viel, so hätte auch ich geweint wie ein Kind. Denn so gern ich auch den Josi hatte, der Lajos war doch mein und unser Aller Stolz geworden, und wenn er auf seinem Leiterwagen hoch aufgerichtet und stramm wie eine Tanne stand und die wildesten Pferde spielend lenkte, da lachte uns Allen das Herz im Leibe, denn in ihm sahen wir die Verkörperung jener ungebrochenen Manneskraft, die uns in harter Frohnarbeit Aufgewachsenen versagt geblieben. Und jetzt, was hatte eine einzige Stunde aus dem Riesenjungen gemacht! Dennoch fragten weder der Vater noch ich, was geschehen, und auch er schwieg und setzte sich still in eine Ecke der Stube, um unbeweglich, stumm, wie geistesabwesend vor sich hinzustarren. Wir wußten ja, was geschehen. Sie hatten ihn eben geschlagen, so lange geschlagen, bis sie glaubten, daß er genug habe für sein Leben. Nun freilich, damit irrten sie; sein junger Leib hielt mehr aus, als sie dachten, und wie ein Heubaum um so mächtiger emporschnellt, je stärker er niedergebunden war, so ging es mit seiner Leibeskraft, aber – es war doch nicht mehr derselbe Lajos. Er, der sonst froh und [147] übermüthig wie ein junges Füllen den ganzen lieben Tag sang, pfiff und scherzte, ging nun finster schweigend umher, und Niemand sah ihn mehr lächeln seit jener Stunde im Herrenhofe.
Vierzehn Tage darauf geschah es, daß das Herrenhaus niederbrannte. Es war eine stürmische Nacht. Vom Feuerlärm geweckt, eilten wir vom Dorfe zur Hülfeleistung. Zu retten war allerdings nicht viel, denn es fehlte an Wasser, doch thaten wir, was möglich war. Auch Lajos war mitgekommen, statt jedoch Hand anzulegen, blieb er mitten im Herrenhofe stehen und sah mit verschränkten Armen in die prasselnden Flammen. Ich wollte ihn warnen, doch schon hatte ihn der junge Graf bemerkt und den Knechten einen Wink gegeben. Und nun sahen ich und Alle vom Dorfe, was wir noch nie gesehen und nicht so bald wiedersehen werden. Die Bursche mußten wohl Lajos’ Stärke schon erprobt haben, denn ihrer Vier warfen sich zugleich auf ihn, und packten ihn gleich Fanghunden an Händen und Füßen. Doch wie ein nasser Hund die Wassertropfen, so schüttelte Lajos die Knechte nach allen Richtungen von sich, sprang mit einem Riesensatze über die Hofmauer und verschwand in der Dunkelheit, aus der nur noch ein gellendes Hohngelächter zu uns herscholl. Der junge Graf sandte dem Verschwundenen einen langen Fluch nach, die erstaunten Knechte aber und Mancher der Unsern bekreuzten sich, denn sie meinten nicht anders, als Lajos habe den Teufel im Leibe.
Bei der darauf folgenden Untersuchung sagten mehrere Knechte des Grafen eidlich aus, sie hätten Lajos eine Stunde vor dem Brande um den Herrenhof herumschleichen gesehen. Diese Aussage und sein Verhalten während des Feuers gaben Grund genug, ihn für den Brandleger zu halten, und da man seiner nicht habhaft werden konnte, wurde einstweilen sein alter Vater als vermeintlicher Mitwisser in den Kerker geworfen, wo der alte, schon herabgekümmerte Mann nach wenigen Wochen das Zeitliche segnete.
Fast zu gleicher Zeit verschwand auch Lajos’ Schwester spurlos aus der Tanya, doch giebt es Leute, welche sie seither in Pest wie eine Gräfin gekleidet gesehen haben wollen. Das gab dem armen Lajos den Rest. Seitdem war kein vernünftiges Wort mehr mit ihm zu sprechen. Ich machte ihm den Vorschlag, mein Hab und Gut hier zu verkaufen, und mit ihm und Ilka auszuwandern, denn auch mir war durch all dies das Leben im Orte verleidet. Er aber schüttelte finster den Kopf und ballte die Faust gegen Himmel, und das blieb die einzige Antwort, die ich aus ihm herausbrachte. Es war, als hätten sie ihm Zunge und Herz aus dem Leibe gerissen. Nun, bald hörte man auch schlimme Dinge von ihm; ob sie wahr sind – wer weiß es? Die Noth trieb ihn nicht dazu, denn was er zum Leben braucht und noch etwas mehr, bekommt er von mir, aber aus ihm ist, wie gesagt, nichts heraus zu bringen, und Niemand kann in des Menschen Herz sehen. So viel aber ist gewiß, daß Bauerngut sicher vor ihm ist, und darum liebt man ihn im Dorfe wie immer, ja ich glaube jetzt noch mehr; giebt es doch Wenige unter uns, die unter der Willkür und Härte unserer Herrschaft drüben nicht schon den Rücken gekrümmt und die Faust im Sacke geballt hätten, Wenige, die nicht gerne schon gethan hätten, was Lajos, wie sie meinen, that, fehlte ihnen nicht der Muth dazu.
Der Herr Pfarrer meint allerdings, Gewalt und Trotz gegen die Obrigkeit seien die schlimmste Sünde, schlimmer noch als Diebstahl und Raub, denn sie bewiesen ein unbußfertiges Herz und Christus der Herr habe, obschon ein Gott, ohne Trotz und Auflehnung Unrecht erduldet, und sogar unschuldig den Tod erlitten. Na, der Herr Pfarrer muß wohl Recht haben, aber trotzdem fährt mir bisweilen die Frage durch den Kopf, ob es nicht längst besser stände um uns, wäre Jeder immer so muthig und unbekümmert um die Folgen für das Recht eingestanden, wie Lajos in der Tanya; nun, es ist eine dumme Frage, denn nicht Jeder hat das Zeug dazu, er aber, der es hatte, muß es bitter genug büßen. Ein Trost freilich ist ihm geblieben: mein armes Kind hängt mehr denn je an ihm; Schmerzenskinder sind ja den Weibern immer am meisten in’s Herz gewachsen, und was mich betrifft, Herr, so denke ich, der liebe Gott, der nach seinem Rechte richtet, wird ihr und auch einem alten Manne verzeihen, daß sie einen armen Burschen nicht verstoßen konnten, weil ihn eine böse Stunde vielleicht zum – Räuber machte.“
Der Alte hatte die letzten Worte kaum hörbar und mit schmerzlich bebender Stimme gesprochen und saß nun schweigend da, das weiße Haupt tief herabgebeugt. Mich aber hatte die Erzählung des braven Mannes weit mehr ergriffen und empört, als ich mir merken ließ. Nicht daß derlei Vorkommnisse in Ungarn etwas Ungewöhnliches gewesen wären – im Gegentheil, ich wußte, daß wie noch heute, so damals trotz neuer Freiheit, Constitution, Volksrechte etc. in den Comitaten nach Herzenslust fortgeprügelt worden war, allein noch nie war ein solcher Fall mir mit allen seinen Folgen so nahe gerückt, noch nie hatte ich Gelegenheit gehabt, durch eigenen Augenschein die Thaten jener vielgerühmten Träger politischer Freiheit, der Magnaten, mit ihren Parlamentsreden zu vergleichen, die von nationaler Eitelkeit und Selbstüberhebung strotzten und in welchen die „Freiheit“ als höchstes Gut der ungarischen Nation eine stehende Phrase bildete. Noch nie erkannte ich so deutlich, wie schmachvoll dieses arme Volk, das für die gepriesene nationale Freiheit Gut und Blut geopfert, von seinen eigenen Führern betrogen und mißhandelt wird.
War aber das Volk nicht, zum Theil wenigstens, selbst schuld, indem es aus Indolenz, jener dem Landmann so häufig eigenen geistigen und physischen Trägheit, sein Recht unvertheidigt preisgab? In manchen Fällen gewiß, und um zu erfahren, ob dies auch hier der Fall sei, fragte ich den alten Herrn, nachdem er wieder ruhiger geworden, weshalb Lajos und dessen Vater, falls Ersterer an dem Ausbruche jenes Brandes schuldlos war, nicht den Schutz der höhern Behörden in Anspruch genommen hätten. Der Alte lächelte trübe.
„Ja, ja,“ sagte er, „wüßte ich nicht, daß der Herr ein Deutscher ist, diese Frage würde es verrathen – es ist eine deutsche Frage. Wohl möglich,“ fuhr er dann nach einigem Nachdenken fort, „daß jetzt, wo wir ja auch deutsche Beamte im Lande haben, ein solcher Schritt Erfolg hätte;[2] denn obschon unsere Herren über Vergewaltigung durch die Fremdherrschaft, über Tyrannei und Willkür schreien und das unverständige Volk gegen die Deutschen hetzen, so wissen ich und mit mir noch viele Andere doch recht gut, daß wir Bauern jetzt besser daran sind und froh sein könnten, wenn uns diese Fremdherrschaft erhalten bliebe. Sagen darf man das freilich nicht, denn die Leute, die von der Gnade der Herren leben, würden uns als Landesverräthern ohne Umstände den rothen Hahn aufs Dach setzen. Damals aber war unser Herr Graf noch Stuhlrichter, sein Schwager Oberstuhlrichter und Beide hatten in Pest viele gute Freunde; nun, Herr, da wäre es dem Lajos und seinem Vater wohl nicht anders ergangen als den Schafen, die sich beim Bären über den großen Appetit des Wolfes beklagten.“
Der Alte hatte Recht, und fast nur mechanisch fragte ich: „Was aber soll daraus werden?“ Denn im Grunde war es mir klar genug, was daraus werden mußte.
„Was daraus werden soll?“ wiederholte der Alte mit traurigem Kopfnicken, „so fragte auch ich mich jeden Tag seit jener Unglücksstunde in der Tanya, heute aber fragte ich den Lajos selbst, als er wieder wie vom Himmel gefallen in’s Dorf hereinstürmte und mein Kind zum Tanze führte, und nun weiß ich’s, was daraus werden wird. Er wartet auf Einen, der seit jenem Brande in der Ferne ist, in Paris oder sonst wo; mit diesem hat er noch ein Wort zu sprechen, so sagt er, seines Vaters und seiner Schwester wegen, dann will er mit uns fort in ein fernes Land, um dort Weib und Kind redlich mit seiner Hände Arbeit zu ernähren. Daß Gott erbarm’, hetzen sie ihn doch jetzt schon, daß er kaum mehr zu Athem kommt, und vielleicht ist das Holz schon geschlagen, das mein armes Kind, bevor es wieder ein ehrlich Weib geworden, zur Wittwe eines – Gehängten machen soll.“
Bei diesen Worten übermannte den Greis der Schmerz; stöhnend schlug er die Hände vor das Gesicht. Solchem Jammer gegenüber gab es weder Trost noch Rath. Schweigend blickte ich durch das offene Fenster hinaus in die friedliche stille Nacht. Ja, so stille war es rings umher, daß das Zirpen der Heimchen von den nahen Feldern her deutlich zu vernehmen war; allmählich aber mischte sich in das anheimelnde Gefiedel der kleinen Musikanten [148] noch ein anderes Geräusch, regelmäßig tappend und klingend, zugleich, erst ganz leise und undeutlich, daß es fast war wie das Ticken einer Taschenuhr und das Geläute ferner, ferner Glöckchen. Doch immer näher kam es heran, und nun horchte der Greis erschreckt auf, und ein nervöses Zittern überlief die mehr von Kummer als von Alter gebeugte Gestalt. Ihm war die Natur dieses tactmäßigen Geräusches offenbar wohlbekannt; sachte erhob er sich, legte die Finger bedeutungsvoll auf die bebenden Lippen und verließ lautlos die Stube.
Das Tappen und Klingen war jetzt so nahe gekommen, daß auch ich den tactmäßigen Schritt bespornter Männer erkannte. Es waren zweifellos die Verfolger Lajos’, welche, wie Josi vorausgesagt, die von ihm angegebene Richtung des Flüchtlings als die unwahrscheinlichste zuletzt eingeschlagen hatten. Warum aber war der Alte so ängstlich, da der Verfolgte dank des Signales doch einen genügenden Vorsprung hatte, um sich in Sicherheit zu bringen? Ich war an’s Fenster getreten und sah jetzt die zwei Gensd’armen, wie sie ruhigen gemessenen Schrittes in den Hof schritten. Sie mochten, nach der seit jenem Signalrufe verflossenen Zeit zu urtheilen, wohl schon das ganze Dorf durchsucht haben, überzeugt, daß das von Soldaten besetzte Haus des Alten sich am wenigsten zu einem Verstecke für den Flüchtigen eigne. In der That verließen sie auch nach einigen mit meinem Diener gewechselten Worten den Hofraum wieder und näherten sich nun den nur wenige Schritte vom Hause entfernten Heuschobern. Diese bildeten wie in allen Dörfern Ungarns, wo sämmtliche Heuvorräthe im Freien aufgeschichtet werden, einen ganzen Complex von regelrecht und sorgfältig aufgethürmten Haufen, an Form und Größe ansehnlichen Gebäuden ähnlich, zwischen welchen meist nur schmale Gänge den Durchlaß gestatteten. Durch diese schritten jetzt die Gensd’armen, indem sie von Zeit zu Zeit ihre Säbel bis zum Griffe in die compacten Heumassen stießen. Und sonderbar, so oft ich den blanken Stahl in den dunkeln Wänden verschwinden sah, zuckte ich zusammen, als erwartete ich den Schrei eines zu Tode Getroffenen zu vernehmen. Allein es blieb Alles still, und als die spornklirrenden Tritte der Männer wieder von dem Grillenconcerte übertönt wurden, athmete ich erleichtert auf.
Der Mond stand jetzt senkrecht über dem stillen, einsamen Haidedorfe, und sein silberweißes Licht verlieh den ärmlichen Hütten und Scheunen wie jedem Halme auf den kleinen Wiesen- und Felderflächen und darüber hinaus der ganzen grauen, öden Steppe einen Schimmer von märchenhafter Pracht. Der Anblick dieser tiefsten, heiligsten Frieden athmenden Nachtlandschaft bildete einen so scharfen Contrast zu dem, was ich eben erlebt und vernommen, daß mir die Betrachtung derselben, statt wie sonst heitere Beruhigung zu gewähren, die klagenden Worte des Dichters in’s Gedächtniß rief:
„Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.“
Ja, obschon selbst unberührt, zitterte das Weh des Greises doch so lebhaft in meinem Gemüthe nach, daß ich in die düsterste Stimmung gerieth und sich mir immer mehr die Ueberzeugung aufdrängte, der Mensch sei wirklich das unglücklichste Geschöpf und sein Leben nichts als eine Kette kleiner und großer Leiden. Während ich aber noch so pessimistisch philosophirend das lichtüberfluthete Steppenbild schaute, vernahm ich ein leises Schieben und Knistern gerade über meinem Kopfe, und aufblickend sah ich, wie sich, von unsichtbarer Hand dirigirt, ein langes Brett vom Firste des Hauses dem nächsten Heuschober zu bewegte. Zugleich ließ sich ein girrender Laut vernehmen, täuschend ähnlich dem zärtlichen Rufe der Turteltaube, und nun öffnete sich wie durch Zaubermacht der Giebel des Heugebäudes, auf dem das vorgeschobene Brettende ruhte, zu einer geräumigen Wölbung als Eingang einer tief eingeschnittenen Höhle. Nun wurde ein kleiner Fuß auf der improvisirten Brücke sichtbar, und darauf sah ich zu meinem Schrecken Ilka langsam und vorsichtig die gefährliche Bahn betreten, den linken Arm zur Erhaltung der Balance ausstreckend, mit der Rechten einen umfangreichen mit Lebensmitteln gefüllten Korb tragend.
Mit angehaltenem Athem verfolgte ich jede Bewegung der anmuthigen, jugendfrischen Gestalt; schon hatte sie den Heuschober erreicht, da schwankte das Brett; ein leiser Schrei entfuhr den Lippen der kühnen Ilka – aber aus der Tiefe der Wölbung tauchte ein Arm empor, umschlang die Wankende fest und sicher und zog sie in die Höhle. Der Schall eines kräftigen Kusses, und darauf die zärtlich geflüsterten Worte „mein liebes Weib“ drangen an mein Ohr, dann verschwand das Brett; die Wölbung schloß sich, und im nächsten Augenblicke schimmerte der Giebel des Heuhauses unter den hellen Strahlen des Mondes so harmlos und unverfänglich wie alle übrigen.
All das war so rasch vor sich gegangen, daß es mir fast schien, als wäre das Ganze nur ein Traumbild oder die Wirkung meiner erhitzten Phantasie gewesen.
Noch unten dem Eindrucke des eben Erschauten begab ich mich zu Bett, und siehe, was die friedliche Mondlandschaft nicht vermochte, das that nun das Geheimniß des Heuschobers allen düstern Nebenumständen zum Trotze. Noch bevor ich entschlummerte, war meine pessimistische Stimmung der tröstlichen Gewißheit gewichen, daß der Mensch denn doch nicht für das Leid geboren, daß das Leben kein unabwendbarer Fluch für ihn sei. Nein, Geschöpfe, welchen die Natur einen so unergründlichen Schatz von Liebe und Barmherzigkeit in das Herz gelegt, wie dieses edelmüthige Weib eben bewies, Geschöpfe, denen die Natur ein so lebensfreudiges Gemüth zur Mitgift gab, daß sie, gleich diesem Paare, unter Todesschauern, hart am Rande des Abgrundes die köstlichsten Blumen menschlichen Glückes zu pflücken vermögen, sind nicht zum Unglücke geschaffen, und nur ein krankes, verdüstertes Menschengehirn konnte so finstern Aberwitz zu eigner und zur Qual Andrer aushecken.
[168]Mit dem ersten Grauen des nächsten Morgens verließ ich das Steppendorf, begleitet von den Segenswünschen meines greisen Wirthes, und bald wurde der Eindruck der erzählten Ereignisse im Laufe meines wechselvollen Wanderlebens durch neue Erlebnisse so sehr abgeschwächt, daß ich, als der erste Schneefall meinen Aufbruch in die Winterstation zu V… veranlaßte, den interessanten „Räuber“ und sein Weibchen nahezu vergessen hatte.
Zu V… befand sich zur Zeit meiner Ankunft eine Division Infanterie in Garnison, deren Dienst fast ausschließlich darin bestand, die militärische Escorte zu den zahlreichen Exekutionen eingefangener Verbrecher zu stellen. Die Unsicherheit des Eigenthums hatte nämlich in jenem Comitate einen so bedenklichen Höhegrad erreicht, daß man genöthigt war, das Standrecht zu publiciren, welch letzteres bekanntlich ein äußerst summarisches Proceßverfahren ermöglicht. In der That wurden im Verlaufe des Winters nicht weniger denn neunzehn Verbrecher hingerichtet, meist verkommene, rohe Gesellen, von welchen, bezeichnend genug, nicht Einer des Lesens und Schreibens, kundig war. Der Galgen mußte eben die Versäumniß der Schule nachholen.
Obschon ich nun grundsätzlich derlei für Viele so anziehende „Schauspiele“ mied, so konnte ich mich doch dem Anblicke der Inscenirung und der unglücklichen Helden derselben um so weniger entziehen, als der verhängnißvolle „letzte Gang“ jeden Delinquenten an meiner Wohnung vorüber führte und ich selbst mein Bureau nicht erreichen konnte, ohne das Comitatshaus zu passiren, wo die Verurtheilten die letzten Lebensstunden verbrachten.
Eines Tages wurde ich auf eben diesem Wege durch eine ungewöhnlich starke Menschenansammlung vor besagtem Comitatshause aufgehalten. Ein mir befreundeter Officier, welchen ich um die Ursache des Gedränges befragte, belehrte mich mit dem verzeihlichen Gleichmuthe eines durch Gewohnheit für die Tragik des Gegenstandes Abgestumpften, daß eben wieder ein Verurtheilter „ausgestellt“ sei, und zwar der „schönste Räuber“, dessen man bisher habhaft geworden, ein Umstand, der die Anwesenheit zahlreicher Vertreterinnen des zarten Geschlechtes hinlänglich motivirte.
Ich weiß nicht mehr, welcher Impuls mich bewog, diesmal meinem Grundsatze untreu zu werden und der Aufforderung des Officiers, den „schönen Räuber“ in Augenschein zu nehmen, Folge zu leisten; wahrscheinlich war es auch bei mir nur die ungewöhnlich erregte Neugierde, doch wich dieselbe rasch einem fast an Bestürzung grenzenden Erstaunen, als ich in dem Manne, der dort düster sinnend auf der Armensünderbank saß, den schwarzen Lajos erkannte. Ja, ich muß gestehen, daß ich mich des innigsten Mitleides nicht erwehren konnte, den Mann, der durch Motive, wie sie nur den edelsten, menschlichen Eigenschaften entspringen, auf die Bahn des Verbrechens gedrängt worden war, nun denselben Platz einnehmen zu sehen, wo bisher nur die bis zum Thiere herabgesunkene Rohheit zur Schau getragen wurde. Von diesem Gefühle angetrieben, trat ich zu dem unbeweglich vor sich Hinstarrenden und fragte ihn theilnehmend, ob er noch irgend einen erfüllbaren Wunsch hege. Müde hob der Gefragte den Blick, sah mich gleichgültig an und schüttelte stumm den Kopf.
In meiner Aufregung hatte ich ganz vergessen, daß ich zwar den Mann, dieser aber mich nicht kannte, weshalb ich ihm mit wenigen Worten mittheilte, daß ich vor einigen Monaten als Gast im Hause seiner Angehörigen geweilt, und die Frage daran knüpfte, ob dieselben von seiner Verurtheilung unterrichtet seien und ob er nicht eine letzte Botschaft an sie auf dein Herzen habe.
Bei der Erwähnung seiner Angehörigen flog es wie ein sonniger Schimmer über die markigen Züge des Delinquenten, dann aber schüttelte er abermals das Haupt und sagte:
„Dank, Herr! Sie sind benachrichtigt, und Ilka wird kommen.“
Die Zuversicht des Mannes, der noch zwei Stunden Lebenszeit vor sich hatte, berührte mich fast peinlich. Der Mensch schien keine Ahnung von den schlimmen Eigenschaften des Weibes, dem Wankelmuth, der Schwäche und Treulosigkeit weiblicher Herzen zu haben. Armer Räuber, wie würden französische Dramatiker und ihre deutschen Nachäffer deinen felsenfesten Glauben belächeln und bespotten!
Uebrigens, aufrichtig gestanden, vermochte auch ich mich einiger leiser Zweifel nicht zu entschlagen, denn abgesehen von der weiten Entfernung und der Kürze des zwischen der Gefangennahme und [169] der Vollstreckung des Urtheils liegenden Zeitraumes, war es für ein Weib von dem Wesen Ilka’s keine geringe Zumuthung, den zu schimpflichem Tode Verurtheilten angesichts einer gaffenden Menge als den Mann ihrer Liebe anzuerkennen. Entschlossen, die weitere Entwicklung der Tragödie nun jedenfalls zu verfolgen, benützte ich die Zeit bis zu der für die Execution bestimmten Stunde, um die Ereignisse vor und während der Verhaftung des schwarzen Lajos zu erforschen.
Ich erfuhr Folgendes. In dem neuerbauten Landhause des Grafen K…y sollte ein prachtvolles Winterfest stattfinden. Es [170] galt sowohl die Heimkehr des jungen Grafen von Paris, wie auch die Vollendung des nach verheerendem Brande begonnenen Neubaues zu feiern, weshalb der alte Graf schon mehrere Wochen in dem neuen Hause weilte, um die umfassendsten Vorbereitungen zu dem glänzenden Feste zu treffen, während der junge Graf, der sich nur ungern den rauschenden Carnevalsfreuden der ungarischen Hauptstadt entriß, erst einen Tag vor dem Festabende zum Empfang der Gäste eintreffen sollte. Doch zauderte der lebenslustige Cavalier auch dann noch so lange, daß er, um den Termin nur einigermaßen einzuhalten, genöthigt war, zur Fahrt von der letzten Eisenbahnstation bis zum Gute auch die Nacht zu benutzen.
So flog er denn, erfüllt von süßen Bildern erlebter und zu hoffender Genüsse, im geschlossenen, von vier feurigen Pferden gezogenen Reisewagen, dem zwei bewaffnete Diener zu Pferde folgten, über die wohlbekannte heimathliche Steppe, als plötzlich ein Reiter, wie aus der Erde auftauchend, vor dem Wagen erschien und dem Kutscher drohend Halt gebot. Dieser, ein muthiger Bursche, beantwortete die Aufforderung mit einem gewaltigen Hiebe auf die scheuenden Thiere, doch dem Hiebe des Rosselenkers folgte ebenso rasch Blitz und Knall aus der Pistole des Wegelagerers und der Fall eines der Vorderpferde, dessen Sturz das ganze Gespann in die Stränge verwickelte und zum Stillstand zwang. Dieser Beweis von Geschicklichkeit in der Handhabung der Waffe schien für die beiden bewaffneten Diener vollkommen genügend, um sie die eiligste Flucht räthlich finden zu lassen.
Der Graf dagegen, in der Meinung, daß es sich um einen gewöhnlichen, landesüblichen Raubanfall handelte, sprang aus dem Wagen und beeilte sich die Ringe von der Hand und die Börse aus der Tasche zu ziehen.
„Behalte Dein Gold!“ rief der Reiter, „erkennst Du den schwarzen Lajos nicht mehr?“
Der Graf erbleichte.
„Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?“ fuhr Lajos finster fort.
„Er starb im Kerker, wohin man ihn als Deinen Mitschuldigen gebracht,“ erwiderte der Graf, indem er gleichzeitig nach seinem Revolver griff, denn er sah ein, daß es sein Leben galt.
„Ihr habt den schuldlosen Mann zu Tode gemartert,“ sagte Lajos, „und wo ist Erszebet (Elisabeth), meine Schwester?“
Der Graf schwieg und ließ die Feder springen.
„Antworte!“ rief Lajos drohend.
„Hier die Antwort, die dem Mordbrenner gebührt,“ entgegnete der Graf losdrückend.
Aber Lajos hatte ihn scharf beobachtet. Sein Pistol knallte fast gleichzeitig mit des Grafen Revolver und bewährte sich auch diesmal in der sichern Hand des Schützen, denn sein Gegner brach fast lautlos zusammen. Einen Moment betrachtete Lajos den im Todeskampfe zuckenden Körper seines Opfers, dann wandte er sein Pferd und jagte von der Straße abseits in die mit dünnem, weichem Schnee bedeckte Steppe.
Allein auch seine Stunde war gekommen. Als ob der Anblick des Blutes, nach dem sein Rachedurst so lange gelechzt, sein sonst so scharfes Auge getrübt hätte, bemerkte er erst jetzt, daß ihn sein schnelles Pferd einer durch die Schüsse herbeigelockten Gensd’armeriepatrouille gerade entgegentrage. Ein Ausbrechen nach seitwärts war unmöglich geworden, und ihm blieb nichts übrig, als sein Thier im vollen Laufe anzuhalten und auf den Hacken zu wenden. Das war nun für den Sohn der Pußta und seinen vierfüßigen Freund eben kein Kunststück, doch – seine Stunde war gekommen. Bei der jähen Wendung strauchelte das sonst so sichere Thier und begrub im Falle den Reiter unter seinem Leibe.
Bei der Vernehmung gestand Lajos ohne Umschweife den Mord, leugnete jedoch entschieden, eine Beraubung des Grafen beabsichtigt zu haben und nur – wie man annahm – durch die herannahende Patrouille in der Ausführung gestört worden zu sein, wie er denn auch sonst trotz zahlreicher Verdachtsgründe keines andern Raubanfalles überwiesen werden konnte. Doch der eingestandene Mord genügte den Richtern, um die Strenge des Standrechtes walten zu lassen. –
Der dumpfe Ton der Trommel rief mich aus der Gerichtsstube, wo ich meine Nachrichten bezogen, auf die Straße hinab. Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt.
Ganz im Gegensatze zu dem Gehaben der bisher abgeführten Delinquenten, welche bei aller Stumpfsinnigkeit sich meist, moralisch und physisch gebrochen, mühsam vorwärts schleppten, ging Lajos hoch gehobenen Hauptes und festen Schrittes zwischen der Escorte, ohne sich um die frommen Ermahnungen des dicht an seiner Seite schreitenden Geistlichen zu kümmern.
Sein Herz hing noch fest am Irdischen, und sein Blick, statt sich reuevoll nach innen zu kehren, schweifte forschend über den begleitenden Menschenstrom hin. Bei raschem Marschtempo gelangte der Zug bald in’s Freie, wo abermals Hunderte von Landleuten der Umgegend sich anschlossen, Männer, Weiber und Kinder in buntem Gewirre, die Männer meist kaltblütig aus ihren kurzen Pfeifen rauchend, die Weiber neugierig oder theilnahmsvoll den schönen, kräftigen Mann, der so muthig dem Tode entgegenging, betrachtend.
An einem Kreuzwege, wo sich ein dichter Menschenknäuel angesammelt, horchte Lajos plötzlich auf. Sein feines Gehör hatte, trotz des Gesummes der wogenden Menge, das intensive Schluchzen eines Weibes vernommen. Auch ich, dem Laute näher, hatte es gehört und suchte das Gedränge zu durchbrechen.
„Platz, Platz für die arme Frau!“ riefen jetzt mehrere Stimmen, und rasch bildete sich eine Gasse.
Wie in den Boden gewurzelt blieb der Verurtheilte stehen und aus seinem blassen Gesichte sprühten die dunkeln Augen fast unheimlich leuchtende Blicke nach dem freigewordenen Raum. Und jetzt – welch ein Anblick! – näherte sich ein Weib, sein Weib, ein Kind auf dem Arme tragend, langsam, zögernd, als schleppte es eine schwere Kette nach sich.
Ach ja, es war die schwere Kette des Jammers, und ihre Wucht hatte die junge, üppig blühende Mutter binnen wenigen Tagen in ein lebensmüdes, verwelktes Weib verwandelt. Arme Steppenrose!
Drei Schritte nur trennten noch das schwankende Weib von dem Verurtheilten und fragend blickten die Soldaten auf den Commandanten. Dieser winkte Gewährung. Die Soldaten traten zur Seite, und mit herzzerreißendem Stöhnen lehnte sich die junge Frau an die Brust des gefesselten Verbrechers. Welcher Sturm von Gedanken und Gefühlen mochte die krampfhaft wogende Brust des starken Mannes durchtoben, als er das Herz seines jungen Weibes zum letzten Mal an dem seinigen schlagen fühlte!
War es die Erinnerung an selige Stunden vergangenen Glückes, was diese erst so düster flammenden Augen nun mit heißer Liebe und stummem Dank so traurig innig herabschauen ließ auf Weib und Kind? War es Schmerz und Reue, daß er die Pflichten des Gatten und Vaters der Rache an dem Manne geopfert, der sein Unglück und dasjenige der Seinen verursacht, oder der Gedanke an die ewige Trennung, an das jammervolle Ende seines kurzen Glückes, was seine erst so trotzig zusammengepreßten Lippen nun unsäglich wehmüthig erbeben machte?
Wer weiß es? Der, dessen Stunde gekommen war, hatte keine Zeit, weitläufig von seinen Gefühlen zu schwatzen; er wußte dies auch, und mit gedämpfter Stimme, doch dringend, sprach er: „Ilka, mein süßes Weib, sprich nur das eine Wort: kannst Du mir verzeihen?“
Das junge, schmerzdurchdrungene Weib versuchte ein Ja zu stammeln – doch vergeblich: auch das eine Wort wollte nicht über ihre Lippen; da lächelte sie schmerzlich, hob das Kind ein wenig empor und legte es sanft schmeichelnd an die Wange des Vaters. Und dieser verstand die stumme Sprache, und wie berauscht von der unerschöpflichen Fülle dieser Liebe, bedeckte er das Kind, wie die Hände, welche es trugen, und dann, in die Kniee sinkend, den Saum des Kleides und die Füße seines schönen unglücklichen Weibes mit glühenden Küssen.
Ich war im Laufe eines ziemlich bewegten Lebens Zeuge manch ergreifender Scene, doch keiner, die mich so erschüttert hätte wie diese. Und da war wohl in der ganzen Menschenmenge kein Herz verhärtet genug, um nicht im Mitgefühle solchen Wehes zu erheben; die anwesenden Frauen waren längst in lautes Schluchzen ausgebrochen, aber auch rauhe Männer bedeckten die überfließenden Augen mit den schwieligen Händen. Soldaten bissen grimmig die Zähne übereinander, und manchem Officier klirrte der zu Boden gestemmte Säbel in der zitternden Faust.
Es mußte ein Ende nehmen. Der Commandant gab ein [171] Zeichen; die Soldaten näherten sich dem unglücklichen Paare. Lajos erhob sich.
„Leb wohl!“ flüsterte er eilig. „Grüße Deinen Vater und Josi, und höre, Ilka: Josi wird ein besserer Vater Deines Kindes sein, als ich es war – und nun sei ruhig! Du sollst nicht das Weib und Dein Sohn nicht das Kind des Gehängten heißen!“
Nur wenige der Umstehenden hatten diese Worte vernommen, und diese mochten, wie ich, glauben, der Abschiedsschmerz habe den Sinn des Mannes verwirrt. Ilka sank kraftlos in die Arme einiger zunächst stehender Frauen; der Zug bewegte sich wieder seinem Ziele zu.
Wo aber waren Ilka’s Vater und der treue Josi geblieben? Schon beim Erscheinen Ilka’s hatte ich nach ihnen ausgesehen, doch erfolglos; jetzt, im Fortschreiten, gewahrte ich den Greis mitten im Felde knieend, das müde weiße Haupt an den trüb dreinschauenden Josi lehnend. Die alten Glieder hatten ihm wohl den Dienst versagt, und so bewegte er denn die Lippen im Gebete für den, der einst der Stolz seines Herzen war.
Wir kamen jetzt auf dem durch nassen Schnee erweichten Boden nur langsam vorwärts. Ich erschrak, als das Gerüst des Hochgerichts auf einem der nächsten Hügel sichtbar wurde. Nur eine tiefe Schlucht, in welcher die Quellen des nahen Gebirges, zu brausenden Wogen vereint, zu Thale eilten, trennte uns noch von der traurigen Stätte. Auch diese Strecke schwand uns mit schrecklicher Schnelle unter den Füßen; schon hatte die Escorte mit dem Delinquenten die über den Wildbach führende Brücke erreicht – da war es plötzlich, als ob ein Erdbeben die darauf Befindlichen durcheinander schüttelte. Rufe des Erstaunens und Schreckens erschollen, und der Menschenstrom staute sich zu beiden Seiten der Brücke.
Das scheinbare Erdbeben war gleichwohl nur durch die unerhörte, fast übermenschliche Kraftanstrengung eines einzigen Mannes hervorgerufen worden.
Mit einem gewaltigen Risse, der das Blut springquellartig aus den zerfleischten Handknöcheln trieb, hatte Lajos die Fesseln gesprengt und mit den frei gewordenen Armen die ihm zunächst stehenden Soldaten so wuchtig zur Seite geschlendert, daß sie, ihre Nebenmänner mit sich reißend, selbst Raum schafften für den Todessprung des Verurtheilten; noch ein dumpfer Schall, ein Aufbrausen der reißenden Fluth – und Lajos’ scheinbar unerfüllbares Versprechen war gelöst.
Zwar eilten mehrere Soldaten auf den Befehl des Commandanten längs den hohen Ufern des Wildbaches abwärts, allein als ob die mitleidige Nixe den schönen Mann in ihr Krystallhaus aufgenommen hätte, so spurlos war der Körper des Selbstmörders verschwunden. – –
Anderthalb Jahre später führte mich meine Beschäftigung wieder in die Nähe des Steppendorfes, und ich scheute den kleinen Umweg nicht, um auf eine Stunde wenigstens das Heim Ilka’s zu besuchen. Doch wie ganz und gar verändert erschienen mir nun das Anwesen und seine Bewohner! Das Haus, das ich in jener Nacht als eine Wohnstätte des Kummers betreten und das sich meinem Gedächtnisse wie mit düsterm Trauerflor bedeckt eingeprägt hatte, wie heiter und freundlich lag es nun im hellen Scheine der Frühlingssonne da! Und nun erst die Menschen, die ich alle fast nur in Momenten höchster tragischer Erregung gesehen, wie harmlos, wie fast unnatürlich fröhlich kamen sie mir vor! Der damals gramgebeugte Greis kam mir nun vergnüglich schmunzelnd entgegen, und vor dem Hause auf der schattigen Bank saß Ilka, die „Wittwe des Räubers“, blühend rosig, und auf ihrem Knie zappelte ein kleiner Lajos, der die erste Errungenschaften seines Sprachschatzes, die Worte „Mama“ und „Hophop“, sehr energisch anzuwenden wußte. „Er wird ein eben so guter Reiter werden wie sein Vater,“ sagte der Alte, und Ilka lächelte dazu und blickte stolz auf den schönen, kräftigen Buben. Und der Mensch sollte nur zu Kummer und Leid geboren sein? Thorheit!
„Wo aber ist Josi? fragte ich, dem Alten in die Stube folgend, während Ilka in den Keller ging, um eine Erquickung für den wegemüden Gast zu besorgen.
„Auf dem Felde, Herr,“ antwortete der Greis; „er besorgt die Wirthschaft, da mir die Sache schon ein wenig zu beschwerlich wird.“
„Kroch also der Csikos doch noch zum Pfluge?“
„Je nun, Herr, ein paar Weiberaugen ziehen besser als vier Pferde,“ meinte der Alte.
„Wie, Ilka ist schon die Seine?“
„Noch nicht, Herr; Josi hat warten gelernt, und Ilka weiß auch schon, daß das Leben kein bloßer Tanz ist, und besinnt sich noch, aber im nächsten Winter werden sie wohl ein Paar werden, wie ja Lajos selbst es wünschte.“
„Und wie steht es drüben?“ fragte ich, nach der Gegend, wo das Herrenhaus lag, deutend.
„Wunderlich genug, Herr,“ erwiderte mein Wirth, „der alte Graf ist wie ausgewechselt; man hört kein böses Wort mehr von ihm, und Lajos’ Schwester ist bei ihm als Wirthschafterin; er ist nachdenklich und ernst, aber milde und gut geworden; er scheint mit seinem Schicksale ausgesöhnt.“
So redete der alte Herr, und ich dachte noch über den Wandel des Menschenlebens nach, als ich längst schon wieder im Wagen saß und wie im Fluge über die weite, sonnige Steppe rollte.
Kein Unglück so trostlos dunkel, daß nicht ein Strahl des Glücks hindurch dränge; kein Grab so tief, daß nicht schon der nächste Frühling Blumen daraus hervorlockte.
- ↑ Als Militär-Geograph durchzog der Verfasser in den fünfziger und sechsziger Jahren Ungarn und Siebenbürgen nach allen Richtungen hin und blieb dabei im Verkehr mit Hirten, Bauern und Pächtern. Er hatte somit eine nur selten gebotene Gelegenheit, Land und Leute kennen zu lernen.
- ↑ Ungarn stand damals unter dem Militärcommando des „Generalgouverneurs“ Erzherzog Albrecht, zu welcher Zeit die meisten, sowohl politischen, wie Justizämter mit deutsch-österreichischen Beamten besetzt waren, die, wie bekannt, nach dem sogenannten Ausgleiche ausnahmslos beseitigt wurden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: er