Zum Inhalt springen

Springmännchen und Goldfasan

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Elsbeth Montzheimer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Springmännchen und Goldfasan
Untertitel:
aus: Märchen
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1923
Erscheinungsdatum: 1927
Verlag: Leipziger Graphische Werke A.-G.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[82]
Springmännchen und Goldfasan.

Es war einmal ein sehr weiser König, der zwei Söhne hatte. Der Aelteste, Prinz Balduin, war sehr mutig, hatte Freude an Ritterspielen, glänzenden Festen und Veranstaltungen; doch wurde er immer hochmütiger und prachtliebender.

Der jüngere Sohn, Prinz Immo, war sanft und still. Obwohl nicht minder tapfer als sein Bruder, sah er neidlos dessen Triumphe beim Turnier und festlichen Aufzügen. Er selbst liebte das Waidwerk im grünen Walde mehr als das festliche Gedränge der Ritterspiele.

Wenn seines Vaters Untertanen ihm begegneten, nickte er ihnen freundlich zu. Die Leute verneigten sich tief vor ihm und sprachen zueinander: „Das ist unser guter Prinz Immo. Gott segne ihn.“

Sehr gern aber saß Immo im Kreise weiser Männer und ließ sich aus alten Pergamenten belehren, wodurch er seinem Vater eine besondere Freude bereitete.

Beide Königssöhne wollten auf Abenteuer ausziehen. Der König hörte das mit Sorge, denn er fürchtete, daß beide dabei zu Schaden kommen könnten. Doch dachte er endlich: „Vielleicht werden meine Söhne in der Fremde ihren Charakter und ihre Befähigung noch mehr als daheim zeigen, und ich werde je nachdem, wie sie sich in der Welt draußen bewähren, vielleicht genau ermessen können, wen ich später zu meinem Nachfolger machen kann.“

[83] Er sprach lange und eindringlich mit Balduin und Immo, ermahnte sie nochmals zu allem Guten, besonders auch zu brüderlicher Treue und Einigkeit, und winkte ihnen darauf, ihm zu folgen.

Durch weite Säle und Gänge des Schlosses führte er sie zu einem ganz versteckten Gemach, das sie noch nicht kannten, dort also sprechend:

„Liebe Söhne, ich will euch nun einen besonderen Beweis meines Vertrauens geben, indem ich euch zwei Dinge anvertraue, die bisher kostbare, unersetzliche Schätze für mich waren, und die ihr hoffentlich unversehrt wieder heimbringen werdet, denn sie können euch lebenslang von Nutzen sein.“

Der König öffnete eine Truhe und ließ die Prinzen hineinsehen.

Sie erblickten zwei kleine Gegenstände: einen winzigen, aus Gold gefertigten Fasan und eine unscheinbare, ganz eingetrocknete Springwurzel.

„Seht,“ sprach der König, „das sind die beiden Schätze, die ich euch anvertrauen will. Der kleine Goldfasan ist ein Zaubervogel, der, wenn das Zaubersprüchlein erklingt, zu der Größe eines Fasanen wächst und dem Besitzer goldene Federn und goldene Eier spendet, so oft dieser es heischt. Die Wurzel hat andere Zauberkräfte. Sie wandelt sich auf ihr Zaubersprüchlein hin in ein Männlein, das ,Springmännlein’ heißt und seinem Besitzer mit Rat und Tat beisteht, wenn er dessen bedarf. Balduin, du als ältester meiner Söhne, tritt zuerst zur Truhe und wähle dir einen von beiden Schätzen.“

Da lachte Balduin, ergriff den goldenen Vogel und sprach: „Mit Verlaub, mein Vater, ich halte es mit dem Goldfasan, denn ein Königssohn muß mit Glanz und Pracht in die Welt ziehen, und was den ,guten Rat’ anbelangt, so habe ich ja mein gutes Schwert, das ist mein bester Ratgeber.“

[84] Ernst sprach der König: „Ich ahnte es, mein Sohn, daß du so wählen würdest, doch bedenke wohl, daß du mein Geschenk nicht zur Ueppigkeit und Eitelkeit mißbrauchen sollst. Auch verachte niemals einen guten und weisen Rat und verlaß dich nicht allein auf dein Schwert. Oft im Leben wird die Gewalt durch kluge Erwägung besiegt.“

Dann wandte sich der König zu Immo: „Und nun, mein Jüngster, nimm die Gabe, die dein Bruder verschmähte; möge sie dir Segen bringen.“

Immo ergriff die Wurzel. Dann ein Knie vor seinem Vater beugend, sprach er:

„Ich danke dir, mein Vater. Mein Bruder erriet wohl, daß diese Gabe mir die willkommenste sein würde! Ich will sie zu deiner Freude gebrauchen. Ich begehre nur, als einfacher Knappe gekleidet hinauszuziehen. Eitler Prunk lockt leicht Räuber an. Ein gutes Schwert und mein treues Rößlein seien meine Begleiter.“

Den König freute diese Gesinnung seines jüngsten Sohnes. Er prägte beiden sorgfältig ein, wie sie die Zaubergaben zu gebrauchen hätten, die ein jeder von ihnen dann gut verbarg.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, nahmen sie Abschied von ihrem Vater sowie von den Getreuen und verließen das Schloß.

Gegen Abend erreichten sie ein Gehölz, durch das sie hindurchritten, hoffend, alsdann ein Wirtshaus zu erreichen, in dem sie übernachten konnten.

Doch nichts war rings zu erblicken, nur immer wieder neuer Wald.

Da hörten sie ein ängstliches Flattern in einem Baum. Immo bemerkte ein Vögelchen, das sich an einer Leimrute gefangen hatte. Mit großer Vorsicht befreite er das Tierchen, das sich nun auf seine Schulter setzte und in sein Ohr zwitscherte:

[85]

„Tiri, tiri, o Königssohn,
Will di, will di nun gleich zum Lohn
Ein Obdach zeigen;
Mußt aufwärts steigen.“

Immo winkte seinem Bruder, und als beide noch ein kleines Stück bergauf ritten, lag eine Köhlerhütte vor ihnen.

Der Köhler fand sich bereit, ihnen Obdach zu geben, wenn sie mit einem Strohlager vorlieb nehmen wollten. Er ahnte natürlich nicht, daß er zwei Königssöhne beherbergen sollte, wenn er auch Balduins kostbare Kleidung mit einigem Erstaunen musterte.

Sein Weib brachte Brot, Milch und Käse und sorgte, daß es auch den Rossen an nichts mangelte. Balduin schlief, trotz des ungewohnten Lagers, bald ein, doch Immo setzte sich zu dem Köhler an das Herdfeuer und ließ sich von ihm etwas erzählen.

Der Köhler, welcher Immo für den Knappen Balduins hielt, berichtete ihm denn auch ohne Scheu, was der Königssohn wissen wollte, der nach der Gegend fragte, nach der Ausdehnung der Wälder und was sonst jemanden interessieren konnte, der auf Abenteuer ausziehen wollte.

Als der Köhler letzteres merkte, ward er plötzlich ganz vertraulich und sagte: „Drei Tagereisen von hier liegt das Falkenschloß. Ganze Scharen von Falken umkreisen es tagaus, tagein; das sind verzauberte Menschen, die in die Gewalt des Zauberers gelangten, der im Falkenschloß haust. Sie wollten alle die beiden Prinzessinen erlösen, die dort oben irgendwo gefangen gehalten werden. Ein Hirte verirrte sich einmal in der Nähe des Falkenschlosses und hörte daselbst den Gesang der Prinzessinnen. Da hat er nirgends mehr Ruhe gefunden. Er ist oft wieder zum Falkenschloß gewandert, bis niemand ihn wiedersah. Gewiß ist auch er dem Zauberer verfallen und von ihm in einen Falken verwandelt worden.“

[86] Immo hörte diese Erzählung mit Staunen. Gern hätte er noch mehr erfahren, doch der Köhler mußte noch allerlei Arbeiten verrichten; darum mochte er ihn nicht zurückhalten. Er nahm sich aber vor, ihn noch über das Falkenschloß zu befragen, ehe er von dannen ritt.

Zunächst teilte er seinem Bruder alles mit, der sogleich erklärte, unbedingt zum Falkenschloß ziehen zu wollen.

Am nächsten Morgen ließen sich die Brüder von dem reichbelohnten Köhler noch ein Stück Weges geleiten, wobei sie sich alles erzählen ließen, was ihr Begleiter noch wußte, obwohl das nicht mehr viel war. Er berichtete, daß ein riesiger Greif die Jungfrauen bewachen solle und daß Gewalt ihn nicht besiegen könne. Vielmehr sei nur der des Sieges sicher, der neben Tapferkeit über das Zauberschwert verfüge. Wo das zu finden sei, vermochte er aber nicht zu sagen.

Die Prinzen dankten dem schlichten Manne, der beim Abschied sie noch ernstlich warnte, sich nicht unvorsichtig in Gefahr zu begeben.

Die Brüder dachten über seine Warnung nach. Ihr Vater fiel ihnen ein und ihre Pflicht, ihn vor Kummer zu bewahren.

Immo sprach: „Wohl zogen wir aus, um Abenteuer zu suchen, doch bat auch der Vater uns, unnütze Gefahren zu meiden. Um seinetwillen wäre es vielleicht besser, wir suchten uns andere Abenteuer, denn wer tröstet den alten Mann, wenn auch wir als Falken verwandelt dem Verhängnis anheimfallen?“

„Hast du Furcht, so kehre heim,“ antwortete Balduin. „Ich aber reite zum Falkenschloß.“

Da entgegnete Immo: „Dann komme ich mit dir, mein Bruder, denn ich verlasse dich nicht. Daß ich die Gefahr jedoch nicht meinetwegen meiden will, habe ich dir wohl schon öfters bewiesen.“

[87] So ritten die Brüder denn dem Falkenschloß entgegen. Immo riet, zuerst das Zauberschwert zu suchen, das seiner Meinung nach sich in der Nähe des Schlosses befinden mußte. Doch Balduin wollte davon nichts hören, so daß Immo fürchtete, seines Bruders ungeduldiger Tatendrang würde alles verderben und sie beide ins Unheil stürzen.

Nach drei Tagen kamen sie an einen hohen Berg. Der Köhler hatte ihnen den Weg, so gut er es wußte, beschrieben; sie vermuteten nun, nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt zu sein.

Müde und hungrig, wie sie waren, spähten sie nach einem Obdach, wo sie sich zu ihrem Vorhaben stärken konnten.

Endlich entdeckten sie einen Lichtschein, der aus einer menschlichen Behausung kommen mußte. Vielleicht war es die Herberge, von der der Köhler ihnen gesprochen hatte.

Mit Mühe bahnten sie sich einen Weg durch das Gestrüpp, bis sie endlich vor der Tür des alten Gebäudes standen. Auf ihr Pochen trat ihnen eine Frau entgegen, die auf ihre Frage antwortete, daß sie die Frau des Wirtes sei, und daß das Haus die Herberge sei, in der sie übernachten könnten.

Zwar war es nur ein elendes Kämmerlein, in dem die Königssöhne Unterkunft fanden, aber sie schliefen doch fest bis zum nächsten Morgen.

Die Sonne war schon aufgegangen, als sie erwachten und sich besannen, wo sie waren.

Bald saßen sie in der ärmlichen Wirtsstube, wo ein kräftiger Imbiß von der Wirtin aufgetragen wurde. Als die Brüder nun ihre Wirtin nach dem Falkenschloß befragten, ließ die Frau vor Schrecken fast die Schüssel mit Mehlbrei fallen. Sie schlug die Hände zusammen und zeterte: „Ich plag’ meinen Mann alle Tag’, daß ich’s nimmer ansehen kann, wie die schmucken Ritter ins Elend ziehen, und daß ich fort von hier will, und ihr kommt nun so weit her, um euer junges Leben [88] zu verlieren? Noch keiner ist zurückgekehrt, der dorthin zog, wo der höchste Berg liegt. Ach, es werden der Falken immer mehr! – Alle fanden ihr Elend und fielen in die Gewalt des Zauberers. Ich warne euch, kehret heim; denn die Jungfrauen könnt ihr nimmer erlösen!“

Balduin aber antwortete: „Frau Wirtin, Ihr meint es gut, das merk’ ich, aber die armen Gefangenen werden es Euch wenig danken, wenn Ihr all die Retter fernhalten wollt. Sagt, wer sind die Jungfrauen?“

„O, Herr Ritter, mein Mann hat mir verboten, es zu erzählen, weil er denkt, die Retter würden dann eher von dem Wagnis ablassen.“

„Wenn Euer Mann das glaubt, so kennt er wenigstens mich schlecht,“ lautete Balduins Antwort. „Erzählt flugs, Frau, wer die Jungfrauen sind, denn wenn Ihr’s nicht tut, dann reite ich noch schneller zum Falkenschloß, um es vielleicht dort zu erfahren.“

„Das würde Euch schwerlich gut bekommen! Aber, Herr, wenn Ihr darauf besteht, so hört: die Jungfrauen sind Schwestern, und die Töchter eines mächtigen Königs, der das Falkenschloß sogar einst belagert hat, um die Mägdlein zu befreien. Alles war umsonst; sämtliche Mannen wurden in Falken verwandelt, und der König selbst entging mit knapper Not dem gleichen Schicksal. Seitdem hat der König keinen Angriff wieder gewagt.“

„Aber das Schwert, sagt, Frau Wirtin, wo findet man das Zauberschwert?“ mischte Immo, der schweigend zugehört hatte, sich jetzt in das Gespräch.

Die Wirtin, ebenfalls glaubend, den Knappen des unbekannten Ritters vor sich zu haben, antwortete geschäftig: „Wollt Ihr’s dem edlen Ritter suchen, dann müßt Ihr die Bäume nahe dem Falkenschloß danach durchforschen. Dort soll es zu finden sein; mehr weiß ich nicht. Muß es doch noch kein Ritter gefunden [89] haben, sonst wär’ längst der Zauberer besiegt worden. Laßt ab von Eurem Vorhaben und kehret heim, wenn Euch Euer Leben lieb ist; den Jungfrauen und den Falken ist nimmer zu helfen.“

Doch die Brüder beschworen die Wirtin, ihnen nun alles zu sagen, was sie noch wisse, so daß die Frau ihnen endlich noch weiter erzählte: „Es geht die Mär, der mächtige Greif, der die Jungfrauen bewache, schlafe nie, weil Zauberglöcklein, die in einem Baum hingen, ihn mit ihrem Klingen stetig wach erhielten. Auch erzählt man, der Zauberer selbst sei ein Greis mit einem ellenlangen Bart und einem greulichen, riesenhaften Höcker. Nur wer mit einem Hieb des Zauberschwertes diesen Höcker vom Rumpf zu trennen vermöchte, könne den Bösewicht besiegen. Das würde schwer sein. Aber den Vogel Greif zu töten, sei noch weit schwieriger, denn es heiße, seine löwenartige Mähne müsse mit einem kühnen Streich des Zauberschwertes abrasiert werden und seine Flügel ebenso. Dann könne er vielleicht besiegt werden.

Wehe aber dem, den seine Klauen packten, oder den ein Schlag seines Schweifes träfe! Er müsse sein Leben lassen. Daß ist alles, was ich weiß,“ schloß die Wirtin ihren Bericht.

Die Brüder dankten der Frau und belohnten den Wirt reichlich, der bald darauf in die Stube trat, um zu melden, daß die Rosse aufgezäumt seien. Auch er riet den Brüdern erschrocken zur Heimkehr, da er vernahm, daß sie zum Falkenschloß wollten. Da er aber das Vergebliche seiner Warnung einsah, beschrieb er ihnen den Weg dorthin, der sie bis zum Abend in die Nähe des Unglücksschlosses, wie er ihr Ziel nannte, führen würde.

Stunden um Stunden waren beide nun bergauf geritten, und sie mußten dem Ziel schon nahe sein, als Immo erklärte, daß es nun die Zeit sei, das Geschenk des Vaters, die Zauberwurzel anzuwenden, um den Rat des Springmännchens zu hören.

[90] Balduin antwortete, ungläubig lachend: „Was soll das Männlein, wenn es wirklich erscheint, wohl vom Falkenschloß wissen? Laß mich zuvor mein Sprüchlein sagen; will erst sehen, ob der Goldfasan seine Schuldigkeit zu tun vermag. – Wer weiß, ob ich nicht seine Gaben brauchen kann.“

Balduin zog den Goldvogel aus seinem Versteck hervor, setzte ihn, wie sein Vater es ihm eingeprägt hatte, in einen niedrigen Baumast und sprach, mit den Armen dreimal die Bewegung des Fliegens nachahmend:

„Lieber Vogel schüttle dich,
Sträube dein Gefieder;
Reichlich fallen laß auf mich
Goldne Federn nieder!“

Erwartungsvoll blickten beide auf den kleinen Vogel. Und siehe da: Plötzlich reckte und dehnte er sich, als ob er lebe; er wuchs zusehends, und sein Gefieder gleißte, daß die Brüder kaum hinzusehen vermochten. Jetzt war er so groß wie ein wirklicher Goldfasan. Da wiederholte Balduin nochmals das Zaubersprüchlein, und nun flogen die glänzenden Federn wie ein Goldregen hernieder.

Balduin konnte sie kaum so schnell zusammenraffen. Sein Erstaunen machte ihn ganz sprachlos. Es ward noch größer, als nun auch ein schweres, goldenes Ei hinab fiel. Dann schrumpfte der Vogel wieder zusammen, bis er war wie zuvor. Balduin sprach mit lauter Stimme das Danksprüchlein:

„Dank dir, Dank, mein Goldfasan –
Sollst nun wieder Ruhe ha’n;“

worauf er die kostbare Gabe seines Vaters verbarg, ebenso seine goldenen Schätze.

Nun zog auch Immo seine Zauberwurzel hervor, um ihre geheimen Kräfte kennen zu lernen. Da drang plötzlich ganz deutlich Gesang von Frauenstimmen zu ihnen herüber.

[91] Balduin stutzte, ergriff seines Bruders Arm und rief hastig: „Bruder, hörst du’s? Die Jungfrauen im Falkenschloß singen. Wir müssen ganz nah’ sein. Komm’ ohne Säumen!“

Und ohne sich noch einmal nach Immo umzublicken, bestieg er sein Roß, eilig davonreitend. Immo mußte ihm wohl oder übel folgen, da der Uebereifrige für seine Warnrufe taub war.

Eilends verbarg der Jüngling seine kostbare Wurzel, dem Bruder über Stock und Stein auf den Berggipfel folgend.

Es dauerte auch nicht lange, so entdeckte er Gemäuer, zugleich auch Balduin, der nahe demselben entlang ritt.

Ein finsterer Bau war es, der kaum Fenster zu haben schien. Aber nicht von dort erklang der Gesang, vielmehr kam er aus einem Turm, welcher nahe dem Falkenschloß auf erhöhter Stelle lag. Sonderbarerweise war er rings von sumpfigem Wasser umgeben und nur durch eine lange, vom Schloß aus dorthin führende Zugbrücke zugänglich. Jetzt hörten beide den Gesang und auch die Worte deutlich:

„Es rüttelt der Wind und der Sturm
Allstündlich wohl hier an dem Turm,
Doch Mauern und Tor sind gar fest. –
Wir Armen, wir sind hier gefangen
Und schau’n nach dem Retter mit Bangen
Nach Norden, nach Süd, Ost und West!“

Ach, der Gesang klang gar traurig, aber so süß und flehend, daß die Brüder wohl jetzt verstehen konnten, wie so viele Ritter und auch der Hirtenknabe von ihm bezwungen, ihr Rettungswerk versuchten.

Immo verlor die Ueberlegung trotzdem aber nicht. Er zog nun an einem verborgenen Plätzchen, im tiefen Schatten der Bäume, die Zauberwurzel hervor, um den Rat des Springmännchens zuvor zu befragen, trotzdem er in Unruhe war, weil Balduin, seiner abermaligen Warnung ungeachtet, in stürmischer Ungeduld dem Schloß nahte.

[92] Immo legte die Wurzel ins Gras, machte, wie des Vaters Anweisung es heischte, drei Sprünge und rief dann mit gedämpfter Stimme:

„O Springmännchen, erscheine,
Und künde mir sofort:
Ob klug ist, was ich meine?
Erschein’ an diesem Ort!“

Da bewegte sich plötzlich etwas im Grase, und aus demselben hüpfte ein kaum schuhhohes Männlein, das eigentümlich anzusehen war: Ein Bart aus feinen Wurzelfasern wallte fast bis zu den Füßen, die in winzigen Schnabelschuhen steckten, während aus dem braunen Antlitz zwei kohlschwarze Augen den Jüngling nicht unfreundlich, aber ernst anblickten. Mit den wurzelartigen Händen fuchtelte der Kleine in der Luft herum, machte drei Sprünge, bis er dicht vor Immo stand, und sprach dann vernehmlich:

„Laß den Bruder dein
Kämpfen jetzt allein,
Denn für dich ist’s noch nicht Zeit!“

Als der erstaunte Immo sich einigermaßen gefaßt hatte, antwortete er: „Aber wie dürfte ich denn meinen Bruder in der Gefahr allein lassen? O, Springmännlein[1], dein Rat scheint mit herzlos.“

Da antwortete der Kleine:

„Später, später richt’,
Was der Springmann spricht!
Will bewahren dich vor Leid!“

„Darf ich denn meinen Bruder nicht warnen? Darf ich ihm nicht suchen helfen, daß er das Zauberschwert finde?“

Das Männlein schüttelte sein Haupt, sprang wieder ein paarmal herum und hub abermals an:

[93]

„Immo, höre mich:
Schwert ist nur für dich,
Weil du’s brauchest mit Bedacht.
Tollkühn ist nicht gut –
Hilft dann auch kein Mut;
Tu’ dein Rettungswerk zur Nacht.“

„Soll ich nun tatenlos hier wie ein altes Weib hocken und von meinem Bruder für feige gehalten werden? O, liebes, gutes Springmännchen, rate mir doch, wie ich das Werk beginnen und durchführen soll.“

Springmännchen hüpfte wiederum und ließ sich nochmals also vernehmen:

„Halte bis zur Nacht
Mit Geduld hier Wacht;
Dann zur rechten Stunde
Bringt dir Springmann Kunde.
Glaub’, was Springmann spricht;
Immo, zweifle nicht!“ –

Noch drei Sprünge, und Springmännlein war verschwunden.

Immo sprach mit bewegter Stimme den vorgeschriebenen Dank:

„Springmann, Dank, für deinen Rat;
Will ihm folgen früh und spat!“

Nachdenklich steckte Immo wieder die Wurzel zu sich, indessen sein Herz traurig war. Und doch mußte er tun, wie das Männchen ihm geraten hatte.

Voll Angst um seinen Bruder spähte er durch die Bäume, doch von Balduin war keine Spur mehr zu entdecken. Er war augenscheinlich ohne Ueberlegung, und trotz aller Warnung, sich auf seinen Mut und sein gutes Schwert verlassend, in das Zauberschloß gedrungen.

[94] Der Gesang im Turm ließ sich nur noch gedämpft vernehmen. Immos Herz war von großem Mitleid für die armen Opfer des Zauberers erfüllt, denn er ward nun auch auf die zahlreichen Falken, die in den Mauernischen saßen oder das Schloß umschwirrten, aufmerksam. Er wagte es jedoch nicht, des Springmännleins Gebot zu übertreten, hoffte auch, sein Bruder werde wieder zu ihm zurückkehren, da dieser doch genau von der Gefährlichkeit und Nutzlosigkeit seines blinden Eifers unterrichtet war. Immo sagte sich, daß Balduin, wenn die Kampfeslust ihn übermannte, sich auch von ihm nicht würde zurückhalten lassen. Er selbst würde dann höchstens sein Schicksal teilen müssen, ohne ihm helfen zu können, während er, wenn das Wagnis im Besitz des Zauberschwertes gelang, mit den übrigen Opfern auch seinen Bruder retten zu können hoffte. Er vertraute nun auf Springmännchens Hilfe.

Balduin war unterdessen, trotz aller Warnung, auf eigene Kraft vertrauend, und ehrgeizig hoffend, seinem Bruder mit dem Rettungswerk zuvorzukommen, durch das große, in das Schloß führende Tor geschritten. Das Klirren seiner Waffen und seiner Sporen war das einzige hörbare Geräusch ringsum; alles schien wie ausgestorben. Nur die Falken machten sich bemerkbar.

Es schien Balduin, als wollten sie ihm den Eingang in das Gebäude wehren, denn sie umflatterten ihn ängstlich kreischend.

Aber auch das beachtete Balduin in seiner Verblendung nicht; er schritt furchtlos weiter, obwohl es zu dämmern begann. „Wenn ich nur den alten Zauberer erblicke,“ so dachte er, „dann ist sein Höcker geliefert. Mein gutes Schwert spaltet am Ende ebensogut wie das Zauberschwert einen Menschen.“

Vom Hof betrat er einen weiten Saal, dessen prunkvolle Einrichtung er kaum beachtete. Seine Aufmerksamkeit galt einer etwas geöffneten Tür. Lichtschein drang durch die Spalte. Vorsichtig sich nähernd, lugte er in das Gemach, kein [95] Auge von dem eigenartigen Anblick wendend: ihm den Rücken zukehrend, saß an einem Herd ein Mann, dessen riesengroßer Höcker ihn sofort als den Zauberer erkennen ließ. Er rührte unablässig in einem über dem Feuer hängenden Kesselchen, in dem irgendeine Masse kochte.

Jetzt sah Balduin deutlich, wie der Zauberer von Zeit zu Zeit aus einer Truhe eine Handvoll Gold nahm, das er in den Kessel tat. Dabei hörte der Lauscher ihn murmeln:

„Brodle, Goldbrei, zische, zische,
Daß sich alles gut vermische:
Löwenzahn und Fingerhut,
Schierling, Gold und Drachenblut.
Silber, Kupfer, nochmals Gold,
Daß das Werk gelingen sollt’.
Schmiede für zwei Jungfräulein
Aus dem Brei zwei Schlößlein fein,
Leg’ eins vor jed’ Mündlein schwer –
Daß das Singen es verwehr’. –
Brodle, Goldbrei, zische, zische –
Daß sich alles gut vermische.“

Gierig suchte der Alte wieder in der Truhe, doch er fand augenscheinlich kein Gold mehr, denn er murmelte abermals:

„Truhe ist von Golde leer –
Braucht’ ein Klümplein Gold noch sehr, –
Rotes, goldnes Glitzergold –
Lohnt’s gern dem, der’s bringen wollt’.“

Da kam Balduin eine kühne Idee: Wie, wenn er den Zauberer durch anscheinende Gefälligkeit zu überlisten suchte? Vielleicht kam er dadurch leichter zum Ziel? Gold besaß er ja genug. Zwar widerstrebte diese Handlungsweise seinem ritterlichen und kampfeslustigen Sinn, da er sie hinterlistig nennen mußte und er am liebsten dem Feinde gleich in offenem, ehrlichem [96] Kampf entgegengetreten wäre, wie das sonst seine Art war. Aber es galt ja, den bösen Zauberer zu überwinden und damit viele Menschen zu retten; vor allem mußten auch die armen Jungfrauen vor noch größerer Schmach bewahrt werden.

Also verursachte Balduin ein Geräusch, daß der Zauberer sich umwandte, wobei er natürlich den Königssohn erblickte. Dieser wich vor dem über alle Begriffe häßlichen und boshaften Gesicht des Zauberers unwillkürlich einen Augenblick zurück, doch schnell gefaßt, sprach er: „In der Wildnis verirrt, erblickte ich das Schloß hier, wo ich hoffte, ein Obdach zu finden. Ihr seid gewiß ein Alchymist; das Gold dort im Kessel verrät es mir. Ich hab’ auch meinen Spaß daran. Darf ich Euch als Dank für ein Nachtquartier vielleicht dabei behilflich sein? Man braucht dazu viel Gold. Ich habe solches.“

Gierig hafteten des Alten böse Blicke auf dem Sprechenden. Seine kralligen Hände streckten sich aus: „Gebt her, schnell, das kann ich brauchen.“ Die Augen glühten, und unersättlich schien seine Goldgier geworden.

Balduin gab bereitwillig, was der Goldfasan ihm gespendet.

Als der Zauberer sich über den Kessel beugte und eifrig rührend an nichts zu denken schien als an seine Beschäftigung, da zuckte einen Augenblick Balduins Hand nach dem Schwert. Doch schon richtete sich der Zauberer wieder auf; der günstige Augenblick war vorbei.

Aber jetzt fiel Balduin das Goldei ein. Er holte es hervor, ließ es aber zur Erde gleiten. Gierig bückte sich der Zauberer tief, um das rollende Ding zu erhaschen. Im gleichen Augenblick sauste Balduins Schwert mit gewaltigem Hieb gegen den Höcker des Zauberers.

Aber so wuchtig das Schwert auch herniedergesaust war, daß es wohl gleich zwei Höcker hätte abrasieren können, dem Zauberer verursachte es nur eine unbedeutende Wunde und – prallte ab.

[97] Zu spät ward Balduin inne, daß ein Zauberer nicht mit einem gewöhnlichen Schwert überwältigt werden konnte. Er schlug zwar noch einmal los, doch wie eine Katze sprang der Zauberer empor, umkrallte den Hals des wie wahnsinnig mit dem Schwert um sich schlagenden Angreifers und rief wutschnaubend:

„Du böser, hinterlist’ger Schalk,
Nimm deinen Lohn und – sei ein Falk’!“

Mit Grausen fühlte Balduin sich gedankenschnell in den genannten Vogel verwandelt, der gleich darauf mit einem Klageschrei durch das einzige kleine Fenster davonflog.

Was half es dem armen Verzauberten nun, daß er nicht nur bereute, so eigenmächtig und tollkühn vorgegangen zu sein, sondern auch den Bruder verlassen zu haben.

Nun flog der Falke umher, um den Bruder zu warnen und ihm den Goldfasan zu bringen.

Endlich entdeckte er den Gesuchten unter den Bäumen. Er flog dicht zu ihm hin und rief:

„Bruder, lieber Bruder mein,
Gehe nicht ins Schloß hinein,
Eh’ das Zauberschwert ist dein!“

Immo fuhr erschrocken aus seinem Sinnen auf. Ach, er begriff alles. Voll Mitleid sprach er dem armen Bruder Mut zu und sagte ihm, was Springmännchen ihm versprochen. Der Falke hörte aufmerksam zu. Dann öffnete er eine seiner Krallen, ließ den kleinen Zaubervogel dicht vor Immo hinabgleiten und sprach:

„Nimm ihn ohne Sorgen,
Halte ihn verborgen.“

Immo nahm den Schatz mit Seufzen. Darauf flog der Falke still in den nächsten Baum.

Da war es Immo, als ob ein Ton wie das Klingen eines Glasglöckleins an sein Ohr schlüge. Vielleicht war es irgendein

[Bild]

[98] Zeichen. Springmännchen wartete vielleicht schon auf seinen Ruf. Er verfuhr mit der Wurzel genau wie vor einigen Stunden. Kaum hatte er sein Zauberverslein beendet, als auch der Kleine schon vor ihm stand, also sprechend:

„Menschenleer sind Schloß und Hallen,
Alles rings in Zauber fallen.
Doch der Greif und Zaub’rer wacht
Alle Tag’ und alle Nacht,
Daß kein Feind sich nah’ der Pforte
Zu dem bösen Zauberorte;
Denn der Zauberglocken Klingen
Künden gleich von allen Dingen.
Ich will dir das Mittel zeigen,
Daß die Glöcklein stille schweigen.
Auch den Ort will ich dir künden,
Wo das Zauberschwert zu finden!“

Springmännchen winkte darauf Immo, ihm zu folgen, ihn durch Zeichen zur Vorsicht ermahnend.

Es war nun ziemlich dunkel; die Sichel des Mondes verbreitete unsicheres Licht. Immo mußte aufpassen, seinen kleinen Führer nicht aus den Augen zu verlieren.

Je näher sie dem Schlosse und dem Turme kamen, desto lauter vernahm Immo das wunderbare Klingen, das von abgestimmten Kristallglocken herzurühren schien.

Springmännchen sprang, wie er immer tat, ehe er etwas sagte, mehrmals vor Immo auf und nieder; dann bedeutete er dem Prinzen abermals vorsichtig zu sein, und sprach leise:

„Dem Rettungswerk es jetzo gilt,
Bist du, mein Prinz, dazu gewillt?“

Als Immo bejahte, fuhr der Kleine fort:

„Nun wappne dich mit festem Mut,
Dann winket dir Gelingen gut.“

[99] Nach diesen Worten hüpfte es behende weiter, sich immer nach Immo umblickend, ob dieser auch folge, indessen das Klingen der Glöcklein immer lauter wurde.

Jetzt stand Springmännchen vor einem hohen Baume still, und nun sah Immo, emporblickend, wie in seinen Zweigen unendlich viele große und kleine Glasglöcklein hingen, die sanft leuchtend die wundervollen Klänge hervorbrachten. Hier machte der Kleine halt, während Immo keinen Blick von ihm verwandte. Sonderbar erschien ihm Springmännchens Gebahren. Der tanzte erst dreimal um den Baum herum und sprang dann mit kühnem Satz in den untersten Zweig, ein Reislein von diesem pflückend. Danach klomm er behende von Ast zu Ast und berührte jedes Glöcklein mit dem Reis. Als dies geschehen war, rief er, noch droben sitzend, in gedämpftem, doch Immo noch verständlichem Tone, während er allerlei geheimnisvolle Zeichen und Bewegungen gegen die Glöcklein machte:

„Glöcklein, dürft nicht klingen,
Soll das Werk gelingen! –
Wind, ach lieber Wind,
Geh’ zur Ruh’ geschwind;
Schlüpf’ dort in die Hecke,
Daß den Greif nichts wecke,
Daß kein Glöcklein klinge,
Und das Werk gelinge.“

Sofort verstummte ein Glöcklein nach dem andern, und ein kühler Windhauch streifte an Immo vorbei, der Hecke zu. Dann sprang das Männlein zur Erde, dem Prinzen durch Zeichen bedeutend, am Baume auf ihn zu warten. Immo sah ihn davonhüpfen; er schien sich dem Turm zu nähern, der in nächtliche Schatten gehüllt unheimlich emporragte. Doch gleich war Springmännlein zurück. Mit der üblichen Vorbereitung flüsterte der Kleine:

[100]

„Liegt der Greif in Schlaf und Traum;
Nah’ getrost dem Zauberbaum.
Klimm’ hinauf, mein Immo du;
Wind und Glöcklein sind zur Ruh’ – –
Siehst das Schwert du hangen? –
Hol’s jetzt ohne Bangen.“

Immo blickte angestrengt in die Höhe. Und siehe da: wirklich hing dort im Baum mitten unter den Zauberglöcklein das Zauberschwert, dessen scharfe Klinge der Jüngling nun deutlich aufblitzen sah.

Ohne Besinnen erklomm er gewandt den Baum, bis er das Schwert erreicht und aus den Zweigen gelöst hatte. Wieder unten angelangt, folgte er schnell dem voranspringenden Männlein, das ihn nun denselben Weg führte, den Balduin wenige Stunden zuvor in kühnem Wagemut gegangen war.

Der Falke saß indessen auf seinem Baum, hatte alles gehört und flog nun mit ängstlichem Flattern den beiden nach. Doch das Tor war schon wieder hinter dem ungleichen Paar geschlossen.

So vermochte der Verzauberte hier nichts zu helfen, wie er gehofft hatte.

Vor der Tür desselben Gemachs, wo Balduins Kampf stattgefunden hatte, blieb Springmännlein stehen, indem es flüsterte:

„Jetzt sei auf der Hut; –
Führ’ die Klinge gut.
Triff den Höcker gleich
Mit gewalt’gem Streich.“

Geräuschlos sprang die Tür auf. Dort am Herd stand der schreckliche Zauberer und schmiedete mit dröhnenden Hammerschlägen an zwei Goldschlößlein. Das dadurch verursachte Geräusch [101] sowie der Eifer, mit welchem der Zauberer seiner Beschäftigung oblag, ließ ihn den Eintritt Immos überhören.

Mit gezücktem Schwert stand Immo hinter ihm, gewandt den richtigen Augenblick benutzend, als der Zauber sich über sein Werk beugte.

Die scharfe Klinge des Zauberschwertes sauste, mit gewaltiger Kraft geführt, auf den Höcker hinab, daß dieser zu Boden rollte.

So wuchtig war der Hieb geführt worden, daß das Schwert noch tief in den Kopf des Zauberers drang, diesen mitten durchspaltend, was dem Zauberer das Leben kostete.

Dieses erste Werk war vollbracht; doch nun folgte das schwerere: der Weg in den Turm.

Springmännchen hüpfte voran, durch weite Säle und Gänge, die alle hell erleuchtet waren.

Endlich standen sie vor einer schweren eichenen Tür, deren mächtige Bohlen zeigten, daß sie den Ausgang bilden mußten. Immo öffnete die rostigen Riegel mit Mühe. Nun lag die lange Zugbrücke vor ihm. Springmännchen hüpfte wieder und raunte dann:

„Prinz, dem Greifen wild
Jetzt dein Kämpfen gilt;
Zück’ mit Mut dein Schwert,
Denn der Preis ist’s wert.
Trenn’ die Flügel schnell,
Seiner Kräfte Quell.
Dann die Mähne glatt,
Das macht Greif wohl matt.
Dann flugs, ohne Grau’n,
In den Rachen; traun,
Eh’ noch weicht die Nacht,
Ist das Werk vollbracht.“

[102] Mutig schritt der Königssohn voran, bis er das Tor des Turms erreicht hatte.

War der Zauberer schon schrecklich anzuschau’n gewesen, so übertraf der Anblick des Greifen diesen noch an Furchtbarkeit. Ein schmaler Lichtstreif fiel aus dem Turm auf den schrecklichen Wächter der unglücklichen Königstöchter herab.

Immo sah, wie das Ungetüm regungslos, jedenfalls schlafend, dicht vor der schmalen in den Turm führenden Pforte lag. Der Kopf, die Mähne, der Schweif glichen dem des Löwen, während die mächtigen Flügel und die furchtbaren Krallen eher dem Adler anzugehören schienen.

Immo faßte das Zauberschwert recht fest, während er sich vorsichtig dem schrecklichen Tiere näherte. Kein Zweifel, es schlief; die verstummten Glasglöcklein hatten ihre Wirkung getan. Als Immo ganz nah war, holte er zu einem mächtigen Hieb aus, der auch den einen Flügel gänzlich vom Körper trennte. Aber nun erwachte der Greif auch mit schrecklichem Geheul.

Doch schon sank der zweite Flügel, von wohlgelungenem Streich getroffen, hernieder.

Ehe der Unhold zum Sprunge auf seinen Angreifer fähig war, hatte Immo schon die Mähne mit sicherem Griff erfaßt, so daß sie im nächsten Augenblick neben den Flügeln am Boden lag. Fauchend, mit weitgeöffnetem Rachen vorwärts springend, versuchte der Greif nun, dem kühnen Jüngling die furchtbaren Krallen in den kampfesmächtigen Arm zu schlagen und seinen Schweif um des Prinzen Körper zu ringeln.

Doch tief in den gewaltigen Rachen tauchte die Klinge des Furchtlosen, daß ein mächtiger Blutstrom aufspritzte.

Wohl hatte Immo nach allen Mut und alle Kraft zusammenzunehmen, um das immer noch gefährliche Ungeheuer [103] vollends zu töten, ehe es ihm mit seinen Krallen oder dem Schweif verderblich werden konnte. Ihm war, als ob seine eigene Kraft sich verdoppelte, ja, verdreifachte, ein Umstand, den er nebst seiner eigenen Anspannung aller Kräfte hauptsächlich dem Zauberschwert zuschrieb, und jedenfalls auch mit Recht. Er bedurfte solcher Kräfte aber auch, das erkannte er, denn die Anstrengung war nicht gering, bis das Tier endlich getötet zu seinen Füßen lag.

Erst jetzt wagte Immo, sich nach seinem getreuen Springmännchen umzublicken, und er konnte einen Jubelruf nicht unterdrücken, als er sah, wie der kleine Mann eben mit aller Kraft einen mächtigen Schlüssel aus einem Mauerloch hervorzog, den er durch ein Zeichen zu nehmen aufforderte. Dann, nach den üblichen Sprüngen, hub er an:

„Hast besiegt den Greif zur Nacht;
Hält nun niemand hier mehr Wacht.
Nun verliere keine Zeit,
Bis die Mägdlein sind befreit,
Bis die Falken auch gerettet,
Die nur so lang’ Zauber kettet,
Als die beiden noch gefangen;
Drum an’s letzte Werk ohn’ Bangen.
Hier der Schlüssel sprengt das Tor –
Steig getrost im Turm empor.“

Immo nahm mit freundlichem Dank den Schlüssel und sprach:

„Du, mein liebes Springmännlein, was du mir bisher geraten, war gut, so will ich auch nun mit Freuden an das letzte Werk gehen. Ohne deine Hilfe hätte ich dieses Ziel nie erreichen können. Werde ich dich noch hier finden, wenn ich die Jungfrauen befreit habe?“

[104] Da antwortete Springmännlein mit fröhlichem Hüpfen:

„Springmann harret dein,
Bis es Zeit wird sein.
Hörst du die Jungfrau’n singen?
Sollst die Schönste dir erringen.“

Wenige Minuten später hatte Immo den Schlüssel im Torschloß umgedreht und schritt die enge Steintreppe zum Turmgemach empor.

Springmann hatte recht gehabt: die Jungfrauen sangen; aber es war nicht mehr jenes Klagelied, das er schon gehört, sondern es war, als ob sie einem Dritten antworteten, denn der Prinz vernahm ihre Worte:

„Deine Botschaft wir vernahmen,
Daß heut’ zwei zur Rettung kamen.
Du bist einer von den beiden,
Mußtest bitter für uns leiden;
Doch dein Bruder Immo wert
Schwang mit Mut das Zauberschwert.
Unser Dank werd’ ihm zuteil;
Unserm Retter Immo Heil!“

Jetzt sprang die Tür zum Turmgemach auf, und Immo trat über die Schwelle. Er sah zuerst die beiden schönen Jungfrauen, die Hand in Hand an dem engen Fenster standen und Zwiesprache mit einem draußen am Eisengitter kauernden Falken hielten. Immo begriff gleich, daß sein Bruder die Freudenbotschaft gebracht hatte.

Als Immo nun das Zauberschwert klirren ließ, wandten sich die Jungfrauen erschrocken um. Doch ein Blick auf den Jüngling ließ sie erkennen, daß sie ihren Retter vor sich hatten.

Jetzt erst gewahrte Immo, daß jede der beiden Gefangenen um einen Arm ein starkes Seil geschlungen trug, dessen Ende fest in das Gemäuer gefügt war.

[105] Ehe der Jüngling aber diese letzte Fessel der armen Jungfrauen löste, rief er dem Falken, der noch immer draußen am Fenster saß, zu:

„Mein Bruder, warn’ die Falken alle,
Daß keiner aus der Höhe falle.
Such’ jeder schnell sich festen Grund,
Denn jetzo naht die Rettungsstund’.“

Mit lautem Freudenschrei flog der Falke eilends davon, um den Auftrag auszuführen, indessen Immo sich ritterlich vor den Königstöchtern verneigte, die mit züchtig niedergeschlagenen Augen vor ihm standen.

Sie waren beide sehr schön. Die Aelteste, Edelgarde, die dem Falken erst voll Mitleid nachgeblickt hatte, war vielleicht die Schönste; dennoch hafteten Immos Blicke an der jüngeren Schwester, Irmtraute, weil der Ausdruck ihres Antlitzes besonders große Herzensgüte zeigte. Jetzt sprach er:

„Edle Jungfrauen! Als euer Retter nahe ich euch. Vergebt mir, daß ich hier eingedrungen bin und euch vielleicht erschreckt habe, anstatt, wie es euerm Range entsprach, mich zuvor bei euch anmelden zu lassen. Doch“, fuhr der Prinz lächelnd in seiner Rede fort, „woher sollte ich eine Dienerin oder einen Pagen nehmen? Alles ist verzaubert, wie ihr wißt, und so mußtet ihr mit der Botschaft eines Falken vorlieb nehmen, der, wie ich glaube, seines selbstgewählten Amtes zu eurer Zufriedenheit gewaltet hat. Und nun will ich eure Fesseln zertrennen, damit euch und den Falken Freiheit und Erlösung zuteil werde.“

Doch ehe Immo noch zum Zauberschwert griff, um die Stricke zu zerschneiden, gewahrte er Springmännchen an seiner Seite, der ihm zuwinkte und nach der üblichen Vorbereitung also sprach:

[106]

„Nimm fest das Schwert,
Doch nimmer schneide –
Der Springmann wehrt,
Weil’s sonst zum Leide.
Berühr’ den Strick
Mit flacher Klinge;
Im Augenblick
Dies Freiheit bringe.“ –

Immo tat, wie ihm geheißen. Kaum hatte das Zauberschwert den Strick berührt, als die Knoten auch schon von selbst aufsprangen und beide Jungfrauen befreit waren.

Sie folgten mit ihrem Befreier nun schnell dem voraneilenden Springmännlein, das munter die Treppe hinabhüpfend, unten vor dem Tor vergnüglich zu tanzen begann, als die drei auf der Zugbrücke angelangt waren.

Nun eilten sie schnell, immer ihrem kleinen Führer folgend, in das Schloß, wo im größten Saal eine stattliche Anzahl Ritter ihrer harrte, die nun in lauten Jubel ausbrachen. Es waren natürlich die in Falken verzaubert gewesenen Prinzen sowie deren Knappen und Pagen, die nun ihre natürliche Gestalt wiedererhalten hatten.

Voran schritt Balduin den dreien entgegen und fiel seinem Bruder um den Hals, heiße Dankesworte stammelnd. Dann kamen alle die anderen, so daß Immo bald von den dankbaren Jünglingen wie von einer Mauer umgeben war, die alle ihm die Hände entgegenstreckten und ihren Dank auf die verschiedenste Weise zu bezeugen suchten. Bescheiden wehrte Immo alle Ehren von sich ab, indem er erklärte, daß er allen Erfolg nur dem guten Springmännlein, seinem treuen Ratgeber, und dem Zauberschwert verdanke. Nur mit Hilfe dieser beiden Bundesgenossen habe er den Zauberer und den Greif besiegen können. „Glück ist mir aus ihrem Wirken entsprossen,“ schloß Immo seine Rede.

[107] Dann winkte Springmännlein dem Prinzen, der seinem kleinen Freunde folgte, bis dieser draußen im Schatten der Bäume halt machte. Immo dankte dem guten Springmännlein nochmals von Herzen für seine treue Hilfe. Doch der kleine Mann winkte abwehrend und ließ sich also vernehmen:

„Was Springmann half, das tat er gern,
Er wollte nützen seinem Herrn,
Weil er erkannt sein treu’ Gemüt,
Aus dem ihm noch viel Glück erblüht.
Jetzt ist’s für Springmann Zeit zu geh’n
Doch muß ihn Immo recht versteh’n:
Sobald er ruft, wird Springmann wach
Und dienet ferner seiner Sach’. –
Eh’ Springmann schlüpft ins Wurzelkleid,
Empfange Immo noch Bescheid:
Bevor man scheidet aus dem Schloß
Mit Mann und Roß und Dienertroß,
Mach’ jeder vor dem Abschied halt
Am Zauberbaume alsobald,
Und Immo mög’ zum Angedenken
Ein Zauberglöcklein jedem schenken.
Und jedes mahne beim Erklingen
Zur Wachsamkeit in allen Dingen.
Doch meinem lieben Immo wert
Gehöre auch das Zauberschwert.“

Nach diesen Worten dankte Immo nochmals seinem kleinen Freunde, doch er erhielt keine Antwort, und als er sich niederbeugte, lag vor ihm die unscheinbare Springwurzel. Er hob sie sorgsam empor, indem er sie fast zärtlich betrachtete, dann barg er den wertvollen Schatz mit größter Vorsicht in seinem Gewande.

Inzwischen hatten die Knappen und Pagen aus den reichen Vorräten in Küche und Keller ein Mahl bereitet, das sie [108] eben, als Immo den Saal betrat, auf goldenen Schüsseln und in silbernen Kannen auftrugen. Ein jeder durfte ungestraft davon genießen, denn mit der Vernichtung des Zauberers und des Greifen hatte jeder verderbliche Zauber seine Macht verloren; das wußten die Beteiligten sehr wohl. Dennoch wollten alle, sobald es völlig Tag geworden war, den Ort ihrer Leiden verlassen, um zu den Ihrigen heimzukehren.

Es wurde beschlossen, daß die beiden Brüder mit einer kleinen Anzahl der Geretteten den Königstöchtern das Ehrengeleit in deren Heimat geben sollten.

All waren froh und glücklich; sie hofften nun auf ein Wiedersehen mit den Ihrigen.

Jubel herrschte im Lande der Königstöchter, als die Prinzessinnen mit ihrem Retter und ihrem Ehrengefolge in das elterliche Schloß einzogen, wo diesem Freudentag bald die glänzende Hochzeit folgte; denn der König gab freudig seine Zustimmung, als Balduin die schöne Edelgarde, Immo aber die liebliche Irmtraut zur Gemahlin begehrte.

Als aber die Brüder mit ihren Gemahlinnen wieder zu ihrem Vater heimkehrten, da jubelte das ganze Land, und der alte König hieß hochbeglückt seine Kinder willkommen.

Als er alles erfahren und eingesehen hatte, daß auch Balduin durch die Erlebnisse geläutert worden, veranstaltete er ein großes Fest, bei dem er dem Volk verkünden ließ, daß er sein Land einst zwischen seinen beiden Söhnen teilen werde.

Es folgten nun viele glückliche Jahre, und als später Balduin und Immo das Land erhielten, lebten sie alle in Glück und Frieden, geliebt und geehrt von ihren Untertanen.

Balduin brauchte den Goldfasan nur zur guten Zwecken.

Immo hielt das Zauberschwert in Ehren, besonders aber die Springwurzel, denn Springmännlein hielt Wort und erschien, so oft Immo seines Rates bedurfte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Spingmännlein