Skizzen aus dem Hamburger Volksleben
Auf dem hohen Uferrande der Norder-Elbe, im Westen Hamburgs, hat man an einigen Punkten überraschend schöne Ausblicke auf Strom und Landschaft. Früh am Morgen, wenn das Wasser dampft und nur langsam der Luftbewegung oder dem Einfluß der Sonnenstrahlen weicht, am sonnig hellen Mittage und Abends, immer ist der Anblick des großen bewegten Strombildes gleich ergreifend und fesselnd. Nie aber macht es einen gewaltigeren Eindruck auf den Beschauer, als bei fliegendem Gewölk, wenn glühend heiße Sonnenblitze es zerreißen, und die smaragdenen Inseln im vielgetheilten Strome bald mit weißlich blendenden, bald mit dunkel goldgelben Lichtoasen bedecken. Will es dann ein glücklicher Zufall, daß eine frische Brise aus Westen weht, die Zeit der Hochflut den Strom weit über die grünen Inselborde aufrauschen läßt, und eine Flotte segelbedeckter Kauffahrer, vom Purpurbrand der Abendsonne umglüht, dem Hafen zuführt, so wird ein solches Schauspiel Jedem, der es mit Muße zu betrachten Gelegenheit hat, unvergeßlich bleiben.
Wir nahmen in so günstigem Augenblicke unter der Veranda des neuerbauten Hotel Wietzel Platz, um ungestört das lebensvolle Bild betrachten zu können, das sich vor uns entrollt. Da erstreckt sich zur Linken, von rothbraunem Dunst halb verhüllt, die mächtige Handelsstadt mit ihren Thürmen, deren Spitzen allein über die schwere Dunstatmosphäre emporragen. Zu unsern Füßen rollt die Elbe ihre falben Wogen in einem, hier mehrere tausend Fuß breitem Bett, das etwa zum vierten Theile von den vor Anker liegenden Seeschiffen erfüllt ist. In Zeiten großen Verkehrs kann man die Zahl derselben auf wenigstens 800 anschlagen. Der Mastenwald mit seinem buntfarbigen Flaggen- und Wimpelschmuck ist dann nicht zu übersehen. Zwischen den Reihen dieser Schiffe und im freien Strome kreuzen sich Hunderte von kleinen Fahrzeugen, diese, um Güter vom Bord an’s Land oder umgekehrt vom Land an Bord zu bringen, jene, von gewandten Ruderern geführt, um die Kommunikation zwischen dem Festland und den Inseln aufrecht zu erhalten, oder Schiffseigner, Kaufleute, Makler, Kapitaine etc. an irgend einen Punkt im lebenerfüllten Hafen zu tragen. In kürzeren oder längeren Zwischenräumen wühlen die Schaufelräder eines Dampfbootes die schimmernden Wellen stärker auf, denn nicht nur das am linken Elbufer gelegene Harburg, auch die stark bevölkerten und vielbesuchten Orte zu beiden Seiten der Niederelbe werden durch eine geregelte Dampfschiffsverbindung in den engsten Verkehr mit Hamburg gesetzt. Gewöhnlich sind diese Schiffe mit zahlreichen nicht selten mit Hunderten von Menschen erfüllt, die eine Lustfahrt nach Teufelsbrück, Nienstätten, Blankenese, Harburg, Stade oder Cuxhaven machen, und dann fehlt selten ein Musikkorps auf dem Fahrzeuge, das heitere Melodien aus beliebten Opern oder einen munteren Lanner’schen oder Strauß’schen Walzer erklingen läßt.
Plötzlich steigt über den rosig schimmernden Segelschwingen der stromaufwärts gleitenden Schiffe eine hohe schwarze Rauchsäule auf, die sich, in krauses Gewölk zerflatternd, seitwärts nach Finkenwärder zieht, und einen grauen Schatten auf die grüne Landschaft wirft. Bald darauf wird der schwarze Rumpf eines überseeischen Dampfers zwischen den Segelschiffen sichtbar, und wenige Minutcn später rauscht einer jener cyklopischen Leviathane langsam dem Lande zu, die eine Erfindung unseres Jahrhunderts sind und dem internationalen Verkehr andere, fast an’s Wunderbare streifende Bahnen angewiesen haben. Sofort mehrt sich die Zahl Derer, welche zu jeder Tagesstunde an dem eisernen Geländer der Quai-Einfassung
[29][30] vor dem Hafenthore lehnen. An der Landungsbrücke drängen sich Männer, Frauen, Kinder ohne Unterschied des Ranges. Stämmige Packträger in blaugestreiften Blousenjacken eilen nach dem Schiffe, aus dessen Sicherheitsventil jetzt in weißen Säulen mit pfeifendem Gezisch die bewegende Kraft des Dampfes fährt. Die wohlgenährten Droschkenkutscher beeilen sich ebenfalls, der Landungsbrücke möglichst nahe zu kommen, um Passagiere aufzunehmen, kurz, das bunte Durcheinander der Hülfbereiter und Neugierigen, das bei keiner Landung fehlt, bietet dem ferner stehenden Zuschauer ein erheiterndes Bild rührigster Thätigkeit und gesündesten Volkslebens.
Bald aber wird Ohr und Auge auf einen andern, noch viel anziehenderen Gegenstand hingeleitet. Mitten im geordneten Knäuel der vor Anker liegenden Schiffe, wo bisher nur ein Zusammentreffen vieler Jollen und schwer beladener Boote bemerkbar war, hört man laute, weithin vernehmbare, wenn auch nicht immer verständliche Rufe einer festen männlichen Stimme. Gleich darauf erfüllt einförmiges Johlen singender Stimmen die Luft, das zwar nicht melodisch, doch aber eigenthümlich klingt, Ketten klirren, das knackende Geräusch gezahnter Eisenräder kreischt dazwischen. Ein Boot, von zwei oder drei Ruderern getrieben, schießt zwischen den Ducs d’alben[1] in den freien Strom heraus, und schleppt hinter sich ein Tau. Wir sehen die Jolle nur einige Augenblicke, dann verschwindet sie wieder, wird nochmals sichtbar, und bald darauf zittert das Tau in der Luft und schlingt sich um einen der Hafenpfähle, von kräftigen Matrosen geschickt und unter talkartigem „Hoi-ho!“ gehandhabt. In dem Schiffsgewirr macht sich eine Bewegung bemerkbar. Die Masten eines Vollschiffes gleiten langsam an den sie umgebenden Raaen anderer Schiffe vorüber, und der Ruf einiger Zuschauer am Quai: „Nun legt es aus!“ sagt uns, daß ein zur Abfahrt bereites Fahrzeug so eben Anstalt trifft, den Hafen zu verlassen.
Es ist ein Packetschiff, das einige Hundert Auswanderer an Bord hat – und mit eintretender Ebbe stromabwärts segeln will. Kopf an Kopf gedrängt, stehen die Heimathmüden auf dem Deck des Fahrzeuges, mit erstaunten Mienen bald das Gewühl im Hafen, bald die arbeitenden Matrosen betrachtend, die des Kapitains Kommandoruf auf die Raaen beordert hat, um hier die Segel zu entfalten und den einige Striche südlich gelaufenen Wind zu benutzen. Unwillkürlich duckt sich mancher Aengstliche, wenn er die gelenken Menschen mit katzenartiger Geschwindigkeit die Wanten[2] hinanlaufen, sich in das Takelwerk schwingen und hier, oft nur mit einem Fuße auf scheinbar dünnem Seile sich haltend, die schwersten Arbeiten rasch und sicher vollbringen sieht. Andere winken mit Hüten und Tüchern Verwandten oder Bekannten am Strande zu, wo zwischen den Zuschauern auf Kisten und Kasten, mit blanken Blechgeschirren behangen, ein Trupp anderer Auswanderer sitzt, und regungslos auf den bewegten Strom und das langsam fortziehende Schiff hinausblickt. Noch Anderen, die mit schwerem Herzen vom alten Vaterlande scheiden, zittert eine Thräne im kummerschweren Auge. Das alte Elend liegt vielleicht hinter ihnen, aber die Sorge, die mit ihnen grau geworden, haben sie nicht zurücklassen können. Ein Häuflein Kinder, noch unzurechnungsfähig und darum leicht befriedigt, hockt auf den zum Strome hinabführenden Treppen, sie halten sich fest umschlungen, und geben ihre Verwunderung über die neue Welt, die ihnen entgegentritt, durch laute Ausrufe zu erkennen. Aber Niemand achtet auf diese rührende Kindergruppe. Man hat keine Zeit, die Flut läuft ab, die Sonne sinkt, weit unter Altona, wo der Strom sich fast zur Bucht ausweitet, thürmen sich Wolken auf und verheißen zur Nacht windiges Wetter. „An Bord, an Bord!“ mahnt dringend die harte Stimme des Bootführers, die Kinder werden seitwärts gedrängt, die Mutter drückt sie seufzend an sich, und bald ist die Familie zwischen ihren aufgeschichteten Habseligkeiten neben andern Schicksalsgenossen im schaukelnden Boote untergebracht.
Inzwischen hat das seewärtssegelnde Auswandererschiff die zu Berg kommende Flotte erreicht. Ihre Segel bedecken fast die ganze Breite des Stromes, dessen Wogen jetzt wie geschmolzenes Erz im Abendsonnenlicht funkeln. Und so weit das Auge reicht, es gewahrt immer mehr Segel, diese wie dunkle Flecken in der Luft sich abzeichnend, jene blendend weiß, andere wieder purpurfarbig, je nachdem ein greller Sonnenstrahl oder der Schatten einer vorüberziehenden Wolke sie streift. Ueber dem Borde des in See gehenden Schiffes wirbelt weißlicher Rauch auf, der Schuß einer Schiffskanone hallt dumpf wieder an dem geräuschvollen Ufergelände, ihm folgt ein zweiter und dritter, die aufkommenden Schiffe flaggen, und einem zerrinnenden Schatten gleich zerfließt das Fahrzeug in den sonnig feuchten Nebeln, die der Abend über den schwelgenden Strom breitet.
Diese rasch wechselnden Bilder entrollt der Hafen Hamburgs vor unsern Blicken fast jeden Tag, wenn wir Zeit haben, einige Stunden seiner Beschauung zu widmen. Der Abend läßt diese Welt bunt wechselnder Bilder nicht untergehen, er ändert sie nur. Das Lichtbild verwandelt sich in den schattigen Abdruck einer Laterna magiea, wird aber vielleicht, gerade weil die Alles beleuchtende Sonne jetzt mangelt, nur um so interessanter und anziehender sich gestalten.
Von der Insel Steinwärder, wo die schwarzen Rauchkegel hoch ragender Schornsteine und die schmutzig-rothe Dampfschicht, welche über einem flammenden Schlackenfelde sich bald hebt, bald senkt, die große Thätigkeit viel beschäftigter Fabrikanlagen uns verräth, kehren Schaaren von Arbeitern um diese Zeit zur Stadt zurück. Feiert in jenen Werkstätten des Materialismus auch nicht die Arbeit, so treten für die Nacht doch Andere ein. Moderne Fabriken, die mit Dampf arbeiten, geben dem Menschen keine Ruhe, weder Tag noch Nacht. Wie der Bergmann im lichtlosen Schacht den Unterschied von Tag und Nacht aufhob, weil es ihm gleich war, ob er bei Sternenschein vor Ort das Fäustel schwingt, oder im Licht der allbeleuchtenden Sonne, so thut es in unserer erwerbsüchtigen, zeitgeizigen Gegenwart auch der Fabrikherr, weil er sonst nicht Schritt halten kann mit dem Raffinement der aus kluger Zeitbenutzung geldmachenden Konkurrenz.
Gleichzeitig verstummt das Gelärm auf den Werften, die schrillende Säge, welche Holz zu Schiffsplanken schneidet, schweigt, die letzten Dampfschiffe legen an. Alles bereitet sich vor, das Tagewerk zu beendigen und auszuruhen von den Lasten, unter denen man geseufzt. Von den aufsegelnden Schiffen erreicht eins nach dem andern den schützenden Hafen, und bald verläßt ein Theil der Equipage die schwimmenden Gebäude, um vielleicht nach Monate langer, gefahrvoller Reise endlich wieder den schwankenden Fuß auf die ernährende Mutter Erde zu setzen.
Nun taucht die Sonne, noch einmal einen langen heißen Abschiedskuß der Welt zuwerfend, hinter dem rollenden Wasserspiegel unter, hüben und drüben, bald fern bald nah, bald trüb’ bald hell, blitzt ein Licht, ein Flämmchen, ein Gasfunken auf, und ein neues Leben, das Leben der Nacht, das in großen Seestädten sich ganz eigenthümlich gestaltet, beginnt innerhalb und außerhalb der Thore. Ehe wir aber diese nächtliche Seite Hamburgs näher in’s Auge fassen, wenden wir uns einer Klasse Menschen zu, die man im Binnenlande auch nur dem Namen nach kennt, die aber ohne Frage unter allen modernen Menschen wenigstens Europa’s noch immer die meiste Ursprünglichkeit sich bewahrt hat, wenn schon zugegeben werden muß, daß diese Ursprünglichkeit sich auf Kosten menschlicher und sittlicher Bildung nur zu oft mehr als billig in die Brust zu werfen pflegt, wir meinen die Matrosen, diese wilden Sprößlinge der Natur, die ungezogenen Kinder einer harten Wirklichkeit, die unerschrockenen, kaltblütigen Jünger Neptun’s und Aeolus’, die trotz ihrer sturmvollen Weltfahrten doch bis auf den heutigen Tag die Kultur noch nicht dergestalt beleckte, daß sie ihr innerstes Wesen umzugestalten vermochte.
Im Jahre 1855 besuchten den Hamburger Hafen 4593 Seeschiffe mit einer Bemannung von im Ganzen 40,102 Köpfen. Da nun in der lebhaftesten Verkehrszeit durchschnittlich die Zahl der vor Anker liegenden Schiffe auf 500 bis 600 veranschlagt werden darf, so läßt sich immer annehmen, daß fast ununterbrochen zwischen 3000 bis 4000 Seeleute sich in Hamburg aufhalten. Diese ansehnliche Menge fremder, größtentheils sehr junger oder doch in dem kräftigsten Lebensalter stehender Menschen gibt dieser Stadt einen physiognomischen Ausdruck, von welchem der Binnenländer sich schwer eine Vorstellung machen kann. Weil aber ohne diese wichtige Menschenrasse aller Seehandel, alle Schifffahrt undenkbar [31] wäre, die Matrosen mithin ein unentbehrliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft sind und an dem Bestehen, Blühen und Wachsen bedeutender Seestädte mittelbar einen unberechenbar großen Antheil haben, will ich versuchen, ihr Thun und Treiben in der Zeit zu schildern, wo sie ausruhen von den Strapatzen langer Seereisen und wo sie sich am Lande zu neuen Mühen, zu neuen Kämpfen mit den empörten Elementen stärken.
Der Matrose germanischen Stammes, von welchem hier vorzugsweise die Rede ist, stellt ein ganz eigen geartetes Doppelwesen dar. Er ist ein Anderer am Bord seines Schiffes, ein Anderer am Lande. Dort hat er keinen eigenen Willen, er ist Unterthan der absoluten Herrschergewalt des Kapitains, welchem die Führung des Fahrzeuges anvertraut wurde. Mechanisch, schnell, mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Gewandtheit vollzieht er den Befehl des Kapitains. Er denkt nicht nach über das, was ihm geheißen wird und thut er es wirklich, so kleidet er seine Gedanken wenigstens nicht in Worte; denn blind muß der Gehorsam sein, soll ein Schiff glücklich die Weltmeere befahren, und Ordnung und Sitte aufrecht erhalten werden. In der ganzen Welt herrscht daher kein größerer Absolutismus, als auf einem in Fahrt gesetzten Schiffe, nirgend werden republikanische Tendenzen und die Weisheit der Vielregierungskunst lauter verlacht, als auf solch’ einem schwimmenden Holzbau. Leider artet der Absolutismus dieses Schiffsregimentes oft in Despotismus aus, was weder geschehen sollte, noch, wenn bekannt, gebilligt wird, immer aber dürfte der allerschlimmste Despotismus noch mehr zu empfehlen oder wenigstens mehr zu loben sein, als nachgiebiges, lässiges Regiment. Ein Kapitain, der auf seinem Fahrzeuge nicht unumschränkter Gebieter, nicht Selbstherrscher im weitesten Sinne des Wortes ist, also nur sich und seinem Gewissen Rechenschaft abzulegen hat über sein Thun, der würde eine höchst traurige, in den meisten Fällen sogar eine verächtliche Rolle spielen. Darum gehören Talente, gründliche Kenntnisse, ungewöhnliche Willenskraft, unerschrockenes Wesen und Geistesgegenwart, endlich größte Selbstbeherrschung verbunden mit angeborener oder anerzogener Humanität zu den vorzüglichsten und im Grunde unerläßlichen Eigenschaften eines guten, zuverlässigen, seiner wichtigen Stellung vollkommen genügenden Kapitains. Der Matrose weiß dies, und sollte er anfangs Zweifel hegen, so werden ihm diese schon während der ersten Seereise benommen. Das Leben auf See lehrt ihm, daß es nicht anders sein kann und darf, und diese Ueberzeugung allein läßt ihn oft sogar die härteste Behandlung schweigend ertragen. Er weiß, daß jede Widersetzlichkeit unnachsichtig geahndet wird. Darum gehorcht er blindlings und harrt, selbst unter den größten Entbehrungen, unter rauher Behandlung geduldig aus.
Schon diese Andeutungen werden genügen, unsern Lesern zu sagen, daß die Stellung eines Matrosen keineswegs eine beneidenswerthe genannt werden kann. Mancher glaubt, ein Matrose führe das freieste, interessanteste und lustigste Leben von der Welt, mache die lehrreichsten Reisen, ohne einen Kreuzer dafür ausgeben zu dürfen, und kehre alsbald mit Schätzen beladen zurück, um am heimischen Strande auszuruhen und in behaglichen Erinnerungen an das Vergangene sein Leben zu genießen. Die Wirklichkeit mischt diesem sonnig schönen Phantasiegemälde sehr viele harte Schlagschatten bei, eins nur bleibt auch dem entstelltesten solcher Bilder unverkürzt: die vielen Erfahrungen, das nie ermattende Interesse, eine Menge wunderbarer, angenehmer und unangenehmer, heiterer und grauenvoller Abenteuer.
Dies Abhängigkeitsverhältniß, das wohl zuweilen in eine drückende Sklaverei ausarten mag – wenigstens wollen dies Manche behaupten – hört auf, sobald das Schiff seinen Bestimmungsort erreicht hat und der Anker in den Grund rollt. Daher das laute Jauchzen aller Matrosen beim Erblicken des Hafens, der Jedem eine Heimath zu sein dünkt, daher das Grüßen und Jubeln, wenn das schwer beladene Fahrzeug in den Hafen legt und ungezählte Genüsse dem nach Leben und Freiheit, nach willkürlicher Bewegung und ausgelassenem Thun lüsternen Matrosen vom nahen Strande entgegenwinken. Er hat sich Wochen, Monden, vielleicht Jahr und Tag beherrschen, alle Leidenschaften in sich ertödten, jeder freien Willensregung sich begeben müssen, und es drängt ihn jetzt mit der ganzen Ursprünglichkeit eines an Geist und Körper gesunden Menschen, den so lange gefesselten Leidenschaften und Gelüsten den Zügel schießen zu lassen. Sehnsuchtsvoll aber schweigend harrt er des Augenblicks, wo der Kapitain das Zauberwort ausspricht, das ihn frei und unabhängig macht. Das Fallreep verschmäht er, um die Jolle zu erreichen, an einem Tauende läßt er sich herab vom Klüverbaum, um schon im Niederschweben ein paar Luftsprünge zu machen vor Lust und Freude. Dann legt er die Riemen ein, holt weit aus und treibt den schaukelnden Nachen mit langen Ruderschlägen dem Lande zu.
Da steht er nun, ein freier zwar, aber auch ein etwas herabgekommener Mann. Seine Kleidung empfiehlt ihn nicht. Sie sieht schäbig aus und trägt die Spuren vieler böser Tage. Die Zahl der Theerflecke auf den prall anliegenden Beinkleidern von ehedem weiß gewesenem englischen Leder ist nicht zu berechnen, die Mütze zeigt verschiedene Löcher auf, das grobe Hemd verdient nicht mehr die Wohlthat einer Wäsche. Auch mit dem Schuhwerk sieht es mißlich aus; denn von Sidney in Australien ist bis Hamburg, besonders wenn man unterwegs noch Shangai einen Besuch abstattet und auf der Rückreise ein paar fliegende Stürme zu überstehen hat, ein weiter Weg. Sturzseen über Deck sind böse Gäste, und wenn der Matrose Tag und Nacht derartigen Salzwasserbädern ausgesetzt war, muß zuletzt auch der sauberste Junge ein übles Aussehen bekommen.
Diesem Uebelstande weiß indeß ein Matrose echten Schlages sehr bald abzuhelfen. Kaum hat er den Fuß an’s Land gesetzt, so wird mit einigen Kameraden zuerst ein Schlafbaas aufgesucht, entweder ein Bekannter oder, ist der Matrose noch fremd, ein ihm empfohlener Mann. Der Schlafbaas ist aller Matrosen, die sich ihm anvertrauen, sorgender Vater und Vorsehung. Auf ihn verläßt sich der Sohn der Meere, ihm schenkt er unbedingtes Vertrauen. Heikel und schwer zu behandeln ist der Glückliche überhaupt nicht, den der Kiel des Schiffes mit heiler Haut in den Hafen bringt. Er trägt also, falls der umsichtige Baas dies nicht ohne Worte schon errathen sollte, diesem seine Wünsche vor, nennt ihm seine Bedürfnisse und drängt nebenbei zu größter Eile. Denn Zeit mag er nicht verlieren, um nur ja recht lustig und möglichst rasch leben zu können. Dazu bedarf er aber vor Allem schmucker Kleider, und diese dem gutherzigen Jungen zu verschaffen, der in kaum einem Jahre zwei Mal die Linie passirt ist, trifft der Baas sofort schleunige Anstalt.
[38] In unmittelbarer Nähe des Hafens, mit der Aussicht auf das wimmelnde Schiffsgewühl gibt es Läden, wo auch der verwöhnteste Matrose Alles bekommen kann, was sein Herz begehrt. Dahin führt jetzt der Schlafbaas seinen Pflegling, und während dieser aus den ihm vorgelegten Herrlichkeiten auswählt, was seiner Figur angemessen ist, was ihm am besten zu Gesicht steht und was er selbst am liebsten leiden mag, unterhält der Baas den Händler, bedingt mit ihm den Preis, und das Geschäft wird eben geschlossen, ohne daß der neu zu equipirende Matrose ein Wort darüber verliert. Wenige Käufe gehen so rasch und zu so gegenseitiger Zufriedenheit beider Parteien vor sich. Wenn der Matrose kauft, ist er immer ein Gentleman. Pfui doch, wer möchte handeln, wenn man sich ein nettes Stück Zeug auf den Leib schaffen will! Ueberlaßt das den Leuten von Fach. Matrosen rechnen nicht, das sind galante, genial gesinnte und genial lebende Bursche, die buchstäblich nach dem Worte der Schrift handeln, und immer nur für den einen Tag sorgen, dessen Sonne ihre Pfade bescheint. Ganz recht. „Sorget nicht für den andern Morgen; es ist genug, daß jeglicher Tag seine eigene Plage hat!“
„Aber wer bezahlt für solchen stockfremden Matrosen?“ höre ich den Leser fragen. „Niemand,“ lautet darauf die Antwort. Die Begleitung des Baases genügt vollkommen und ist dem Händler so gut, wie der beste acceptirte Wechsel. Er weiß, auf welchem Schiffe der schmucke Junge, der sich so eben bei ihm fein herausstaffirt hat, in Heuer steht, wie der Kapitain sich nennt, welchem Rheder es zugehört und von wannen es kommt. Dies genügt, denn damit wird zugleich angedeutet, daß die Mannschaft des Schiffes nach Verlauf einiger Tage für die ganze Dauer der Reise ihre Löhnung oder, wie man in der Seemannssprache sagt, ihre „Heuer“ empfängt. Darauf hin hat jeder Matrose offenen Kredit. Er darf sich kaufen, was ihm gefällt, was sein Herz begehrt, am Tage der „Abmusterung“ fällt ja sicher das Geld.
Ein Beinkleid von gewöhnlich blauem, oft auch schwarzem Tuche, eine seidene Weste, eine kurze mit Sammet verbrämte Jacke, welcher der Schmuck blanker Knöpfe nicht fehlen darf, ein buntes Seidentuch lose um den Hals geschlungen, das wieder in Ordnung gebrachte Haar mit glänzender Ledermütze bedeckt: so tritt der neu gekleidete Matrose in die Welt, und beginnt ein Leben, das mit den Worten in dulci jubilo sich allein richtig bezeichnen läßt. Er ist jetzt ein feiner Mann in seinem Sinn, völlig Herr seiner Zeit, unabhängig, und da das Blut fröhlicher Jugend in seinen Adern pulsirt, denkt er auf Nichts, als wie er in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes am Lande jegliche Zerstreuung sich verschaffen, jedes Vergnügen bis auf die Hefen ausschlürfen mag. Um diesem Leben in Saus und Braus mit ganzer Seele sich hinzugeben, bedarf er weiter nichts, als Geld, denn er weiß, daß in See- und Handelsstädten dem freigebigen Manne alle Thüren sich erschließen, daß er mit klingender Silbermünze sich Alles, Was käuflich ist, zueignen kann.
Darum erwartet er mit Sehnsucht den Tag der „Abmusterung.“ Zwar fehlt es ihm nicht an dem Nothwendigen, denn er hat ja Kredit, und der Baas macht gern seinen Banquier, allein es genirt doch den freien Sohn der Meere, daß er nicht nach Belieben über die Kasse des Fremden verfügen darf. Er muß Maß halten, und das ist eine Eigenschaft, die unter hundert Matrosen kaum einer besitzt, wenn sie am Lande weilen. Endlich aber bricht der heiß ersehnte Tag an, die Mannschaft wird zum Schout bestellt, und in rosigster Laune, wenn es sich thun läßt, in zwei, drei, vier und mehr offenen Wagen, kommt die elegant gekleidete Equipage am Hause des Shout an.
Der Wassershout, gewöhnlich nur Shout genannt, ist eine sehr wichtige Person, die man in Städten des Binnenlandes nicht kennt. Je größer die Seestadt, je bedeutender ihre Schiffsahrt ist, desto einflußreicher wird die Stellung des Wassershout. Ihm nämlich liegt es ob, die Mannschaft jeglichen Schiffes, das einem Rheder der fraglichen Handelsstadt oder einer Gesellschaft von Rhedern gehört, einzurolliren, jedem Einzelnen ein Exemplar der Disziplinar-Ordnung bei Unterzeichnung des sogenannten Heuer-Kontraktes zu behändigen und diese der gesammten Mannschaft laut vorzulesen. Kurz er nimmt eine polizeiliche Stellung ein, die in großen Seestädten zu den einträglichsten Staatsämtern gehört. So veranschlagt man z. B. das Jahreseinkommen des Hamburger Wassershout auf 20,000, ja mehr Mark Cour. (8000 Thlr. pr. Cour.). In der Wohnung dieses Mannes empfängt auch der Seemann seine Gage nach jeder glücklich beendigten Reise, die, je nachdem sie von kurzer oder langer Dauer war, bald in einer kleineren, bald in größerer Summe besteht. Dies Auszahlen der Gage oder Heuer an die Mannschaft oder Equipage eines Schiffes, womit der bisherige Kontrakt erlischt, heißt die Abmusterung.
Folgen wir jetzt einer Anzahl Matrosen zum Hause des Shout. Es sind lauter junge, kräftige Burschen von gedrungenem Körperbau, sauber, ja elegant gekleidet. Leichter Sinn und Lebenslust funkelt aus den Augen Aller. Ihr Auftreten ist fest, etwas plump, Selbstbewußtsein mit einer nicht gar zu kleinen Beigabe von Trotz, den eine sorglose Gutmüthigkeit mildert, fehlt Keinem. Sie sind heiter, einige lustig gestimmt, und während der Steuermann ihre Ankunft im Bureau des Shout meldet, unterhalten sich die Uebrigen, die Straße wie ein Fahrzeug, das gegen den Wind lavirt, mehrmals kreuzend. Einige gehen Arm in Arm, rauchen Cigarren, und lassen kein vorüber wandelndes Dienstmädchen ungeneckt ziehen. Auf Mädchen scheinen es überhaupt Alle abgesehen zu haben, denn wo ein Lockenkopf sich am Fenster zeigt, dahin richten sich die Blicke der jungen Leute gewiß. Nur ist ihr Geschmack nicht dem Feinsten, am allerwenigsten dem Zarten zugewandt. Was diesen meerdurchpflügenden Menschen gefallen soll, muß derb, nicht zerbrechlich, mehr robust als zierlich sein. Darum auch haben jene rothbackigen Huldinnen, die dort auf den Zugängen einiger Kellerwirthschaften sitzen, Blumen im Haar und ein Lied auf den Lippen tragen, eine unwiderstehliche Anziehungskraft für die müssig Harrenden. Jetzt lassen sich ein paar verstimmte Harfen mit entsetzlich klirrenden Saiten hören, heisere Stimmen heben dazu ein lautes Lied an, das in kreischenden Schreitönen häuserweit zu vernehmen ist, und die Ohren aller Umwohner grausam peinigt. Dazu lockt das über der Kellerthür prangende Schild mit dem segelnden Schiff, an dessen Gaffel die Hamburger Flagge weht, und mit lautem Hurrah stürmt der ganze Trupp die Treppe hinab, nimmt Platz auf den braunrothen Bänken in dem deckenniedrigen Gastzimmer, und begehrt Wein und Grog in nicht geringen Quantitäten.
Nur, wer mit eigenen Augen sich von der Trinkfähigkeit solch’ junger Seeleute überzeugt hat, kann begreifen, was sie zu leisten im Stande sind. Matrosen genießen Alles rasch und mit seltenen Ausnahmen, im größten Uebermaße. Zu viel kann es diesen vom Augenblick und dessen Gunst lebenden Menschen nicht leicht werden, zu toll geht es ihnen nie zu. Nur so erklärt sich’s, daß gewöhnlich eine kurze Stunde hinreichend ist, die Köpfe der schnell lebenden, gesundheitstrotzenden Gesellen etwas zu illuminiren. Schon begleiten hämmernde Faustschläge taktartig das Saitengekreisch der Harfen, schon entschlüpft Einzelnen ein Juchschrei, schon stimmen Andere in unharmonischem Unisono die Melodie des Liedes an, das eben geklimpert wird; da unterbricht ein Wink und Ruf des Obersteuermannes das Frohleben der Glücklichen. Die Heuer ist abgezählt, die ein paar Stunden früher in großen Säcken zum Shout getragen wurde, und Jeder, vom Steuermann abwärts bis zum Kochsmaat und Kajütenwächter, kann den ihm zukommenden Antheil davon in Empfang nehmen.
Jubelnder als sie hinabstieg in den Keller, stürzt die Mannschaft jetzt die Stufen hinan, der Eine mit ein paar gewaltigen Sätzen die Breite der Straße überschreitend und ungestüm das Haus des Shout betretend, der Andere den Rundreim eines eben gesungenen Liedes vollends zu Ende trällernd, wieder Andere in verschobenen Dreiecken oder die Figur eines Kegelschnittes auf ihrem Wege beschreibend. Endlich verliert sich auch der Letzte stolpernd auf der Hausdiele des Shout, diese schließt sich, in den Kellern aber klimpern die Harfen fort und die grell schreienden Stimmen der fahrenden Virtuosinnen girren in lauter verlockenden Tönen. Es dauert nur kurze Zeit, dann öffnet sich die Thür des Shout von Neuem und mit freudeglanzenden Gesichtern gehen, springen, stolpern und rennen die Abgemusterten heraus, schwere Geldbeutel [39] tragend – den sauren, in einem ruhelosen, fortwährenden Gefahren ausgesetzten Leben erworbenen Verdienst eines ganzen Jahres! Daran jedoch denkt der Matrose in diesen Momenten höchsten Glückes nicht. Er jubelt, denn er ist ein vermögender Mann; sein Geist schwärmt, seine Phantasie füllt sich mit Bildern, wie er sie liebt, wie er sie ewig lange Monden entbehren mußte. Jetzt besitzt er, was ihm Genuß, Zerstreuung, Vergnügen, wie nur das Land sie bieten, verschaffen kann, und ohne weiter hinaus, ohne auch nur an die allernächste Zukunft zu denken, sinnt er nur darüber nach, wie er sein Leben einrichten soll, um alle die Herrlichkeiten, die ihm seine von Wein und Porter bereits erhitzte Phantasie vorzaubert, recht heiß, recht lange, recht von Grund aus durchzukosten.
Vorerst vertieft er sich wieder in die Kellerräume. Abermals wird Wein, Porter, Ale, Grog, Punsch, kurz was vorhanden ist und was der Uebermuth des plötzlich reich Gewordenen begehren mag, aufgetragen. Die hundert Mal gehörten Lieder werden auf’s Neue begehrt und gesungen, manchmal auch geschrieen, um nicht zu sagen, gebrüllt. Trommelnd begleiten zehn, zwanzig und mehr Fäuste den Takt der Melodie, die oft von einem Hussah, einem gellenden Jubelschrei, einem jauchzenden Lachtriller unterbrochen wird. Darauf folgen Toaste, dem Schiffsherrn, dem Kapitain, der nächsten Reise, den Schönen und ihren Schwestern geltend, welche die Harfe schlagen oder schlagen könnten, jeder eingeleitet mit dem Commandoruf: Eins, zwei, drei, worauf ein wändeerschütterndes „Hurrah“ lang gedehnt nachhallt.
Dies Toben währt so lange, bis die Nüchternsten unterhaltendere Erheiterungen vorschlagen. Dem Redebegabtesten bleibt der Sieg. Man bezahlt die Zeche, wenn es nicht bereits geschehen sein sollte, denn Geld ist ja in Ueberflnß vorhanden. Harte preußische Thaler und dänische Spezies rollen und klirren auf Tischen und Bänken. Einer der Lustigsten spielt Fangeball mit seiner Heuer, indem er das silbergefüllte Taschentuch, das er als Börse benutzt, emporwirft und wieder auffängt, bis der lose geschürzte Knoten sich löst, und ein wahrer Jupiterregen sich über Haupt und Schultern des ausgelassenen Jongleurs ergießt. Dies Intermezzo erhöht noch die Heiterkeit der Ueberglücklichen. Alles bückt sich, fällt wohl auch und stößt sich, um das in alle Ecken rollende Silber wieder einsammeln zu helfen, und da Jeder grundehrlich ist, so befindet sich der Lustige alsbald wieder im vollen Besitz seines Eigenthumes, das er jetzt in allen Taschen, nicht eben sehr sicher, so gut es gehen mag, unterbringt.
Inzwischen ist es vor den Kellern sehr lebhaft geworden. Es warten hier nicht nur eine Anzahl Droschken, um die Jubilirenden weiter zu befördern, wenn ihnen die Kellerräume zu eng und dunstig werden, auch Bittende, dem einst schön gewesenen Geschlecht zugehörend, haben sich eingefunden, um die Mildthätigkeit der jungen Männer in Anspruch zu nehmen. Gewiß, man hat ein Recht, der Mehrzahl junger Matrosen eine gewisse Rohheit vorzuwerfen, dies äußerlich rohe Wesen schließt aber durchaus eine ihm tief in’s Herz gewachsene Gutmüthigkeit und Nächstenliebe nicht aus. Wenige geben lieber und mit heitererm Gesicht, als der Matrose, der seinen schwer verdienten Lohn so eben eingesäckelt hat. Der Vornehme und Reiche, dem mit zitterndem Flehwort die darbende Armuth um ein Almosen bittet, verabreicht wohl, ist er gut bei Laune, dem Bittenden einen Schilling, der abgemusterte Matrose dagegen gibt ohne Widerstreben großmüthig, zu oft leider nur ohne zu fragen, ob diese Freigebigkeit auch angewandt sei und gute Früchte trage. Er gibt, weil er besitzt, und da er mit Zukunftssorgen sich nie das Herz beschwert, so gibt er Jedem, der zu rechter Zeit die Hand ausstreckt, wenn er sich, immerfort singend und johlend, in die Sammetpolster des Wagens wirft, daß die Glasscheiben oft klirren und brechen. Nun ist der Wagen voll, ein Ueberzähliger springt trotzdem noch mit geraden Beinen hinein, ein Anderer schwingt sich gelenken Fußes zum Kutscher auf den Bock, die glänzenden Ledermützen der Exaltirten wirbeln unter grüßendem Hurrahgeschrei in der Luft, und mit dem Gesange des von deutschen Matrosen noch immer hoch in Ehren gehaltenen Liedes: „Schleswig-Holstein etc.“, an das sich so viele große, erhebende und wehmüthige Erinnerungen knüpfen, donnern die fortrollenden Wagen über das holprige Pflaster.
Durch seinen Beruf an starke Aufregungen gewöhnt, hat der Matrose wenig Sinn für feine und stille Genüsse. Bei ihm muß Alles ätzend und geräuschvoll sein. Wo es recht laut, recht wild und toll zugeht, da befindet er sich am wohlsten. Auch am Lande kann er nicht leben, ohne in dem Getümmel, das ihn umtost, das Brechen aufgewühlter Meereswogen, die fürchterlichen Schauer alle Masten und Planken eines Vollschiffes erzittern machender Sturzseen zu fühlen. Die Lust an solchen Vergnügungen steigert sich bei ihm mit der wachsenden Erhitzung durch geistige Getränke, und hat er bisher an sich gehalten, jetzt, wo er über ein kleines Vermögen verfügt, vermag er den Lockungen nicht länger zu widerstehen, die in der weltbekannten Vorstadt Hamburgs, in den Tanzsälen St. Pauli’s tausend und aber tausend Seefahrern winken.
St. Pauli oder „der Hamburger Berg,“ wie man früher sagte, ist das Paradies aller Matrosen und wird es so lange bleiben, als Hamburg sich eines blühenden Seehandels zu erfreuen hat.
Es ist der Mühe werth, das Treiben in jenen Lokalen, wo der junge Seemann vorzugsweise gern verkehrt, zu betrachten, obwohl wenig Gutes davon gesagt werden kann. Ein Splitterrichter thut besser, seine Schritte niemals dahin zu richten, denn man opfert hier weder der keuschen Vesta noch den Grazien. Es ist ein Stück Urweltsleben, das sich vor unsern Blicken entfaltet, ein Leben, wie es nur zügellose Genußsucht, blind waltende Leidenschaft und die lechzende Gier nach heißester Sinnenlust zu schaffen vermag. In diesen großen Etablissements, welche die Eigenschaften von Wirths- und Kaffeehäusern, von Tavernen und Grogschenken, von Tanzsälen und Tempeln feiler Venuspriesterinnen in sich vereinigen, schwelgt sich der Matrose während seines Landaufenthaltes müde und satt. Hier lockt grelle Musik ihn zum rasenden Tanze, in dem er sich mit hochgeschürzten, heißglühenden Nymphen schwingt, bis athmendes Keuchen der Brust ihm Ruhe gebietet. Freigebig wirft er mit den eben erst eingesäckelten Silberstücken um sich, jeden Händedruck lächelnder Schönen, jede Liebkosung schmeichelnder Hände theuer bezahlend. Wein, Punsch, Grog, Nigus, Champagner fließen in Strömen. Die Lust macht ihn rasend, er wüthet förmlich im Genusse, und so lange noch eine Geige klingt, ein Triangel klirrt und der verführerische Glanz einer weißen Schulter seine Sinne kitzelt, stürzt er sich von Genuß zu Genuß. Nur physische Erschöpfung gebietet ihm, dem maßlosen Schwelgen endlich ein Ziel zu stecken.
Zweierlei ist zu bewundern bei diesen allwöchentlich mehrmals sich wiederholenden Festins, die „In die vier Löwen,“ wie auf dem Schilde zu lesen steht, oder in den „Drei Kronen“ und andern Lokalen stattfinden, ich meine die unverwüstliche Ausdauer der menschlichen Natur und die Ordnung, welche ungeachtet des wahrhaft dämonischen Durcheinanders dennoch fast immer aufrecht erhalten wird. Denn hier dominirt nicht etwa der deutsche Matrose allein, in diesen Sälen, wo man ein Chor thyrsusschwingender Bacchantinnen im Arm halbtrunkener Faune wieder aufleben zu sehen meint, hier hat der gelbliche Finne mit seiner kugelrunden Pudelmütze, der schlanke elastische Sohn Andalusiens mit dem feueräugigen Don Juansantlitze, der ewig kühle Engländer, der klotzige derbe Jüte von Lymfjord, der rasche, kecke und dabei immer galante Bonvivant aus der Provence, der phlegmatische Holländer, der tückisch blickende Mulatte und der finstere Mohr, dessen dunkles Antlitz unter dem feuerrothen Tarbusch wahrhaft satanisch glänzt, gleichen Antheil und vollkommen gleiches Recht an Allem, was es Anziehendes und Begehrenswerthes für ihn gibt. Die Hölle Dante’s würde um ein ergreifenderes Bild reicher sein, hätte der Dichter derselben nur eine Nacht solchem Matrosen- und Phrynenballe beigewohnt. Der Anblick dieser wild entfesselten Sinnenlust, die nichts weiter will, als maßlos schwelgen im Genusse, hat etwas satanisch Erhabenes. Es ist ein Bild höllischen Freudentaumels in irdischer Goldumrahmung. Man wird festgehalten und abgestoßen davon, bezaubert und angewidert, aber das Auge ist gebannt von dem Geiste, der diese Welt beseelt, die matt und röchelnd erst beim Grauen des Tages in bleiernen Schlaf versinkt.
Es kommt nicht selten vor, daß jubelnde Matrosen an der Seite ihrer Auserwählten in zwei oder drei bacchantisch durchlebten Nächten den ganzen Verdienst einer Jahresreise, d. h. zwischen 200 und 300 Thalern pr. Cour. verausgaben. Man hat aber nie gehört, daß sie ob solcher Verschwendung sich trübe Gedanken oder gar Vorwürfe machten. Ein tüchtiger Matrose bleibt stets gesucht, der Hafen liegt voll segelfertiger Schiffe, eine neue Heuer ist also bald gefunden. Und wenn dann nach wild durchlebten Tagen und Nächten, die ihn niemals gereuen, eine neue Monatsgage in seiner [40] Tasche klingt, wagt er doch noch einen letzten Gang in den verführerisch glänzenden Hörselberg auf St. Pauli, vor dessen Pforte kein getreuer Eckard abwehrend sitzt, denn Morgen, singt die lebenslustig geschürzte Lippe:
Wozu sollte er sich kasteien? Wozu enthaltsam sein? Wenn Neptun ihm grollt und die Meerfei verlangend die kühlen Arme nach ihm ausstreckt, kann er schon wenige Tage später auf dem Seemannsleichenpfühl grüner Algen oder in den phantastischen Gemächern der Korallenkönigin zum ewigen Schlummer gebettet liegen.