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Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/36

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Johannes hat Erkenntnis Gottes, denn er hat ja Erkenntnis Gottes in Christo JEsu. Zwar übertrifft ihn der Kleinste im Himmelreich, welches am ersten Pfingsten seine Thüren für die Menschen öffnete, in derselben Erkenntnis, und es ist wahr, was einer sagte, daß ein Kind, welches den Inhalt des apostolischen Glaubensbekenntnisses erfaßt hat, viele herrliche Dinge weiß, welche Johannes noch nicht wißen konnte, sondern erst im Zwielicht der Zukunft und im Morgenroth der Weißagung sah. Aber anderer Seits ist es doch gewis, daß Johannes größer war nicht bloß als alle heidnischen Weisen vor Christo, sondern auch als alle Kinder des alten Testaments. Wer unter allen, die vor ihm gewesen, stand JEsu näher, erkannte Ihn mehr, war also auch größer, als der Täufer, der nicht allein ein Prophet, sondern der Engel und Vorläufer Christi war? Seine Erkenntnis der Gnade Gottes in Christo JEsu hat sich noch nicht über JEsu Leiden und Verherrlichung und über des heiligen Geistes Macht und Werk erstrecken können, wie es jetzt bei den Gläubigen des neuen Testaments der Fall ist; aber auch schon unser Text kann uns Beweis liefern, welch eine Fülle Johannis herrliches Bekenntnis von Christo in sich hält. Höret mir noch ein wenig zu, meine Theuern, so werdet ihr mir Recht geben, wenn ich behaupte, daß Johannis Erkenntnis zu der unsrigen sich verhält wie eine herrliche Blüte zu ihrer reichen Frucht.

 Die Juden hatten sich getäuscht: Johannes war nicht Christus. Das gibt Johanni Gelegenheit von Christo zu predigen. Neidlos, leidlos, − würdevoll, demuthsvoll, − friedenvoll, freudenvoll, wie es dem Freunde des Bräutigams geziemte, spricht er gleichsam zu den Juden: „Ihr irrt euch, aber nur in der Person, nicht in der Zeit. Ich bin zwar nicht Christus, aber: Er ist mitten unter euch, − noch kennt ihr Ihn nicht, bald werdet ihr Ihn kennen, − den, der vor mir gewesen ist, des Diener ich bin, des Schuhriemen ich auflöse, obschon ich es nicht werth bin.“

 Das ist im Kurzen Johannis Erkenntnis und Bekenntnis von JEsu. Und wie viel liegt in den kurzen Sätzen dieses Bekenntnisses!

 Er ist mitten unter euch getreten! Ueberraschende Rede für die Juden, für alle Juden, für die, welche eines guten, wie für die, welche eines bösen Willens waren! Ja eine überraschende Rede für die wachenden, träumenden und schlafenden Seelen, eine erschreckende Rede für die, welche dem Heiligen in Israel und Seinem Auge nicht begegnen durften, − ein Freudenwort aber auch für die, welche auf das Reich Israel warteten! Jeden Falls war also nach des Täufers Predigt die Zeit der Verheißung zu Ende, die Zeit der Erfüllung gekommen, der alte Bund geschloßen, aller Patriarchen Trost von Adam her, aller Propheten Gesicht und Predigt, aller Psalmen Lied und Lob gekommen. Es war die Zeit des großen Advents, der schöne Frühling der Welt vorhanden. − Wie mag dieß Wort: „Er ist mitten unter euch getreten“, also schon geboren, bereit, gerüstet − wie mag es in die Herzen der jüdischen Hörer gedrungen sein!

 Aber wie mag auch die Fortsetzung des Wortes ihre wogenden Herzen, je nachdem sie beschaffen waren, von Freud in Leid, von Leid zu Freud geschaukelt haben. „Ihr kennt Ihn nicht!“ so rief Johannes. Also ist Er zwar da, aber in einer Gestalt, daß man Ihn miskennen kann, − da, aber so, daß Ihn möglicher Weise Sein eigenes Volk übersehen könnte, − da, aber vor ihren Augen verborgen, von ihnen gar nicht aufzufinden, wenn Er sich nicht selbst offenbart. Das war unerwartet. Unerwartet war es, daß Er da sein sollte, − und nun da, aber verborgen, das war doch noch unerwarteter. Nicht bloß die Juden, alle Völker erwarteten einen Heiland, und endlich gekommen, verbirgt Er sich, wie einst Saul, nachdem Er König geworden war! Ist Er nicht der Held, dem die Völker anhangen sollen, und Er verbirgt sich? − Siehe da, wie wahr ist, was die Kirche lehrt, wie stimmt Johannes so völlig mit ihr ein, da auch er, wie sie, eine Erniedrigung Christi lehrt, eine Verborgenheit, einen stillen Aufgang der Sonne, die aller Welt zum ewigen Leben leuchten sollte!

 Aber St. Johannes lehrt nicht bloß eine Erniedrigung. Er weiß die frommen Herzen unter seinen Zuhörern nicht bloß traurig, sondern auch wieder fröhlich zu machen. Denn er setzt hinzu: „Er kommt nach mir!“ − Er ist da, sagt er − und gleich darauf: „Er kommt“: wie ist das? Ist er da, so scheint er nicht erst zu kommen. Kommt er erst, so ist er noch nicht da. Ein scheinbarer Widerspruch, der sich leicht löst. Er ist da, aber ihr kennet ihn nicht; er wird kommen, d. i. er wird sich euch zeigen und

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 025. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/36&oldid=- (Version vom 14.8.2016)