Es gereicht mir zur besonderen Freude, daß ich an dieser Stelle über eine Frage der reinen theoretischen Physik sprechen darf, ja sogar über ihre erkenntnistheoretische Bedeutung. Ich erblicke darin ein Interesse für die reine Physik, das ich lebhaft begrüße und ich freue mich darüber, daß auch die technischen Kreise, die sich die Aufgabe gestellt haben, die Anwendungen der Physik zu bearbeiten, sich mit Fragen beschäftigen, bei denen vorläufig jede Anwendungsmöglichkeit ausgeschlossen ist. Während wir Physiker die Ergebnisse der Technik hoch schätzen und wohl wissen, wie sehr unsere Arbeit durch technische Leistungen erleichtert und zum Teil erst ermöglicht wird, freuen wir uns natürlich, wenn auch die Techniker zu der Überzeugung kommen, daß die physikalische Wissenschaft nur fortschreiten kann, wenn sie sich als reine Wissenschaft ohne Rücksicht auf die möglichen Anwendungen entwickelt, die sich dann immer von selbst einstellen. Die physikalische Einsicht hat aber auch stets einen besonderen Erkenntniswert, der den menschlichen Geist befriedigt und ihn in ähnlicher Weise wie die Kunst über den Alltag hinaushebt.
Die Freude heute über Relativitätstheorie zu Ihnen zu sprechen, wird nur etwas durch die Überzeugung beeinträchtigt, daß diese Lehre in wesentlichen Teilen sich der gemeinverständlichen Darlegung entzieht. Ich muß sogar behaupten, daß von Physikern selbst nur ein kleiner Teil die Relativitätstheorie so weit kennt um sich ein selbständiges Urteil über sie bilden zu können. Bei dieser Lage kann ich mir auch nichts ersprießliches
Wilhelm Wien: Die Relativitätstheorie vom Standpunkte der Physik und Erkenntnislehre. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1921, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:WienRel.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)