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Seite:Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen.pdf/326

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den Wällen fließt, floß damals unmittelbar zu ihren Füßen, der Zab schützte die Stadt im Süden: die Hügel, auf denen die Stadt erbaut war, machten eine Belagerung schwierig; und von der Nordseite her war die Stadt durch solide Wälle gegen jeden Überfall geschützt.

Einer der wildesten Nachfolger Salmanassars, Assurnasirbal (882 bis 857 v. Chr.), machte zunächst Ninive zu seinem Hauptquartier, von wo aus er mit seinen Horden die Länder Vorderasiens zum Zwecke der Plünderung überschwemmte und sich an Siegen und Blut sättigte; dann faßte er den Entschluß, einen Palast zu errichten, der alles übertraf, was seine Vorgänger nur träumten, und er bestimmte eine Stelle in der Stadt Kalah, die ganz besonders die Stadt seiner Dynastie war.

Die englischen Archäologen, die besonders die Ruinen von Kalah durchforscht haben, waren ganz erstaunt über die Reichtümer, die unter dem Grabhügel von Nimrud zu finden sind, und sie haben versucht, nach den vorhandenen Dokumenten eine Hauptansicht der Stadt zu Zeiten Assurnasirbals wieder herzustellen, der seinen Namen und seine Inschriften überall angebracht hat. „Die neue Hauptstadt“, sagt Rawlinson, „lag in einer gesunden und von der Natur befestigten Gegend auf einem kleinen Ausläufer des Dschebel-Maklub und von beiden Seiten durch einen Fluß beschützt. Palast erhob sich neben Palast auf diesem Hochplateau; jeder war prächtig verziert mit Holzwerk, goldenen Platten, Malereien, Bildhauerarbeiten und Emaillesachen; jeder wetteiferte an Glanz mit den schon von den alten Königen erbauten Palästen. Steinerne Löwen, Sphinxe, Obelisken, Heiligtümer, geheiligte Türme verschönerten das Ganze und brachten Abwechslung hervor. Die große Pyramide oder Zigurrat,[1] die mit dem Tempel des Adar verbunden war, ragte über die ganze Stadt empor und vereinigte um sich den ganzen weiten Wald von Palästen und geheiligten Gebäuden. Der Tigris, der im Westen die Mauern der Terrasse bespülte, spiegelte in seinem Wasser die Stadt ab, und indem er die Höhe der Mauern augenscheinlich verdoppelte, verbarg er ein wenig das Erdrückende, was ein Fehler in der Konstruktion war. Wenn die untergehende Sonne ihre Strahlen über die Stadt sandte, bildeten sich solch eklatante Farbenschattierungen, wie man sie nur unter dem orientalischen Himmel sehen kann, und Kalah mußte dem Reisenden, der die Stadt zum ersten Male sah, als eine feenhafte Erscheinung vorkommen.“[2]

Die Ausgräber, die jeden einzelnen Stein dieser Ruinen befragt haben, haben in ihrer Einbildung die Stadt wieder aufleben lassen. Für den Reisenden, der dort vorbeikommt, ist Kalah nur ein Schutthaufen, den die erwähnte Pyramide überragt; nur durch Zufall findet der Reisende die Spuren der alten Paläste da, wo die Ausgrabungen nicht schon wieder verschüttet sind.

  1. Diese stufenförmigen Pyramiden scheinen vor allem der Ort gewesen zu sein, wo sich die Wahrsager aufhielten, um das Horoskop zu stellen. Neben dieser vorgeblichen Beobachtung der Sterne waren die Chaldäer und Assyrer auch bekanntlich zu einer bedeutenden Kenntnis in der eigentlichen Astronomie gelangt. Diese heiligen Türme ahmten auch die Wohnungen der Götter nach, die sich auf einem Berge des Orients oder eines anderen Landes (je nach der Nationalität) befanden. Vergl. Lenormand et Babelon V, 172.
  2. Rawlinson, The five Great Monarchies, II. 99. Lenormand et Babelon, Histoire ancienne des peuples de l’Orient. Band IV.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/326&oldid=- (Version vom 1.8.2018)