nicht darüber laufen. Zu denen gehörte der Oberst. Er war froh, die traurige und demütigende Geschichte vergessen zu haben. Der Brief, der sie ihm ins Gedächtnis zurückrief, machte ihm wenig Vergnügen. Er öffnete ihn widerwillig, vorsichtig, als ob er Angst gehabt hätte, ein Skorpion könne herauskriechen – ein Skorpion mit Thränen in den Augen –, aber es sprang nichts heraus.
Alles, was der Umschlag enthielt, war der Brief einer gutmütigen, etwas albernen Frau, die dem ehemaligen Anbeter im festen Vertrauen an seine unerschütterliche Anhänglichkeit ihren Sohn ans Herz legte.
Offenbar war sie davon überzeugt, daß er sie heute noch liebe. Und bis dahin war allerdings etwas von der alten Neigung in ihm übrig geblieben – das Gefühl einer großen Kränkung, das Gefühl eines schrecklichen Verlustes. Der Brief riß auch noch das Letzte mit sich fort – er bewies dem Obersten schonungslos, daß er nichts verloren hatte!
Von einem Augenblick zum andern wurde sein Herz leer, ganz leer, aber es war an die Last, die es jahrelang mit sich herumgetragen hatte, dermaßen gewöhnt, daß ihm nun die Last fehlte. Es sehnte sich nach den Gespenstern, die es gepeingt und ihm dazwischen alte Märchen erzählt hatten. Das nüchterne Tageslicht war in das Herz gedrungen und hatte sie verscheucht!
Ossip Schubin: Vollmondzauber. Stuttgart: J. Engelhorn, 1899, Band 1, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vollmondzauber.djvu/016&oldid=- (Version vom 1.8.2018)