die literarischen Schätze des čechoslavischen Volksgeistes durch die erwähnten Arbeiten allmählich zugänglich gemacht worden sind, wird es wohl an der Zeit sein, auch ein wenig Kritik zu üben, um die Forscher, welche die so verlockend sich darbietende Gelegenheit zu Vergleichungen und Schlüssen mächtig anziehen muss, mit Hilfe einer Analyse der erschlossenen Quellen vor voreiligen Schlussfolgerungen zu schützen.
Es tut dies umsomehr not, als einerseits die einheimischen Forscher ihre Quellen selbstverständlich besser kennen und auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen vermögen, andererseits auch in der Fremde in den letzten Jahren an der Echtheit und absoluten Reinheit einheimischer Sammlungen gerüttelt wird, so dass eine scharfe und rücksichtslose Überprüfung des ganzen vorhandenen Materials mit Bezug auf seine Verwendbarkeit zum Studium der Volksseele höchst notwendig erscheint.
Das, was als Märchen einmal in der Öffentlichkeit erschienen ist und mit dem lieblichen Zauber der vorgeschichtlichen Heroen- und Mythenwelt umwoben wird, was als nationale Kunst, als unbewusstes künstlerisches Schaffen der naiven Volksseele dem Leser geboten wird, alles das scheint überhaupt keiner literarischen Kritik zu unterliegen. Die gewissenhaftesten Forscher, welche sonst mit der peinlichsten Genauigkeit historische Quellen untersuchten und den beglaubigtesten Hypothesen skeptisch gegenüberstanden, nahmen gleichzeitig blindlings alles, was ihnen als Volkstradition in Märchen- und Sagensammlungen geboten wurde, ohne jeden Zweifel als beglaubigtes Material auf und bauten auf diesem Sande die gewagtesten Hypothesen.
Das, was heutzutage als čechoslavische Märchen für die Wissenschaft verwendet wird, unterscheidet sich in der Methode des Sammelns und in der Art der Veröffentlichung gar nicht von den gleichen Schätzen der Fremde.
Da jedoch die Fremde ihr Material bereits zu sichten und zu prüfen beginnt, ist es an der Zeit, auch auf das čechoslavische Material einen Blick zu werfen. Die ersten Versuche, die Existenz der čechoslavischen Volkspoesie zu beweisen, fallen mit den Versuchen um die Erneuerung der böhmischen Literatur und Kunst am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zusammen. Dass es zuerst Fälschungen von historischen und lyrischen Volksliedern gewesen sind, mit denen man in fast völliger Unkenntnis der älteren literarischen Schätze den Beweis der hohen geistigen
Václav Tille: Das čechoslavische Märchen. Crosman & Svoboda, Prag 1907, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tille_Das_%C4%8Dechoslavische_M%C3%A4rchen.djvu/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)