Das Schicksal Schewtschenkos ist für die Ukraine typisch und symbolisch zugleich. Er gab seinem Volk ein erhabenes Beispiel von Gerechtigkeit und Entsagung und er verkörperte in mehrfacher Gestalt die humanitären Prinzipien der alten Bruderschaften. Erst mit ihm wurde die ukrainische Literatur wirklich national und dabei sozial. Er kannte die Leiden seines Volkes, denn er hatte sie an sich selbst erfahren und wenngleich er für seinen eignen Teil die Hoffnung auf Glück aufgab, so verzweifelte er doch niemals an der bessern Zukunft seiner Landsleute.
„Lernet, meine Brüder!
Denket und lernet,
lernet das Fremde kennen,
aber entfremdet euch nicht dem Eignen.“
Er verlor niemals die Zusammengehörigkeit mit dem Volke und in dieser Hinsicht steht er ethisch höher als zum Beispiel die russischen Volks- und Proletariatsdichter Kolzoff und Nekrasoff, die freilich ihr Mitgefühl für die Bauern nie verleugneten, aber durch ihre soziale Erhöhung immerhin die unmittelbare Fühlung mit der Volksseele allmählich verloren. Schewtschenko, der freigelassene Sohn der Leibeigenschaft, konnte niemals vergessen, daß er als Leibeigner geboren war und daß seine Angehörigen noch immer in sozialer und moralischer Erniedrigung schmachteten. Dadurch blieb seine Lyrik so echt volkstümlich.
„Schewtschenko als Dichter“ – so schrieb Kostomarow – „war das Volk selbst, indem er an dessen dichterische
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/88&oldid=- (Version vom 7.10.2018)