Christen ihre Liebe zu dem auserwählten Volke erklärten, so sei das nichts anderes, als wenn Buhlerinnen – ich will dies anständigere Wort gebrauchen – vornehmen Edelleuten ihr Herz schenkten. Ein zweiter schickte „verachtungsvoll dem bornirten Judenhetzer“ eine Schrift, in welcher ein ungläubiger getaufter Schriftsteller die Verdienste der Juden um die Wissenschaften im Mittelalter beschreibt und übertreibt. Ein Dritter aus Frankfurt a/M. beglückwünschte mich zu dem offenen Aussprechen des deutschen Schadens und unterschrieb sich: leider ein Jude. – Diese an sich unbedeutende Begebenheit ist ein recht deutliches Beispiel der Lüge, des Hochmuths und des Hasses, welche die Judenfrage bei jeder Besprechung derselben verwirren. Menschen, welche mit ihrer ätzenden Kritik Staat und Kirche, Personen und Sachen übergießen, sind höchst erzürnt, wenn ein Anderer sich erlaubt, auf das Judenthum auch nur einen prüfenden Blick zu werfen. Sie selbst überfallen jedes nicht jüdische Bestreben mit Haß und Hohn; sagt man über sie und ihr Treiben ein leises Wort der Wahrheit, so spielen sie die beleidigte Unschuld, die gekränkte Toleranz, die Märtyrer der Weltgeschichte. Trotzdem will ich es wagen, heute Abend über das moderne Judenthum offen und frei meine Meinung zu sagen. Auf lügenhafte Berichte bin ich von vorn herein gefasst.
In der That erscheint mir das moderne Judenthum als eine große Gefahr für das deutsche Volksleben. Damit meine ich weder die Religion der Altgläubigen, noch die Aufklärung der Reformer. Das orthodoxe Judenthum, diese Verknöcherung des Gesetzes, das Alte Testament ohne Tempel, ohne Priester, ohne Opfer, ohne Messias, hat für die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts weder Anziehungskraft noch Gefahren. Es ist eine im innersten Kern abgestorbene Religionsform, eine untere Stufe der Offenbarung, ein überlebter Geist, noch immer ehrwürdig, aber durch Christum aufgehoben und für die Gegenwart keine Wahrheit mehr. An religiöser Bedeutung ist das Reformjudenthum noch geringer. Es ist weder Judenthum noch Christenthum, sondern ein dürftiges Ueberbleibsel der Aufklärungsepoche,
Adolf Stoecker: Das moderne Judenthum in Deutschland (Erste Rede). Wiegandt und Grieben, Berlin 1880, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stoecker_Zwei_Reden.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)