Arnim wie Brentano gaben ihrer eigenen dichterischen Phantasie dasselbe produktive Recht wie dem immer neu gestaltenden Munde des Volkserzählers. Für den Einzelnen ohne Zweifel ein ebenso kühnes wie gefährliches Recht; das aber auch Wilhelm Grimm mit durchgreifendem Erfolge gegen Jacob bei den Märchen geltend machte. Kraft dieses Rechtes hielt sich Brentano nun für befugt, die Pattbergische Fassung der ersten (und weniger konsequent der neunten) Strophe
Es stehen die Sternlein am Himmel
Es scheinet der Mond so hell,
Wie reuthen die Todten so schnell
mit eigener Hand auf dem Originalmanuskript, den Angaben Althofs folgend, in die Form
Es stehn die Stern am Himmel
Es scheint der Mond so hell,
Die Todten reiten schnell
zu verwandeln; und auf Althof geht auch der absichtlich etwas schärfer zugespitzte Vermerk zurück, dass Bürger dieses Lied Nachts in einem Nebenzimmer hörte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Arnim, der im Druckmanuskript nur eine Kopie vor Augen hatte, von Clemens’ Verwandelungen gar nichts wusste. Unter denen, die über den merkwürdigen Sachverhalt schon vor dem Erscheinen des Bandes mündliche Aufschlüsse erhielten, befand sich wahrscheinlich auch der alte Voss.
Dem Vossischen Hause hatte Arnim auch bei seinem zweiten Aufenthalt in Heidelberg 1808 noch freundschaftlichen Besuch gemacht. Blieb die Verschiedenheit der poetischen Überzeugungen rücksichtsvoll bei Seite, so lag bisher zwischen Voss und Arnim nichts Persönliches vor, das ein Einvernehmen stören musste. Nur mochte dem aus seinem Stande aufgestiegenen Voss im Stillen nicht behagen, dass bei Arnim an einer bestimmten Stelle, wo der Litterat und Dichter aufhörte, der märkische Edelmann mit dem ihm innewohnenden Standesgefühl hervortrat; eines der wichtigsten, seiner Natur nach nicht ausgesprochenen Motive für Vossens späteren persönlichen Angriff auf Arnim und – auf den Grafen Stolberg. Unbefangen und freimütig hatte Arnim mit Voss wie mit Jedermann (vgl. Görres’ Briefe 8, 41) über seine und Brentanos ergänzende Liederarbeit gesprochen, ihm auch wohl die frisch einlaufenden Korrekturbogen des Wunderhorns vorgewiesen, bis sich Ende April, Voss zu neuem Verdrusse, Brentano in Heidelberg einstellte. Und so konnte Heinrich Voss als Sohn seines Vaters im Juni 1808, noch ehe der zweite Band des Wunderhorns fertig vorlag, an Goethe schreiben, Brentano habe sich
Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. Koester, Heidelberg 1896, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Frau_Auguste_Pattberg.djvu/28&oldid=- (Version vom 1.8.2018)